Mit ihrem ersten Band einer Materialethik im Rahmen des Projektes „Transformative Ethik“ legen die Theologen Thorsten Dietz und Tobias Faix den Versuch vor, eine Sexualethik ohne ethische Urteile zu verfassen. „Wir verstehen Ethik … als Reflexion von Moral und moralischem Handeln“. Moralische Prinzipien und Positionen zu vertreten, verdächtigen sie einer „konfliktorientierten Kulturkampfrhetorik“, obwohl sie die gegen römisch-katholische und konservativ-evangelikale Positionen selber gerne kräftig austeilen. Sie wollen in ihrer Ethik angeblich nur „zwischen die Konfliktlinien gehen und jeweils das kommunikative und selbstreflexive Element … fördern“ (25). Das soll dazu dienen, dass „eine Sexualethik zum Selberdenken“ entsteht. Allerdings erlauben sie das Selberdenken meist nur innerhalb der Grenzen soziologischer Mainstream-Meinungen. Als Theologen, die sich der post-evangelikalen Bewegung zurechnen, wollen sie trotzdem eine christliche Sexualethik entwickeln, die sich an der Bibel orientiert. Sie benutzen dabei ihr Modell von „Karte und Gebiet“, bei dem sie davon ausgehen, dass sich das Gebiet des Lebens mit der Sexualität in der gegenwärtigen Zeit so verändert hat, dass die moralischen Karten und auch die ethischen Normen der Bibel veraltet sind und nicht mehr in die Landschaft passen. Die vorliegende Ethik bietet dann aber nur an wenigen Stellen eine aktualisierte Karte, sondern geht davon aus, dass die Beschreibung des Gebietes ausreicht, um seinen Weg „selberdenkend“ zu finden. Selbst wenn man im Bild bleibt, ist jedem schnell klar, dass das für unwegsames Gelände, im Gebirge oder einer Wüste nicht funktioniert, es sei denn man orientiert sich an vorgetrampelten Wegen.
Thorsten Diez/Tobias Faix. Transformative Ethik: Wege zur Liebe. Eine Sexualethik zum Selberdenken. Neukirchen: Neukirchner Verlag 2025. 428 Seiten. 30,00 €. ISBN 978-376-157-038-8.
Einerseits hat es etwas von Bescheidenheit, in der man niemanden für seine sexuellen Vorlieben und Praktiken verurteilen will und sich sogar für eine Voreingenommenheit entschuldigt, die allein daraus resultiert, dass sich die Autoren als „weiße Cis-Männer“ verstehen und wohl auch welche sind. Andererseits liegt ein unverkennbarer Hochmut darin, sich selbst zum Vermittler in ethischen Konflikten und Wegweiser zu erklären und allen beibringen zu wollen, wie sie richtig „selberdenken“, was erreicht wäre, wenn sie zu Lebenswegen gelangen, die angeblich „biblisch“ sind („Transformative Ethik ist biblische Ethik.“ 27) und zugleich das Denken gegenwärtiger sozialwissenschaftlicher Fakultäten widerspiegeln. Das heißt – um einzelne Punkte aus der zweiten Hälfte des über 400 Seiten starken Buches zu nennen –, dass eine „sex-positive“ Pornografie Vielfalt und Lust fördert, ein „polyamoröses“ Leben mit mehreren Partnern förderlich für Gesundheit und Kindererziehung ist und die Ehe als junge Erfindung „ohne Bruch“ zu einer „Ehe für alle“ transformiert werden kann. Diese Haltung resultiert daraus, dass die Autoren irgendwoher zu wissen meinen, dass Jesus Christus genau das will, denn „für uns ist Christus derjenige, der heilsame Transformationen und Versöhnung miteinander ermöglicht“ (19). Es sei also letztlich Christus selbst, der „evangelisch-reformatorische Tradition“ und „kontextuelle Perspektiven wie feministischer und queerer Theologie“ irgendwie miteinander versöhnt. Eine evangelische Ethik zeichnet eigentlich aus, dass sie formuliert, was gutes Handeln im Horizont des biblischen Evangeliums ist, aber das lehrt uns, dass Christus kam, um die Menschen mit Gott zu versöhnen, die aufgrund ihrer Haltung zu Gott und ihrer Irrwege zu Feinden Gottes geworden sind. Weder wollte Christus theologische Schulen miteinander versöhnen noch Gottes Maßstäbe für gutes Handeln mit den Irrungen des sündigen Lebens.
Auf welcher Seite das Herz der Autoren schlägt, wird bereits deutlich, wenn sie am Anfang in einem „kleinen Glossar … die zentralen Begriffe unserer Sexualethik“ darlegen. Die sind ohne Kritik den entsprechenden Lexika der LGBTQ+-Bewegung entnommen. Die Autoren verstehen sich demnach als „cisgeschlechtlich“, also als Menschen, denen bei ihrer Geburt „ein Geschlecht zugewiesen wurde“: Sie sind heute Männer, weil sie sich mit der Entscheidung von Hebamme und Eltern identifizieren und andere sie entsprechend wahrnehmen. In ihrem „psychischen Geschlecht“ könnten sie aber auch „weiblich und männlich zugleich“ oder keines von beiden oder etwas „irgendwo dazwischen“ sein (22-23).
Man muss sich m.E. bei der „transformativen Ethik“ jederzeit bewusst sein, dass der Anspruch der „Reflexion“ – mit der Bereitschaft sich auf Veränderung einzulassen und das alles irgendwie versöhnend zwischen den Fronten – mit klaren Vorentscheidungen verbunden ist. „Theologische Ethik“ ist sie nicht etwa, weil sie sich den alle Zeit gültigen Maßstäben Gottes gehorsam beugen will, sondern weil Gott Geschichte schreibt und dabei angeblich immer mit den Transformationen der Geschichte und des gängigen Denkens mitgeht. „Biblische Ethik“ ist sie nicht, weil sie aus der Bibel Prinzipien und Gebote erkennen und sie auf heutige Herausforderungen anwenden will, sondern weil die biblischen Begriffe „Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit“ Maßstab sein sollen – allerdings in einer inhaltlichen Bestimmung, die dem aktuellen Zeitgeist angepasst ist und kaum mehr der Bibel entspricht.
Zur Gerechtigkeit gehört für die Autoren z.B., dass sie das Instrument der „Intersektionalität“ anwenden, „um die Komplexität menschlicher Erfahrungen zu verstehen und gerechtere Lösungen zu entwickeln“ (53). Es erscheint ihnen „wichtig“, das richtige „Bewusstsein im Bereich einer Geschlechter- und Sexualethik“ zu entwickeln, um „gerecht“ sein zu können „im Umgang mit Normalitäts- und Abweichungsvorstellungen im Bereich von Geschlecht und Sexualität“ (54). Die Autoren unterlassen es allerdings, klar zu sagen, dass es dabei nicht darum geht, dass aus christlicher Liebe Homosexualität und Queerness in Grenzen toleriert werden soll. Es ist vielmehr so, dass Intersektionalität eine konsequente Täter-Opfer-Perspektive einnimmt, in der dann „Cisgeschlechtliche“ als die normale Mehrheit von Männern und Frauen die Unterdrücker queerer Sexualität darstellen. Das ist schon gegeben, wenn sie nur denken, dass sie „normal“ sind und einfach, weil sie die Mehrheit darstellen. Eine Sexualethik wäre damit ungerecht und diskriminierend, wenn sie sagt, dass Gott die Menschen als Mann und Frau geschaffen hat, die sexuelle Vereinigung in einer exklusiven Ehe erleben dürfen, jede andere körperlich sexuelle Betätigung aber nicht im Sinne Gottes ist, auch wenn sie in der Wirklichkeit einer sündigen Welt oft gelebt wird. Die „Normalität“ der Familie aus Frau und Mann und Kind(ern) wird zu einem Unterdrückungsschema, wenn andere Lebensformen als „Abweichung“ von der Normalität gesehen würden. Vor 25 Jahren hatte ich kritisch angemerkt, dass evangelische Kirchen und in der Folge auch einzelne Evangelikale Ehe und Familie nur noch als „Leitbild“ ansahen, während alle andere „Lebensformen“ – tatsächlich gemeint waren dabei nicht christliche Kommunitäten, sondern homosexuelle Partnerschaften – gleichberechtigt sein sollten. Heute wäre selbst ein Festhalten an einem „Leitbild Familie“ diskriminierende Ungerechtigkeit. Die Begriffe „Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit“ kommen in der Bibel vor, aber ihre Verwendung in der transformativen Sexualethik steht an vielen Stellen im direkten Gegensatz zum biblischen Sinn.
Anthropologie als Grundlegung
Die Autoren wollen – wie es in der modernen evangelischen Theologie üblich geworden ist – die Anthropologie zu ihrer theologischen Grundlegung für die Sexualethik machen. Sie stellen allerdings sofort klar, dass es ein christliches oder biblisches Menschenbild gar nicht geben kann. Die Beschreibungen des Menschen in der Bibel erscheinen ihnen widersprüchlich und außerdem „völlig aus der Zeit gefallen“, weil die Bibel nicht vom „Gehirn“ spricht, keine „Persönlichkeitstypologien“ enthält oder moderne neurologische und psychiatrische Erkenntnisse berücksichtigt (59). Es bleiben am Ende die Feststellung der allgemeinen Menschenwürde und der Bezogenheit auf Gott und den Mitmenschen als Merkmale einer biblischen Anthropologie. Aus der Lehre Martin Luthers vom Menschen ergänzen die Autoren den Aspekt, dass der Mensch eine zukünftige Bestimmung hat. Wo allerdings Luther die Erfüllung der Erlösung in der endzeitlichen Vollendung im Blick hatte, stellen die Autoren im Sinne ihres Transformationsdenkens eine allgemeine Weiterentwicklung auf irgendein zukünftiges Ziel in den Vordergrund. Damit gibt es kein „sehr gut“ des Schöpfungsanfangs und keinen Sündenfall mehr, der durch die Erlösung durch Christus in Ewigkeit überwunden wird, sondern einfach ein „Der Mensch ist das Wesen, an dem Gott baut“ (65). Eine weitere Ergänzung scheint ihnen notwendig durch die feministische Befreiungstheologie. (Die Autoren entschuldigen sich, dass sie diesen Aspekt aufgrund ihrer Biografie in ihrer bisherigen transformativen Ethik viel zu wenig bedacht hatten.) Hier geht es allerdings vor allem negativ darum, dass im Denken patriarchalische Deutungsmuster vermieden werden, die überall vorherrschten. Wer vom Menschen rede, denke dabei eigentlich an Männer. Weil Männer als Männer Frauen überhaupt nicht angemessen würdigen können, darum ist Theologie von Männern grundsätzlich der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verdächtig („Hermeneutik des Verdachts“). Das gilt auch für „Paulus und seine Schüler“ und genauso im Blick auf die Sexualethik. Wie soll es dann möglich sein, dass „heterosexuelle Cis-Männer“ der Herausforderung gerecht werden, queere Menschen in einer theologischen Anthropologie wertschätzend zu würdigen? Das erscheint den Autoren (beinahe) nicht machbar. Sie wollen aber trotzdem „diese Perspektiven studieren und so gut wie möglich aufgreifen“ (69).
In einer „Anthropologie der Offenheit“ wollen Dietz/Faix vor allem von queerer Sichtweise lernen. Dazu gehört zum Beispiel: „Queere Analysen zielen auf den Nachweis, dass Essentialierungen im Sinn von Wesensbehauptungen das Ergebnis historischer Entwicklung und sozialer Konstruktion sind“ (81). Aus dieser Behauptung geht dann der Schluss hervor, dass alles, was einmal historisch sozial konstruiert wurde, auch ganz anders neu konstruiert werden kann. „Geschlecht“ ist demnach nur „ein Bild“, das der Mensch sich gemacht hat und solches „Bildermachen“ verbiete sogar Gottes Gebot. Weil Gott nicht erkennbar sei, darum könne es auch nur eine „negative Anthropologie“ geben, die alle Normen und Kategorien für den Menschen grundsätzlich infrage stellt. Weil der Mensch immer im Werden sei, ist die „Verwandlung des Menschen ein zentrales biblisches Motiv, das gerade für eine transformative Ethik grundlegenden Charakter hat“ (83). Weil Liebe Gottes Wesen ist, darum ist „die Bestimmung zur Liebe … der Wegweiser“ für alle möglichen Verwandlungen des Menschen. Was darunter zu verstehen ist, hat mit einem biblischen Verständnis der Liebe Gottes kaum etwas zu tun, zumal auch das nur eine zufällige soziale Konstruktion der Antike darstellt. Heute bedeute das „Evangelium der Liebe“ z.B. eine „gerechte Verteilung des Wohlstandes“, die Schaffung „sicherer Fluchtwege“ für Geflüchtete, der Kampf gegen die „Verschärfung der Klimakrise“ und der „Dialog der Religionen“ (86). Weil allein Gott absolut ist, können absolute moralische Werte nicht existieren. Das gilt für die Autoren natürlich auch für „Geschlecht und Sexualität, Ehe und Familienformen“ (87). In dieser Sicht vom Menschen ist er auch „Sünder:in“. Allerdings muss das Verständnis von Sünde „herausgelöst werden aus dem Zusammenhang einer negativen Anthropologie, die den Menschen wesensmäßig als böse essentialisiert.“ Hier ist mit „negativer Anthropologie“ etwas anderes gemeint als ein paar Seiten vorher. Nämlich: Der Mensch solle nicht „moralistisch auf Schuld und Scheitern festgelegt“ sein, weil Sünde nur „das Zurückbleiben hinter der hohen Bestimmung des Menschen ist“ (88).
Es ist schwindelerregend, mit welcher Akrobatik es Thorsten Dietz und Tobias Faix unternehmen, biblische Motive erst um Inhalt und Bedeutung zu erleichtern, um dann mit ihnen zu so wild zu jonglieren, dass schließlich eindeutig zu sein scheint: Bibel und Theologie bestätigen das Weltbild des sozialwissenschaftlichen Mainstreams. Dann hat folgerichtig eine christliche Ethik die Aufgabe, dieses Weltbild im Leben aller Menschen zu befördern. Es ist bereits bei den Grundlagen deutlich, dass sich in dieser Ethik ein starker Relativismus mit einem moralistischen Rigorismus mischt, wie man das auch vom gegenwärtigen gesellschaftlichen Moralismus kennt. Man beschwört die Freiheit, in der keinerlei absolute moralische Werte einengen. Mit der ständig drohenden Keule der Diskriminierung ist diese Freiheit aber zugleich eingeschränkt. Der „alte weiße Mann“, der heterosexuell langjährig Ehe und Familie mit einer Frau und Kindern lebt, wird beinahe unvermeidlich eine Diskriminierung in Person für alle, die von dieser „Normalität“ abweichen. Das irgendwie Normale – so würde es jedenfalls über alle Kulturen hinweg von wenigstens 80% der Menschen empfunden – soll beliebig austauschbar sein, weil es angeblich eine geschichtliche Zufälligkeit ist, die nur erfolgreich tradiert wurde. Das schon wegen seiner relativen Seltenheit „Unnormale“ soll im Gegenzug als (Teil der) Normalität gelten. Aber wer bestimmt eigentlich, was die normative Entwicklung in Sachen Moral darstellt? Es ließen sich genug Daten aufführen, die eine weltweite Wiederkehr traditioneller Werte im Bewusstsein der Menschen beweisen. Warum sollte nicht das eine gewissermaßen normative Transformation darstellen, der eine Sexualethik folgen sollte? Wichtiger aber ist die Beobachtung, dass mit diesen Grundlagen der Bibel jede Autorität genommen wird. Die Autoren würden das abstreiten. Aber die einfache Testfrage, ob noch möglich wäre, dass die Bibel einer modernen moralischen Überzeugung widersprechen kann und man dann sein Handeln danach ausrichten muss, zeigte es deutlich. Dietz/Faix messen mit ihrer Ethik den Transformationen in der Geschichte, die sie für Gottes zielgerichtetes Handeln halten, Normativität zu. Die Bibel kann für sie nur relevant sein, wo sich in ihr Ansätze oder Motive finden, die den erkannten Transformationen entsprechen, sie also bestätigen oder sogar vorantreiben. So wird Gottes Wort höchstens zu einer Begleitmusik im Mitgehen mit dem moralischen Wandel der Zeit.
Gibt es ein männliches und weibliches Geschlecht?
Nach ihrer Einleitung behandeln die Autoren konkrete Fragen der Sexualethik in drei jeweils rund 100 Seiten umfassenden Kapiteln zu „Gender“, „Sexualität“ und „Lebensformen“. Das ausführliche Kapitel über Gender als Bearbeitung der „Geschlechterkonflikte“ ist durchgängig eine Argumentation für eine egalitäre Sicht auf die Geschlechtlichkeit der Menschen. Dietz/Faix meinen damit nicht nur, dass Männer und Frauen völlig gleichberechtigt sein sollen, weil ihre Geschlechtlichkeit sie nicht wesenhaft zu unterschiedlichen Menschen macht, sondern vielmehr schließen sie ein, dass Geschlechtlichkeit „vielfältig“ sei. Das bedeutet offenbar, dass es wohl irgendwie männlich und weiblich gibt, aber das höchstens auf der biologischen Ebene festzumachen ist, aber nicht das Wesen eines Menschen „essentialisiert“. Die Geschlechtlichkeit des Menschen sei vielfältiger als männlich und weiblich. Das wird für die Positionen zur gelebten Sexualität grundlegend. Dietz/Faix grenzen sich gegen eine komplementäre Sicht auf die Geschlechter ab, wie sie von der römisch-katholischen Kirche vertreten wird und auch weithin in der konservativ-evangelikalen Bewegung. Für die komplementäre Deutung der beiden Geschlechter männlich und weiblich gilt, dass diese nicht als gleichartig angesehen werden. Sie sind gleichwertig. Aber es liegt eine Unterschiedlichkeit vor, die auf gegenseitige Ergänzung angelegt ist. Unterordnung ist komplementär verstanden kein Ausdruck von Minderwertigkeit, sondern von gegenseitigem Dienst mit der Begabung als Mann bzw. als Frau, die Gott gegeben hat. Die Autoren sehen hier einen scharfen Konflikt, den sie angeblich dadurch „entschärfen“ wollen, dass sie „die Entwicklungen der Überzeugungen und die Vielfalt heutiger Ausprägungen bewusstmachen“ (97). Aber tatsächlich wollen sie ihre Leser nur von ihrem Egalitarismus überzeugen, und das ziemlich manipulativ.
Das machen sie in verschiedenen Schritten. Sie malen eine durchweg negative Folie, indem sie zeigen, dass die Differenz der beiden Geschlechter in der Antike meistens im Sinne der Höherwertigkeit des Mannes gesehen wurde. Sie unterschlagen allerdings, dass es auch dort oft um eine Höherwertigkeit für bestimmte Aufgaben ging wie schwere körperliche Arbeit, Kriegsführung, Leitung im Staat u.a. Natürlich gab es wie zu allen Zeiten ekelhafte Frauenfeindlichkeit. Auch in ihrer Auswahl an Stellen aus dem Alten Testament finden sie ein frauenverachtendes Patriarchat: Die Frau sei Besitz des Mannes gewesen; nur Töchter durften als Sklaven verkauft werden; nur der Mann darf sich von seiner Frau scheiden; die Zuneigung der Frau spielte keine Rolle, wenn sie in eine Ehe gegeben wird; Heiraten bedeutete, dass der Mann sich eine Frau „nimmt“; Frauen können nicht erben. „Die rechtlichen Ordnungen bringen den Vorrang der Männer vor Frauen zum Ausdruck“ (101). Die Autoren versuchen nicht einmal die genannten Stellen im damaligen Kontext zu verstehen: Patriarchat bedeutete vor allem die von Gott gegebene Aufgabe der Leitung durch den Vater der Familie, der das „Haupt“ des Hauses war und die Verantwortung für alle Mitglieder des Hauses trug. Und ja, das wurde von sündigen Männern als Rechtfertigung zur Unterdrückung missbraucht. Die Rede vom Menschen als Eigentum steht vielfach auch für das positive Verhältnis Gottes zum „Volk seines Eigentums“ (5Mo 7,6). Einen Herrn zu haben, ist nur dann schlecht, wenn es ein schlechter Herr ist. Und ja, der sündige Mensch nutzt oft Abhängigkeitsverhältnisse missbräuchlich zur Unterdrückung.
Aber die Autoren finden auch „egalitäre Tendenzen“ im AT, die in der Auslegung oft von hierarchischen „verdrängt oder gar von diesen her gedeutet wurden“ (103). Auch hier lesen Dietz und Faix wieder mit ihrer Brille und sind nicht in der Lage, das Gesamtbild zu erkennen. Weil im Buch Hohelied keine Hierarchie, Vorrang oder Unterordnung zur Sprache komme, gebe es so etwas „offenbar“ in der Liebe nicht (104). Auch die Verheißung der Ausgießung des Heiligen Geistes gleichermaßen auf Männer und Frauen mache eine egalitäre Gleichberechtigung als Ziel Gottes deutlich. Deswegen wollen sie auch die Anweisungen des Neuen Testaments zur Unterordnung der Frau als Rücksichtnahme auf die patriarchale Gesellschaft im Römischen Reich verstehen. Tatsächlich lehre das NT aber egalitäre Gleichheit. Neben dem Umgang von Jesus mit Frauen steht dafür zentral Galater 3,28. Die Autoren lehnen eine Beschränkung der Aussage auf das Heil „in Christus“ ab, sondern argumentieren, dass Paulus die damalige soziale Ordnung im Kontext der Gemeinde in eine zukünftige des Reiches Gottes überführen wollte. „Immer wieder formuliert Paulus das Geschlechterverhältnis nicht allein aus Sicht des Mannes, sondern symmetrisch und egalitär“ (108). Paulus habe an einer „Destabilisierung der Geschlechterrollen als Folge des Christusgeschehens“ gearbeitet (110). Auch wenn sie keine klare Entwicklung zum Egalitarismus nachweisen können, gilt für sie: „Wer heute mit Berufung auf einzelne biblische Stellen wieder ein Gefälle von Mann und Frau aufrichten will, kann sich nicht auf das einhellige Zeugnis des Neuen Testaments insgesamt berufen“ (110).
Dass die Autoren den Konflikt mit ihrer Argumentation nicht wirklich „entschärfen“ wollen, dürfte klar sein. Auch Christen, die für ein komplementäres Verhältnis der Geschlechter plädieren, wolle kein „Gefälle“ aufrichten, wenn sie von Unterschiedlichkeit in Gaben und Aufgaben reden. In Christus soll auch bei ihnen der Geschlechterkampf, der durch den Sündenfall in die Welt kam, überwunden werden. Das geschieht aber in hingebungsvoller Liebe und freiwilliger Unterordnung und nicht durch die Behauptung einer völligen Gleichheit, die es für jeden wahrnehmbar nicht gibt. Andererseits darf Ungleichheit keinesfalls in Klischees festgeschrieben werden, die eine Verachtung von Frauen mit sich bringt. Das ist und bleibt eine Gefahr auch in christlicher Gemeinschaft.
Für Dietz und Faix sind geschlechtliche Unterschiede von Männer und Frauen eigentlich nur statistisch, nicht „naturgegeben“, sondern kulturelle Erscheinungen.
Thorsten Dietz und Tobias Faix entscheiden sich nach ihrer Darstellung der Entwicklungen zum modernen Verständnis der Geschlechter dafür, dass nur bei dem einen Unterschied, dass Männer Samenzellen produzieren und Frauen Eizellen, die für die Fortpflanzung notwendig sind, eine echte zweigeschlechtliche (binäre) Unterscheidung von Mann und Frau möglich ist. Alle anderen männlichen oder weiblichen Merkmale seien „statistische Unterschiede“, die „nicht rein naturgegeben, sondern vielfach Ergebnis einer langen kulturellen Entwicklungsgeschichte“ sind (120). „Das heißt aber, dass Geschlecht keine reine biologisch feststellbare Tatsache ist.“ Das wäre aus ihrer Sicht gleichbedeutend mit einer Behauptung, Geschlecht sei so etwas wie ein „Blinddarm“. „Gehört es zu den wesentlichen Dimensionen des Menschlichen, … [d]ann ist auch Geschlecht ein biopsychosoziales Gefüge“ (121). Das ist offensichtlich eine typische Strohmann-Argumentation. Wenn Biologen teilweise gegen einen Sturm der Entrüstung festhalten, dass das biologische Geschlecht offenbar binär ist, dann sagen sie nicht, dass Geschlecht nur eine biologische Dimension habe. Sie stellen sich allerdings gegen die Behauptung von Nicht-Biologen, dass Zweigeschlechtlichkeit keine biologische Beobachtung sei, sondern Naturwissenschaft nur das „Ergebnis einer langen kulturellen Entwicklungsgeschichte“, in der es Männern darum ging, Frauen zu unterdrücken und Queerness auszugrenzen. Christen, die ein komplementäres Zueinander der beiden Geschlechter vertreten und das nur mit Biologie begründen, sind mir nicht bekannt. Geschlecht ist offenbar „naturgegeben“ – oder besser gottgegeben – und zugleich ein „biopsychosoziales Gefüge“. Die Biologie in diesem Gefüge macht allerdings klar, dass es sich beim männlichen und weiblichen Geschlecht nicht um eine völlig „fluide“ – also fließend formbare – Zufälligkeit handelt. Und es gibt genug Hinweise, dass auch die Psychologie und die Sozialität von Männern und Frauen nicht völlig fließend ist.
Dietz/Faix treten als Theologen und Sozialwissenschaftler in ihrer Sexualethik als Schiedsrichter in der wissenschaftlichen Diskussion auf, in der sie der Philosophin Simon de Beauvoir den Punkt zusprechen für ihre Behauptung von 1949 „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“. Der britische Psychologe Simon Baron-Cohen erhält für seine Studien aus den Jahren 2004 und 2009 über klar erkennbare Unterschiede in weiblichen und männlichen Gehirnen einen Minuspunkt, während die widersprechende Neurowissenschaftlerin Lise Eliot für ihre Studienergebnisse von 2009 für einen sehr geringen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen in der kindlichen Entwicklung den Pluspunkt erhält. Wenn es darum geht, sich passende Belege für die eigene Argumentation herauszusuchen, ist man geneigt, Dietz/Faix den Punkt zu geben.
In ihrer Beschreibung des „biopsychosozialen Gefüges“ folgen die Autoren dann ganz der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler, die eine binäre Geschlechterordnung für unausweichlich soziokulturell konstruiert hält.
In ihrer Beschreibung des „biopsychosozialen Gefüges“ folgen die Autoren dann ganz der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler, die eine binäre Geschlechterordnung für unausweichlich soziokulturell konstruiert hält und verteidigen deren Ansichten gegen jede Kritik. Judith Butler hielt sich nach eigenen Angaben erst für lesbisch, besteht aber seit 2019 darauf, „nonbinär“ zu sein. Dietz/Faix respektieren das, indem sie konsequent die von Butler bevorzugten englischen Pronomen „they/them“ benutzen (Hätten sie sie ins Deutsche übersetzt, wären sie nicht von den weiblichen Pronomen sie/ihre zu unterscheiden gewesen.). Butler stellt Geschlechternormen deswegen infrage, weil sie meint, dass diese vor allem für sexuelle Minderheiten „Unglück und Leid produzieren“. Sie hat sich ganz einem Befreiungskampf verschrieben. Dietz/Faix folgen ihr darin, dass sie die komplementäre Sicht auf das Zueinander der Geschlechter als „Vereinheitlichung“ bezeichnen, die die Vielfalt der Menschen bekämpfe. „Die Komplementaritätstheorie löscht die Vielfalt konkreter Menschen im Namen wesenstypischer Eigenschaften auf“ (125). Den Autoren scheint nicht klar zu sein, dass sie mit diesem Argument, das auf Butler beruht, jede Kategorisierung infrage stellen. Von Autofahrern und Radfahrern zu reden, wäre dann genauso eine gewaltsame Vereinheitlichung wie die Rede von Kindern und Erwachsenen, von Studenten und Professoren, die immer „die Vielfalt konkreter Menschen“ auslöschen würde. Gerade die christliche Ethik mit ihrer Würdigung des Individuums macht doch deutlich, dass Kategorien keine Festlegungen darstellen, die dem konkreten Menschen seine Einzigartigkeit rauben sollen, auch wenn sie dazu missbraucht werden können. Dass Karin den Kategorien Frau, Mutter, Musikerin, Autofahrerin, Christin usw. zugeordnet werden kann, soll doch nicht die Vielfalt der Menschen auslöschen, es beschreibt sie vielmehr, ohne jemals ein individuelles Wesen vollständig erfassen zu können. Das gilt insbesondere auch für die Wesenseigenschaft Frau, die einerseits jedes Kind sofort erkennen kann, die aber andererseits nicht umfassend definiert werden kann. In der Philosophie von Judith Butler gilt allerdings jede Beschreibung als gewalttätiger Sprechakt, der Macht über einen Menschen gewinnen will und ihn in seinem Dasein unfrei macht.
Die Entscheidungen der Autoren in Sachen Geschlecht gehen bewusst „in vieler Hinsicht hinaus über das, was in der Christentumsgeschichte gedacht wurde.“ Sie seien trotzdem „keine Anpassung an moderne Entwicklung“, sondern könnten sich „auf egalitäre Impulse schon der biblischen Texte“ berufen (127). Mit dieser Behauptung eines bibelorientierten christlichen Ansatzes scheinen die Autoren ihrer transformativen Grundlegung, die doch gerade „Anpassung an moderne Entwicklung“ leisten möchte, zu widersprechen. Vielleicht ist Thorsten Dietz und Tobias Faix aber wirklich nicht bewusst, wie weit sie sich von Bibel und Christentum entfernt haben.
Das sogenannte Gender-Mainstreaming, einem Programm, das ursprünglich durch systematische Bevorzugung von Frauen ihre lange Benachteiligung beenden sollte, dann eher auf Verunsicherung und Verunklarung von Geschlechtsidentität im Sinne einer Zweigeschlechtlichkeit setzte und inzwischen allgemein „Gendergerechtigkeit“ erreichen will, erscheint aus Sicht der transformativen Ethik durchweg positiv. Die Autoren sehen hier einen angemessenen Weg zum „gleichberechtigten Umgang mit Personen jeglichen Geschlechts“. Immerhin kommen kritische Stimmen aus der römisch-katholischen und vereinzelt der evangelikalen Theologie auch zu Wort.
In der Diskussion um die sogenannte Intergeschlechtlichkeit, bei der es sich meist um Folgen von Abweichungen bei den Geschlechtschromosomen oder um Fehlbildungen bei der Reifung der Geschlechtsorgane handelt, wird gut aufgezeigt, dass der theologische Umgang damit Defizite hat. Natürlich ist die Deutung dieser Phänomene im Sinne einer Fehlbildung oder Behinderung, die betroffene Personen am besten im Glauben tragen sollen, noch keine Antwort für alle daraus resultierenden ethischen Fragen. In aller Regel haben sich in der Vergangenheit Menschen selber dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet, was durch frühere Entscheidungen ihrer Eltern vorgegeben war, die aber natürlich nicht ohne eine Grundlage geschahen. Dabei können ethische Dilemmata entstehen. Es wäre nur ehrlich, zu sagen, dass heutige Lösungen – etwa ein Kind als „divers“ oder „inter“ aufwachsen zu lassen und ihm zu vermitteln, es könne sich einmal entscheiden, ob es Mann oder Frau sein will oder sich als non-binär oder „irgendetwas dazwischen“ definieren möchte, und ihm vor einsetzender körperlicher Reifung noch Pubertätsblocker zu verabreichen – kein wirklich besserer Weg sind.
Für Dietz/Faix sind in dieser Frage „Freiheit und Selbstbestimmung … aus christlicher Sicht zentrale Normen“ (158). Mit diesen Normen wollen sie jedem „Druck“ zur Anpassung an die Zweigeschlechtlichkeit wehren. Sie sehen „unbegründete“ „Ängste, dass die Abkehr von der Idee einer binären Zweigeschlechtlichkeit in eine völlige Willkür und Beliebigkeit führt“ (157). Dabei merken sie nicht, wie gefangen sie selber sind in den vermeintlichen Lösungswegen der Spätmoderne. Aus persönlichen Zeugnissen aus orientalisch-muslimisch geprägten Kulturen weiß ich, dass dort Kinder mit unklaren Geschlechtsmerkmalen bis heute in aller Regel bald nach der Geburt getötet werden. Die christliche Liebe hat doch dazu geführt, dass heutige westliche Gesellschaften Menschen mit Behinderung und auch mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen leben lassen und ihnen auch ein lebenswertes Dasein ermöglichen wollen. Die Spätmoderne wiederum fällt mit ihrer rigiden Abtreibungspraxis beim Verdacht von Fehlbildungen des Fötus hinter die christliche Liebe zurück. Sie feiert zwar am 21.3. eines jeden Jahres Menschen mit Downsyndrom (Trisomie 21), aber drängt zugleich jede Schwangere bei Verdacht auf diese chromosomale Fehlbildung zur Tötung des Lebens, das in ihr heranwächst. Das Gleiche gilt für jede vorgeburtlich erkennbare Form von Intergeschlechtlichkeit. Dietz/Faix haben selber Geschlecht als „biopsychosoziales Gefüge“ bezeichnet, aber verdächtigen die Rolle, die das soziale Gefüge, die Interaktion mit Menschen des gleichen und anderen Geschlechtes bei der persönlichen Geschlechtsentwicklung spielt, als Einengung von Freiheit und Selbstbestimmung. Das ist einerseits ein Widerspruch zu ihrer eigenen Betonung der Bedeutung sozialer Bezogenheit für das Menschsein und andererseits kaum realitätsgerecht, weil keine Freiheit ohne Grenzen existiert, seien diese nun durch den Körper, die psychische Anlage, durch die Familie oder das weitere soziale Umfeld gegeben. Christliche Ethik zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie diese Gegebenheit aufnimmt und die Würde des Menschen auch in unvermeidlicher Einschränkung von Freiheit achtet und bewahrt. Sie weiß aber, dass ethische Normen keine Erlösung schaffen können. Die wahre „Freiheit der Kinder Gottes“ ist Geschenk der Errettung durch Christus und wird erst in Ewigkeit völlig offenbar (Röm 8,21).
Das Thema Intergeschlechtlichkeit dient Dietz/Faix auch als Einstieg in die Diskussion um die sogenannte Transgeschlechtlichkeit, bei der es um Menschen geht, die im Hinblick auf ihr Geschlecht denken, dass sie „im falschen Körper“ geboren seien. Ziemlich kritiklos geben sie im Namen von „Freiheit und Selbstbestimmung“ ein Plädoyer dafür, dass Menschen mit Geschlechtsdysphorie die Möglichkeit gegeben werden soll, mit Hormonen und Operationen eine sogenannte Geschlechtsangleichung vorzunehmen. Das wollen sie in „Einzelfallentscheidungen“ auch Kindern möglich machen, wenn diese früh „wissen“, dass sie „trans“ sind. Die erheblichen Folgen, die das für ein Leben hat, wischen sie mit einer „Studie“ vom Tisch, die angeblich bewiesen habe, dass solche Operationen im Nachhinein nur selten bereut werden (166). Dass es sich dabei um eine Metastudie von plastischen Chirurgen im „American Journal of Surgery“ mit Auswertung von 55 Artikeln über plastisch-chirurgische Eingriffe handelt, von denen überhaupt nur einer „Geschlechtsangleichungen“ zum Thema hatte, und die Schlussfolgerungen von daher völlig unbegründet sind, stört nicht, wenn die Sache ins Bild passt. Die zahlreichen Warnungen von Medizinern und Psychologen, die Transition nicht völlig ablehnen, aber erhebliche Probleme sehen, spielen da keine Rolle. Die Autoren scheinen die ethischen Implikationen nicht zu überdenken, die dieses Experiment im Umgang mit echten psychischen Problemen bei einer kleinen Zahl von Menschen mit sich bringt. Die Probleme gab es auch früher, aber jetzt werden Menschen auf Kosten der Gesellschaft hoch risikobelastet chirurgisch behandelt, wobei es sich vor allem um eine Entfernung von äußeren Geschlechtsorganen handelt und den Versuch, ein anderes Bild herzustellen. Sie sind danach ein Leben lang von Hormonmedikamenten abhängig, die sie auch psychisch verändern. Zudem leiden Menschen mit Geschlechtsdysphorie fast immer noch unter anderen psychischen Erkrankungen. Manchmal hoffen sie, ihr Unbehagen mit homosexuellen Gefühlen mit einem Geschlechtswechsel zu überwinden. Sie wünschen sich nach einer Transition, als „normale“ Männer oder Frauen angesehen zu werden, was selten wahr wird und nicht nur an der Gesellschaft liegt. Psychisch leidende Menschen zu diskriminieren, ist nicht christlich. Aber ist es deswegen christlicher, sie im Namen ihrer Selbstbestimmung zu bestätigen, auch wenn sie sich dabei erheblichen Schaden zufügen? Die längerfristigen Folgen für Einzelne und die Gesellschaft sind jedenfalls nach übereinstimmender Meinung von Medizinern und Psychologen noch kaum absehbar.
In ihrer Kritik der Kritik an den Ideen, die hinter der kritiklosen Befürwortung von Manipulationen am körperlichen Geschlecht stehen, sind die Autoren aber stark:
„Mit der Betonung einer binären Zweigeschlechtlichkeit wird mitnichten eine ewige Wahrheit betont, vielmehr wird eine neuzeitliche Form des Geschlechterdenkens verabsolutiert, die in dieser Form weder in der Bibel noch sonst in der älteren Naturrechtsethik in dieser Form vertreten wurde“ (172).
Man kann die These von Nancy Pearcey in ihrem Buch „Liebe deinen Körper“, dass hinter der Priorisierung einer Idee von Geschlechtsidentität bzw. eines Gefühls einem bestimmten Geschlecht zuzugehören, eine Art von Neuplatonismus steht, der die natürlichen Gegebenheiten für zweitrangig hält und diese mit hohem Aufwand dem Gefühl anpassen will, sicher kritisch diskutieren. Aber auch hier wirkt die Kritik im Buch eher wie ein trotziges Aufstampfen:
„Es ist die Moderne, die mit dem Platonismus und Cartesianismus des vormodernen und frühen Christentums bricht … und die sich in neue Begeisterung für Sport, Körperpflege, Achtsamkeit, Entdeckung asiatischer Körpertechniken ect. niederschlägt“ (173-174).
Dietz/Faix erkennen „unhaltbare Widersprüche“, weil nicht verstehen (wollen), dass Pearcey von einer nur in Grenzen veränderbaren Schöpfung ausgeht, zu der biblische ethische Normen in einer Entsprechung stehen. Sie nennen das „Biologismus“. Sie sehen aber keinen Widerspruch, wenn sie einmal die frühchristliche Askese als Leibfeindlichkeit ansehen, aber die spätmodernen Formen von Askese für die Wiederentdeckung des Körpers halten. Dass die Spätmoderne den eigenen Körper dauernd als etwas wahrnimmt, das verändert, verbessert, angepasst werden muss an irgendwelche wechselnde und z.T. widersprüchliche Normen, und dass das auch ein Element sogenannter Transidentität ist, sehen sie nicht als ethisches Problem. Sie monieren, „transkritische Theologie“ sei keine Theologie mit „Betroffenen“, aber für meinen Eindruck bleibt ihre Ethik in Hinsicht auf Betroffene distanziert und realitätsfremd.
Die Theologie von Dietz und Faix ist, anders als behauptet, keine Theologie „mit Betroffenen“, sondern sieht als einzige wirkliche ethische Forderung die Akzeptanz. Als ob damit die echten ethischen Fragen gelöst werden könnten.
Die ethischen Herausforderungen Betroffener liegen doch nicht nur im Kampf um Anerkennung, sondern z.B. in der großen Gefahr des beständigen Drehens um sich und das eigene Selbstbild. Das holen die Autoren auch nicht dadurch ein, dass sie auf 6 Seiten Ansätze von drei „Theolog:innen“ referieren, die sich als „trans“ verstehen. Nur am Ende dieses Kapitels ist wenigstens im Ansatz ein Bewusstsein zu erkennen, dass das tatsächlich vorhandene Problem und die sich ergebenden ethischen Fragen nicht einfach zu lösen sind. Ist es nun besser ein drittes, viertes, fünftes usw. Geschlecht anzuerkennen oder sollten „Geschlechtszuschreibungen“ völlig unterlassen werden? Soll man „Transsein“ im Sinne der Normalisierung ohne Aufhebens als normal betrachten oder im Sinne der Anerkennung der Besonderheit hervorheben? Am Ende gibt es keine Antworten, nicht einmal Wege dahin; es hänge alles vom „Kontext“ ab (186).
Wenn alles christlich gerechtfertigt werden kann
Im Kapitel über die Sexualität (195-300) wollen Thorsten Dietz und Tobias Faix wieder die Bibel zu Wort kommen lassen. Allerdings in genau der selektiven Weise, wie sie es in der Einleitung dargelegt haben, denn sie meinen, dass die Bibel in ihren ethischen Aussagen „auf ganz andere Lebensverhältnisse bezogen ist als unsere“ (195). Aber weil es „für viele Gläubige … nach wie vor eine entscheidende Frage (ist), ob die Bibel klare und eindeutige Anweisungen gibt, wie Sex vor der Ehe oder gleichgeschlechtliche Liebe zu bewerten sei“, wird dargelegt, wo die Bibel angeblich die gängige Sexualmoral bestätigt und dass ansonsten ihre Aussagen nicht relevant sind, weil sie nicht mehr in unsere Lebensverhältnisse passen. Was die Autoren meinen, wird bereits deutlich, wenn sie feststellen, dass „Antike und Mittelalter … kein Konzept von Sexualität (kennen)“. Das gebe es erst seit dem späten 18. Jhdt. und da sei es auch nur um die Fortpflanzung von Pflanzen gegangen, was irgendwie auf Menschen übertragen wurde. Dann wird das übliche Bild gezeichnet: Die christliche Sicht auf die Geschlechtlichkeit sei immer von „Sexualskepsis“ und Lustfeindlichkeit gekennzeichnet gewesen. Erst die „romantische Revolution“ ab 1770 und dann die „sexuelle Revolution“ ab 1960 hätten das grundlegend positiv verändert (204). Das ist nicht nur „vereinfachend“ – wie die Autoren zugeben –, es ist eine irreführende Karikatur.
Die Bibel darf nur die gängige Sexualmoral bestätigen. Widerspricht sie, sind ihre Aussagen überholt und aus der Zeit gefallen.
Für ihre Sexualethik wollen die Autoren nur Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit als leitende Prinzipien gelten lassen (214). Es fällt aber auf, dass wichtige Aspekte der Bibel darin nicht vorkommen. Bei der Freiheit will man die Selbstbestimmung sicherstellen, aber es fehlt das Verständnis, dass Freiheit in der Bibel am größten in einem geschützten Raum mit Grenzen ist. Bei der Liebe will man „Liebe in der Vielfalt aller Liebesfähigkeiten des Menschen … entwickeln“ – was immer das heißen soll. Es fehlt aber die hingebungsvolle Liebe bis zur Selbstaufgabe, die die Bibel auch für die Ehe als notwendig ansieht. Bei der Gerechtigkeit betont man „die Akzeptanz aller Menschen in ihrer schöpfungsbedingten Gleichheit“ gegen das biblische Verständnis von Gerechtigkeit als gegenseitigem Dienen in der gottgewollten Verschiedenheit. Eine theologische Deutung von Geschlechtlichkeit und Sexualität als Grundlage für ethische Ordnungen fehlt schließlich völlig, obwohl die Bibel durchaus Aussagen dazu macht.
Die Ergebnisse zu einzelnen Fragen der Sexualethik sind dann nicht überraschend. Homosexuelles Leben soll als normale Ausdrucksform der Sexualität akzeptiert werden.
„Mit der Entdeckung der homosexuellen Orientierung in der Neuzeit hat sich das Gebiet so signifikant verändert, dass eine Übertragung biblischer Einzelaussagen auf die heutige Zeit in keiner Weise mehr zu rechtfertigen ist“ (234).
Allerdings sucht man an dieser Stelle sexualethische Ordnungen für homosexuelles Leben vergeblich. Die ethische Ordnung heißt nur Akzeptanz. Das gilt gleichermaßen für „Bisexualität“ und die „vielen Formen“ der „Asexualität“. Die Autoren erlauben sich keinerlei kritische Anfragen an diese Konzepte, sondern referieren einfach nur. Über Prostitution bzw. Sexarbeit gebe es zu wenig „klarere Kenntnis“, um eine „ethische Einordnung“ vorzunehmen. Pro und Kontra werden mit klarer Tendenz zur Bejahung von „selbstbestimmter“ Prostitution referiert. Sexuelle Gewalt ist natürlich abzulehnen. Irritierend, aber vielleicht auch nur unglücklich formuliert ist, dass man am Ende pädophile Handlungen mit dem Argument verwirft, dass „es an dieser Stelle einen absoluten Konsens aller politischen Lager, der medizinischen und psychologischen Auffassung und der juristischen Bewertung“ gebe. Der Konsens wird referiert (261). Gibt es auch eine dezidiert christliche Perspektive oder könnte mit dem Wandel der Zeiten pädophile Sexualität auch wieder akzeptabel werden – vielleicht in der Form der Knabenliebe des alten Griechenlands?
Weil die Bibel im Buch Hohelied angeblich den körperlichen Akt und die Sexualität außerhalb einer Ehebeziehung „darstellt“, soll die Nutzung von Pornografie nicht grundsätzlich abgelehnt werden. „Wie gerade sex-positive Ansätze aufzeigen, kann mit fairen, diversen, inklusiven und feministischen Formen von Pornografie die Selbstbestimmung und sexuelle Entfaltung der Darsteller:innen wie der Betrachter:innen gestärkt werden“ (292). Positive Pornografie, „die Freiheit, Gleichheit, Liebe, Gerechtigkeit und Würde wie auch sexuelle Orientierungen und Identifikationen schützen und vermitteln“, könnte förderlich für die eigene Sexualität konsumiert werden.
Der Rest der Sexualethik wird im Kapitel „Lebensformen“ abgehandelt (301-382). Die Ehe erscheint als eine Lebensform unter anderen. Sie sei in der Geschichte eine junge Erscheinung und immer im Wandel gewesen, sodass auch die „Einführung einer Ehe für alle … in dieser Geschichte kein Bruch“ ist (333). Das Höchste, was von ihr gesagt werden kann, ist, dass sie „als Lebensform … eine öffentliche Gestalt der liebenden Gemeinschaft eines Paares“ darstellt, in der Treue wichtig ist (320). Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften und „Ehen für alle“ sollen als gleichwertig akzeptiert werden. Als Zugeständnis an konservativ-evangelikale Christen soll auf Infragestellung verzichtet werden, wenn homosexuell empfindende Menschen sich für Ehelosigkeit und sexuelle Enthaltsamkeit entscheiden (326). Scheidung und Wiederheirat erscheinen den Autoren kein Problem, obwohl sie sehen, dass Jesus sie ablehnte. Nicht mal als „Scheitern“ sollte die Scheidung einer Ehe angesehen werden:
„Für nicht wenige Menschen ist der Mut zur Trennung eine Leistung, derer sie sich in keiner Weise zu schämen haben“ (343).
Familien besitzen „soziologisch gesehen … eine Fülle von wichtigen Funktionen“, weswegen sie nicht nur als Orte der Unterdrückung und Unfreiheit gesehen werden sollten (345-346). Aus christlicher Sicht bleibt Familie „ein zentraler Bestandteil des menschlichen Lebens und bietet emotionale Stabilität und Unterstützung“ (357). Aber auch die Polyamorie wird gleichberechtigt unter die Lebensformen gezählt, wobei dabei ein Mensch zugleich mehrere Beziehungen führen kann, die jeweils mal romantisch, mal rein sexuell oder freundschaftlich sein können – oder eben auch jede Mischung davon. Das ist positiv zu sehen, denn sie „ermöglichen die Erfahrung von Vielfalt und Lebendigkeit und können gute Bedingungen für das Großziehen von Kindern bieten“ (372). Solange alles mit Ehrlichkeit und Einvernehmlichkeit gelebt wird, ist es „gut für die körperliche und seelische Gesundheit“. Das ist durchweg eine utilitaristische Argumentation: Was irgendwie nützlich bzw. lebensdienlich erscheint, das ist auch ethisch gut. Wirklich christlich ist das nicht.
Fazit
In dieser „christlichen“ Sexualethik findet der geneigte Leser Rechtfertigungen für fast jeden Umgang mit Sexualität. Ich setze „christlich“ in Anführungszeichen, weil hier einerseits ein bewusster Abschied von der kompletten christlichen Tradition vorliegt und nicht nur notwendige kritische Korrektur. Die wiederholte Betonung, man orientiere sich an der Bibel, meint eine selektive Auswahl biblischer Motive, soweit sie die vorgefasste Meinung zu bestätigen scheinen. Die Autoren sehen überhaupt kein Problem darin, sich die Sache im Zweifel hinzubiegen. Aber auch die historischen Exkurse sind durchweg tendenziös, beruhen oft nur auf einzelnen Quellen, die auch wieder sehr selektiv herangezogen werden. Dabei stellen sich die Autoren als selbstkritisch bescheidende Vermittler dar, während sie tatsächlich mit Vehemenz ihre Agenda durchpeitschen. In ihrer Kritik an einer christlichen Ethik, die den geschöpflichen Gegebenheiten eine Bedeutung beimessen will, sind die Autoren rigoros: alles Biologismus. Biblische Gebote und Ordnungen, die vom Schöpfer passend zu seiner Schöpfung in ihrem gefallenen Zustand gegeben wurde, haben für sie keine Relevanz. An keiner Stelle gelingt es ihnen, einen eigenen hilfreichen Akzent in herausfordernden ethischen Fragen zu setzen. Offensichtliche Entwicklungen, wie die erhebliche Zunahme psychischer Störungen bei jungen Menschen, die offenbar auch mit Orientierungslosigkeit in Fragen der Identität und Sexualität verbunden sind, werden in ihrer ethischen Dimension nicht wahrgenommen, geschweige denn findet sie auch nur der Versuch, eine christliche Antwort zu geben.
Nach evangelischem Verständnis ist biblisch-christliche Ethik Gesetz, also Gottes Weisung für den Menschen, auf der Grundlage des Evangeliums von der Vergebung und ewigen Erlösung durch Christus. Wegweisung oder Orientierung kann die transformative Ethik nirgendwo bieten, weil sie einfach nur kritiklos wiederholt, was jeder allerwärts hören kann. Bei all dem Ausrichten an den Transformationen haben die Autoren scheinbar nicht bemerkt, dass überall Menschen nach Orientierung fragen und Wegweisung suchen. Hier kann eine christliche Sexualethik Hilfe bieten, wenn sie Gottes Gedanken über die Geschlechtlichkeit entfaltet. Sie ist auch dann eine Ethik zum Selberdenken im Sinne des aktiven Nachdenkens der Gedanken Gottes. Was hier vorgelegt wurde, erscheint eher als eine Ethik des Nachplapperns des aktuellen sozialwissenschaftlichen Mainstreams.
(aktualisiert 8.4.2025)