Seit einigen Jahren gehört es zur Mode all derer, die sich für fortschrittlich oder aufgeklärt halten, über den christlichen Glauben zu spotten. Gerne werden dabei Mythen über die vorgebliche Rückständigkeit der Christen verbreitet. Angeblich hätte sich die Wissenschaft in einem heldenhaften Kampf gegen die reaktionären Kirchen durchgesetzt. Erst dem atheistischen Staat sei es zu verdanken, dass Menschen frei und vorurteilslos miteinander leben könnten. Der christliche Glaube sei eben ein Feind von Freiheit und Moderne, wird dann gerne behauptet.
Eine neue Studie des anerkannten amerikanischen Philosophen und Politologen Larry Siedentop zeigt, dass genau das Gegenteil wahr ist. Der Professor der Universität Oxford belegt in seinem kürzlich erschienenen Buch „Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt“, dass das individualistische und tolerante Leben der Gegenwart ohne den christlichen Glauben gar nicht möglich gewesen wäre.
Der 1936 in Chicago/USA geborene Larry Siedentop, war Inhaber des ersten Lehrstuhls für Geistesgeschichte in Großbritannien an der Universität von Sussex. Von dort wechselte er an die Universität Oxford, wo er politische Philosophie und Ideengeschichte lehrte. Außerdem schreibt er regelmäßig für englische Tageszeitungen, z.B. für die Financial Times.
Siedentop distanziert sich deutlich von der verbreiteten antiklerikalen Annahme, dass der Liberalismus erst durch die Trennung von Religion und Kirche entstanden sei. Er geht sogar noch weiter: „Selbst den Säkularismus haben wir nach seiner Auffassung dem Christentum zu verdanken, denn nicht antireligiöse Motive, sondern die christlichen Moralvorstellungen selbst seien es gewesen, die die Bürger am Ende veranlassten, sich gegen die autoritäre Kirche zu wenden.“ (Hannah Bethke, FAZ, 10.10.2015)
Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2015. 495 Seiten. Hardcover 29,95 €. ISBN: 978-3-608-94886-8.
In der Antike war niemand auf die Idee gekommen, alle Menschen könnten gleich sein oder gar die gleichen Rechte haben, so Siedentop. Die Gesellschaft war konsequent aufgeteilt in Sklaven und Freie, Römer und Nichtrömer, Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene usw. Für jeden galten andere Rechte und Freiheiten. „Im Mittelpunkt des antiken Denkens steht die Annahme von einer natürlichen Ungleichheit. Ob in der häuslichen Sphäre, im öffentlichen Leben oder in der Kosmologie – den Griechen und Römern schien die Idee der Chancengleichheit völlig fremd zu sein.“ (vgl. 177-189)
Die vielgelobte und oft als Vorbild zitierte Demokratie von Athen hat mit deren heutigem Verständnis nur wenig zu tun. Von den damals im Stadtstaat Athen lebenden 300 000 Einwohnern durften sich gerade einmal 40 000 an Wahlen beteiligen (rund 13% der Bevölkerung). Nicht wählen durften beispielsweise Frauen, Sklaven und Metöken – Bürger ohne Bürgerstatus. Reden in der Volksversammlung war nur den Adligen erlaubt (vgl. 19f.; 26f.; 31f.).
Erst durch den christlichen Glauben und die Praxis der frühen Gemeinde wurde mit dem Gedanken echter Gleichheit und Freiheit ernst gemacht. In der Kirche und vor Gott waren alle gleich, sowohl Mitglieder des Kaiserhauses als auch Sklaven. Diese konnten sogar höchste Ämter in der Gemeinde einnehmen. (vgl. 86f.; 112f.)
Den Vordenkern der Moderne Hobbes, Locke oder Rousseau sei der religiöse Hintergrund von Werten wie Gleichheit und Solidarität durchaus bewusst gewesen, so Siedentop. Zumeist hätten sie sich auch nicht gegen den christlichen Glauben gewandt, sondern ihn in ihren Theorien sogar als wesentlichen Baustein erwähnt. Mit den Machtspielen kirchlicher Würdenträger setzen sie sich demgegenüber natürlich kritisch auseinander. Menschenrechte und Naturwissenschaften wurden maßgeblich durch die Kirche gefördert, auch wenn gelegentlich einzelne unliebsame Äußerungen verfolgt wurden, wie das auch in der modernen Gesellschaft geschehen kann. „Christliche Moralvorstellungen erweisen sich als der eigentliche Ursprung der sozialen Revolution, die den Westen zu dem gemacht hat, was er ist.“ (vgl. 362f.; 413)
Siedentop führt eindrücklich vor Augen, dass das Ideal der Gleichheit und Nächstenliebe eine Gemeinschaft über lange Zeit hinweg prägen und Werte schaffen kann, die nicht der Ökonomie unterliegen und so auch nicht aus ihr allein erklärbar sind, wie insbesondere linksorientierte Soziologen gerne behaupten. „Meiner Ansicht nach hat das Christentum mehr als jeder andere Einflussfaktor die Grundlage menschlicher Identität verändert.“ (vgl. 433f.)
Mit dem alten Klischees eines unüberwindlichen Gegensatzes zwischen Religion und Säkularismus, zwischen Christentum und Moderne, könne man die Probleme, vor denen die Welt heute stehe, weder verstehen noch lösen, so Siedentop. Die westliche Gesellschaft mit ihren Werten sei auch nicht durch den christlichen Glauben bedroht, wie immer wieder behauptet wird, sondern weit eher durch den Islam, der keine Renaissance und keine Aufklärung durchlaufen habe, oder durch das totalitäre Denken Chinas. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit – all das lässt sich nur verwirklichen, wenn die Menschen als Individuen mit gleichen Rechten anerkannt werden, wie in der christlichen Dogmatik. (vgl. 9f.)
Mit seinem Buch ist Siedentop „eine kühne Entmystifikation der Antike und der Aufklärung gelungen – und eine beeindruckende Rehabilitation der Frühkirche und des Mittelalters“, meint Dieter Schnaas von der Wirtschaftswoche (10/2015). Dem kann man nur zustimmen. Mit zahlreichen, nachvollziehbaren Daten belegt Siedentop die eminente Bedeutung christlichen Denkens für die meisten Bereiche des modernen Lebens. Vergeblich sucht man bei ihm allerdings eine weiterführende Auseinandersetzung mit den geistlichen Grundlagen der Bibel und deren prägende Wirkung, beispielsweise mit Sünde, Vergebung und Jenseits. Kaum berücksichtigt werden auch anderen Aspekten der Beeinflussung europäischer Kultur durch den christlichen Glauben in Literatur, Kunst, Architektur, Mathematik, Physik, Wirtschaft usw. In jedem Fall kann man mit Guido Kalberer festhalten: „Nach der Lektüre sehen wir uns und die verweltlichte Welt um uns herum in einem differenzierten Licht.“ (Berner Zeitung; 9.1.2016)