Vor dem Hintergrund der Postmoderne ist es auch unter Theologen üblich geworden, Fragen nach Wahrheit zurückzustellen. Weit häufiger geht es um gleichberechtigt nebeneinanderstehende Empfindungen, Eindrücke und Interpretationen. Systematisch- dogmatische Überlegungen sind momentan weitgehend aus der Mode gekommen. So wundert es kaum, dass auch in der Darstellung unterschiedlicher christlicher Gruppen das Augenmerk vermehrt auf die jeweilige Glaubenspraxis, die Spiritualität eben, und nicht mehr auf den jeweiligen Glaubensinhalt gelegt wird.
Peter Zimmerling (geb. 1958), Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, hat sich in seinen Publikationen schon in der Vergangenheit immer wieder mit Fragen gelebter Frömmigkeit beschäftigt, insbesondere mit der Charismatischen Bewegung. Im ersten Band des von ihm herausgegebenen „Handbuchs Spiritualität“ geht es um eine Darstellung evangelischer Frömmigkeitsformen in historischer Perspektive.
In 41 fünfzehn- bis zwanzigseitigen Fachbeiträgen werden exemplarisch Personen und prägende Epochen evangelischer Spiritualität vorgestellt. Bei den Autoren handelt es sich ausnahmslos um ausgewiesene Fachleute. Nach der Darstellung spätmittelalterlicher (katholischer) Frömmigkeit (38-80), werden Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin als typische Vertreter der Reformationszeit porträtiert (81-160). Zwei eher zusammenfassende Artikel beschäftigen sich dann mit der Frömmigkeit der Täufer und der anglikanischen Kirche des 16.Jahrhudnerts (161-185). Mehrere Aufsätze sind der Spiritualität in Zeiten der lutherischen Orthodoxie gewidmet. Besonders werden in diesem Zusammenhang Johann Arndt, Jakob Böhme, Johann Gerhard und Paul Gerhard besprochen (186-298). Verhältnismäßig ausführlich kommen die verschiedenen Ausprägungen pietistischer Spiritualität des 17. und 18. Jahrhunderts zur Sprache. Jeweils einzelne Artikel sind Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke, Johann Martin Schamelius, Albrecht Bengel, Gerhard Tersteegen und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf gewidmet (299-460). Nach einem Exkurs über methodistische Glaubenspraxis (461-484) wird die Epoche der Aufklärung besprochen (485-497). Insbesondere geht das Handbuch dann auf Johann Joachim Spalding, Georg Hamann und Friedrich Daniel Schleiermacher ein, als Theologen, die in ihrer Zeit nach einer Verbindung zwischen Aufklärung und gelebter Frömmigkeit suchten (498-548). Der nächste größere Abschnitt präsentiert die Spiritualität der Erweckungsbewegung. In Übersichtsartikeln und Kurzporträts zu Anna Schlatter-Bernet, Friederich August Gottreu Tholuck und Johann Hinrich Wichern kommen verschiedene Ausprägungen erwecklicher Frömmigkeit zur Sprache (549-651). Insbesondere werden in diesem Zusammenhang auch die Freien evangelischen Gemeinden, der Baptismus und die Gemeinschaftsbewegung besprochen (652-694). Ohne systematische Einordnung und tiefere Begründung werden Adolf von Harnack, Albert Schweitzer und die evangelische Michaelsbruderschaft als Vertreter evangelischer Spiritualität zu Beginn des 20.Jahrhunderts vorgestellt (695-732). Ein vorletzter Block bespricht Fraktionen der evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, unter besonderer Berücksichtigung Bonhoeffers (733-782). Abgeschlossen wird das „Handbuch Spiritualität“ mit zwei recht summarischen Aufsätzen zu Aspekten evangelischer Frömmigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zur pfingstlich- charismatischen Spiritualität (783-825). Ganz am Ende findet sich ein angemessen ausführliches Personenregister (826-828). Sach- oder Ortregister gibt es keine.
Relativ schnell wurden auch die weiteren Bände des „Handbuchs Spiritualität“ von Zimmerling herausgegeben, mit dem bei Vandenhoeck & Ruprecht zu erwartenden Preis (Band 2: Theologie, 2017, 729 Seiten, 49 EUR / Band 3: Praxis 2020, 926 Seiten, 60 EUR).
Natürlich kann man über die Auswahl der dargestellten Personen und Frömmigkeitstypen endlos debattieren, weil sie immer ein deutlich subjektives Element enthalten. Die hier vorgenommene Auswahl und Darstellung evangelischer Spiritualität verraten, wie kaum anders zu erwarten, auch die persönlichen Präferenzen Peter Zimmerlings; landeskirchlich und charismatisch.
Peter Zimmerling. Handbuch Evangelische Spiritualität. Band 1: Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017 882 S., gebunden: 39,99 € ISBN: 978-3-525-56719-7.
Die von Zimmerling in seinem Sammelband beabsichtigte Darlegung evangelischer Spiritualität setzt immer schon einige eigentlich erst zu belegende Axiome voraus. Grundsätzlich müsste beispielsweise die Frage geklärt werden, inwieweit es überhaupt eine spezielle evangelische Spiritualität gibt und wo in der gelebten Frömmigkeit Schnittmengen mit anderen Konfessionen bestehen, was in dem vorliegenden Buch nur unzureichend aufgegriffen wird. Wenn sich der Herausgeber auf evangelische Spiritualität beschränken will, bleibt unklar, warum dann auch Reformierte, Täufer und Anglikaner porträtiert werden, die zwar Protestanten aber eben keine Evangelischen sind, sondern von diesen jahrhundertelang diffamiert wurden. Überraschend ist auch, warum Zimmerling sich bis auf einige wenige Ausflüge fast ausschließlich auf Frömmigkeitsformen aus dem deutschsprachigen Europa konzentriert. Die Vielfältigkeit evangelischer Spiritualität außerhalb Europas kommt in diesem Band fast nicht zur Sprache, obwohl gerade sie einen prägenden Einfluss auf die in Deutschland anzutreffenden Frömmigkeitsformen hat, insbesondere während der vergangenen 100 Jahre.
Nicht ganz unproblematisch ist der Versuch, Spiritualität vor allem an Beispielen akademisch tätiger Theologen zu illustrieren. Im „Handbuch Spiritualität“ kommt die Laienfrömmigkeit deshalb entschieden zu kurz. Natürlich lässt sich dieser Aspekt gelebten Glaubens aufgrund einer oft bescheidenen Quellenlage auch nur schwierig erforschen. Andererseits entsteht im „Handbuch Spiritualität“ sonst aber fast der irreführende Eindruck, Frömmigkeitsformen würden vor allem von akademischen Theologen geprägt und formuliert. Hier bräuchte es wohl unbedingt noch eine intensivere Erforschung der Geschichte evangelischer Laien. Natürlich kann man in diesem Zusammenhang auch durchaus berechtigt infrage stellen, inwieweit akademische Theologen mit den Werkzeugen ihres analytischen Arbeitens in der Lage sind, gelebte Spiritualität adäquat wiederzugeben, ohne dass das Besondere des gelebten Glaubens dabei verformt wird.
Zuweilen wirkt das „Handbuch Spiritualität“ etwas zerrissen, weil dessen einheitliche Gesamtkonzeption durch die doch recht unterschiedliche Umsetzung der Einzelautoren wieder relativiert wird. Gelebte Spiritualität wird in dem hier besprochenen Handbuch sehr unterschiedlich dargestellt. Manche Beiträge lesen sich einfach als kirchengeschichtliche Zusammenfassungen, in denen gelebte Frömmigkeit nur am Rande berührt wird (z.B. 498-510; 627-651). Andere Autoren haben sich bemüht, die Spiritualität der von ihnen vorgestellten Person oder Epoche deutlich zu beschreiben (z.B. 81-97; 400-418). Dabei kommen zuweilen auch neue, in klassischen Kurzporträts oft ausgesparte Aspekte der betreffenden Theologen zur Sprache. Hier findet der kirchengeschichtlich interessierte Leser durchaus noch einige neue Informationen.
Nur wenigen Autoren dieses Handbuchs gelingt es, die vorgestellte Spiritualität auch für den gegenwärtig lebenden Leser plausibel und anschaulich zu machen. Oft bleibt das beschriebene Verhalten fern, zuweilen auch unverständlich. Dabei wären gerade bei der Fokussierung auf Spiritualität Parallelen in die Gegenwart durchaus hilfreich.
Insgesamt lässt sich das Buch für historisch interessierte Christen gut lesen, zumal die meisten Autoren auf eine erschwerende Fachsprache, zahlreiche Fußnoten und endlose Literaturverzeichnisse weitgehend verzichtet haben. Die dargestellten Epochen und Personen sind historisch und theologisch zuverlässig recherchiert und beschrieben. Passende Originalzitate geben immer wieder die Möglichkeit, sich in das Denken und Empfinden der entsprechenden Zeit zumindest teilweise einzufühlen.
Hier geht es zur Buchbesprechung des 3. Bandes: Praxis