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Ehe, Liebe und Sexualität in der Geschichte des Christentums

Ein Kirchenhistoriker schreibt Erhellendes zu den Ansichten über Ehe und Sexualität in der Geschichte des Christentums. Leider fehlen ihm oft biblische Maßstäbe, während er mit modernen Ansichten, Menschen früherer Zeiten beurteilen will.

  • Die meisten Vorurteile über die Ansichten des Christentums zur Sexualität sind falsch.
  • Leider unterscheidet Arnold Angenendt nicht klar, was biblisch ist und was nur gesellschaftliche und kulturelle Ansichten sind.
  • Trotz mancher Klischees kann man auch hilfreiche Entdeckungen machen. 

Es ist ein wenig enttäuschend, was der Historiker Arnold Angenendt mit seinem Buch über Ehe, Liebe und Sexualität vorlegt. Wer andere gründliche Werke von ihm kennt, reibt sich die Augen, während er sich durch eine nicht selten klischeehafte Darstellung müht, die in Teilen das Thema aus dem Auge verliert und oft weit entfernt von den Quellen ist, die doch dem Historiker als sein Arbeitsgebiet zu Gebote stehen müssten. Die Quellen mögen viel­leicht nicht immer genug zur Fra­gestellung her­geben und sind natürlich von der jeweiligen Zeit gefärbt. Wie stark aber Angenendts Denken sich von modernen Vorstellungen leiten lässt, merkt der Leser bereits am Anfang, wo er sich den Blickwinkel (Kapitel 1: Vorgegebenheiten; Kapitel 2: Sonderphänomen) teilweise von populären Darstellungen auf Magazinniveau vorgeben lässt.

Arnold Angenendt, Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum: Von den Anfängen bis heute, Aschendorff 2016. 324 Seiten. 19,90 €. ISBN-13: 978-3402131466.

Wenn Angenendt dann durch die antike Geschichte (Kapitel 3) geht, möchte er ein einheitliches Bild zeichnen und verhaspelt sich dabei in den eigenen Sätzen: „Undenkbar, daß die Frau in der Öffentlichkeit hätte auftreten können; keine Möglichkeit zur Gerichtsanrufung, kein Zutritt zu Theater­auf­füh­rungen, keine Teilnahme an Sport­veran­stal­tungen, jedenfalls nicht in Athen, wohl aber in Sparta.“ Alles verboten oder galt das doch nur regional? Im Übrigen kein Wort darüber, dass Gerichtsanrufung in Griechenland sowieso nur privi­legierten Per­so­nen­gruppen offenstand oder dass Sport per se eine reine Männerdomäne war, in der in Griechenland die männlichen Sportler nackt auftraten. Und dann fragt man sich, was das mit dem Christentum zu tun hatte, denn darum sollte es doch gehen. Wer nach den Quellen schaut, stellt fest, dass Angenendt selten die Originale angeschaut hat, sondern gern aus Sekundärliteratur zitiert, der man – soweit neueren Datums – anmerkt, dass sie z.T. von Genderideologie gefärbt ist.

Kann man die Sexualität der Christen im römischen Reich aus einer Mischung aus philosophischer Abhandlung, Liebesgedichten, erotischen Liedern und Toilettengrafitti verstehen?

Aristoteles‘ Einfluss auf das mittelalterliche Christentum wird zwar erwähnt, aber dann nur klischeehaft dargestellt. Will Angenendt wirklich behaupten, die neutestamentliche Weisung der Unterordnung der Frau und des Hauptseins des Mannes gehe auf Aristoteles zurück? Oder ist es doch das moderne „Ehekonzept der Freundschaft“, das von Aristoteles her „in die Moderne weiterwirken sollte“?

Wenn sich Angenendt der Situation im römischen Reich zu­wendet, dann fehlt jede Ge­wich­tung der Quellen, die wieder weitgehend aus der Sekundärliteratur zitiert werden. Sind eine philosophische Abhandlung, ein Theaterstück, ein Liebesgedicht, eine Grabinschrift, ein erotisches Lied und Toilettengraffiti wirklich gleichwertige Quellen, die einfach nebeneinanderstehen können? Das daraus entstehende Bild benennt Banalitäten neben Extremen und kann nicht anders als verwirrend sein. Wer die Sexualität in der heutigen deutschen Gesellschaft darstellen wollte, der kann als Hauptquellen auch nicht Pornofilme mit Abhandlungen der Gegenwartsphilosophie mischen. Statt die Antike als „enttäuschend“ oder „skandalös“ zu bezeichnen, wünschte man sich eine Einordnung in ein gesellschaftliches Gesamtbild.

Vermittelt das NT eine sexual- und frauenfeindliche Einstellung, während das AT Sexualität positiv darstellt?

Mit dem 4. Kapitel wendet sich Angenendt der Bibel zu. Der Gang durch das Alte Testament ist stark summarisch, aber weitgehend exegetisch angemessen, sieht man von einzelnen Stellen ab („homoerotisches“ Verhältnis zwischen David und Jonathan; „rabiate“ Reinheitsgebote?). Im NT sieht es ähnlich aus (familienfeindliche Neigungen bei Jesus?), nur wundert es, dass unvermittelt der griechische Philosoph Epiktet zu den neutestamentlichen Autoren gestellt ist. Wie es dann aber zu dem Resultat kommen kann, dass das AT im Ganzen eine positive Sexualität darstelle und das NT „eine schockierend sexual- und frauenfeindliche Ein­schätzung“ biete, ist wohl der seltsamen Auswahl von Gewährsleuten geschuldet (Herbert Haag; eine Radio­sendung auf HR2; Herbert Schnädelbach).

Ab Kapitel 5 geht Arnold Angenendt nun mit großen Schritten durch die Geschichte der Christenheit. Es kann fast nicht anders sein, als dass sich interessante Einzelbeobachtungen aneinanderreihen, die aber den Eindruck einer gewissen Willkürlichkeit der Aus­wahl selten verlieren. Kaum ein in den Zwischenüberschriften angegebenes Thema kann dabei wirklich einleuchtend und schon gar nicht umfassend dargestellt werden. So beschäftigt sich unter der Überschrift „Ehegerichts­barkeit“ die Hälfte des Textes mit der Beicht- und Bußpraxis. Unter „Sünden wider die Natur“ findet sich nur die Argumentation von Thomas von Aquino.

Die angebliche christliche Sexual­feindlich­keit und die Rechtlosigkeit von Frauen im Mittelalter sind unbegründete Mythen.

Hier und da zeigt sich ein interessanter Ansatz, wenn Angenendt versucht darzulegen, wie christliche Maßstäbe nach der Mission im Mittelalter anfingen, vorhandene gesellschaftliche Normen zu verändern, und wo und wie sie sich mit Regeln der Kulturen verbanden. Dies als Leitgedanken durch das ganze Buch zu ziehen, hätte dem Werk sicher gut getan. Im Teil, der das Mittelalter behandelt, was sein Forschungsgebiet ist, beweist Arnold Angenendt seine gute Quel­len­kenntnis. Dabei zeigt sich, dass – entgegen verbreiteter Vorurteile – man sich im Mittelalter sehr wohl und recht un­verkrampft mit Fragen rund um Ehe und Sexualität beschäftigt hat.

Die angebliche christliche Sexual­feindlichkeit, die allgemeine Rechtlosigkeit von Frauen und vieles andere erweist Angenendt als Mythen ohne Grundlage. Dafür steht ein Zitat von Albert Diem: „Jede durchschnittliche Highschool-Filmkömodie und jede Stunde MTV im Fernsehen enthalten in all ihrer postulierten Freizügigkeit mehr Unterdrückung, Angstmacherei, Körperfeindlichkeit, Normierung und Moralisierung von Sexualität als alle päpstlichen Enzykliken der letzten fünfhundert Jahre zusammen.“ Die drakonischen Strafen bei Ehebruch, Unzucht, Homosexualität oder Abtreibung z.B. wurden von den weltlichen Herrschern gefordert und durchgesetzt, während die kirchlichen Verlautbarungen meist für Barmherzigkeit und die Möglichkeit zu Buße und Vergebung plädierten.

Leider hat Angenendt nicht immer einen Blick dafür, wo biblisch und damit christlich im eigentlichen Sinn argumentiert wurde. Das führt ihn z.B. auch zu dem Missverständnis, dass Luther mit der Betonung der Sündhaftigkeit des Menschen von der Empfängnis an den Geschlechtsakt als besonders sündig angesehen habe. Luther hielt aber das Denken für ebenso sündig und den Menschen in allen seinen Regungen in seinem ganzen Dasein und zitiert nur, wie die Bibel das zum Ausdruck bringt.

Die angebliche moderne Freizügigkeit transportiert mehr Angstmacherei, Körperfeindlich­keit, zweifelhafte Normierung und Moralisierung von Sexualität als sämtliche päpstliche Schreiben der letzten 500 Jahre.

Auf dem Weg zur Neuzeit verliert Angenendt nicht nur wieder die Quellen aus dem Blick, sondern gelegentlich auch das eigentliche Thema. Was Rousseau aus christlicher Sicht zum Thema „Erziehung zur Ehe“ beizutragen hat, bleibt dunkel. Ebenso, wie August Bebels Buch „Die Frau und der Sozialismus“ über das christliche Frauenbild im 19. und 20. Jahr­hundert aufklären soll. Und was haben Kinseys methodisch zweifelhafte Sexualreporte zu bieten? Wie vehement die Aufklärung gegen die Masturbation vorging, kann erschrecken, aber was das mit dem Christentum zu tun hat, wird höchstens angedeutet. Dieser ethische Rigo­rismus scheint gar keine christlichen Wurzeln zu haben, hat aber die christliche Ethik beeinflusst. Wie schon in der Antike vermischt der Autor auch in der Neuzeit alles mit allem. Für die neueste Zeit kommen als „Gegenbild“ zur Darstellung der sexuellen Revo­lution und ihrer Folgen nur noch die römisch-katho­lischen Ver­laut­barungen zu Wort.

Es war vielmehr die Aufklärung als das Christentum, das mit erschreckenden Methoden gegen Masturbation vorging.

Leider zeigt die Interpretation der Quellen nicht immer die nüchterne Haltung des Historikers. Im Hintergrund wird immer wieder eine modern feministische Perspektive bestimmend: Die Frau ist unterdrückt und benachteiligt und muss wenigstens (aus heutiger Sicht) mehr Gleichberechtigung erlangen. Das muss sicher diskutiert werden, führt aber als Brille zu einer Verzerrung der Geschichte. Außerdem ist christlich nicht der Kampf um die Gleichberechtigung, sondern die Überwindung des Machtkampfs der Geschlechter in der Annahme des Auftrags und der Platzanweisung Gottes. Es würde wohl auch niemand auf die Idee kommen, mit der heutigen Straßenverkehrsordnung als Leitbild eine Weltgeschichte des Verkehrs zu schreiben. Das ist Angenendt offenbar durchaus bewusst („Nach heutiger Hermeneutik gilt als selbstverständlich, die Plausibilität der eigenen Gegenwart nicht auf frühere Zeiten zu übertragen.“), aber er kann sich nicht davon frei machen. Das Ganze schmälert dort den Wert des Buches, wo die christlichen Werte in eine Position der Rechtfertigung vor dem gegenwärtigen Zeitgeist gedrängt werden. Dass das gar nicht nötig oder sinnvoll ist, zeigt Angenendt in einer gewissen Ambivalenz an einigen Stellen selber.

Wer die Geschichte immer mit einer feministischen Brille von der immer unterdrückten Frau, die nach Gleichberech­tigung strebt, liest, wird ein verzerrtes Bild sehen.

Spannend zu lesen und informativ ist das Buch überall da, wo es Angenendt gelingt, seine Quellenkenntnisse aus dem Mittelalter ins Spiel zu bringen, er sich von modernen Klischees löst und insbesondere die Wechselwirkungen von christlichen Maßstäben mit kulturellen Moral­vorstel­lungen darstellt. Wo er nur Sekundärliteratur zitiert, erscheint sein Urteil oft von dieser abhängig und mal klischeebelastet, mal widersprüchlich. Immerhin können die vielen Themen und Fragestellungen, die auf 340 Seiten angerissen werden, dazu anregen, der einen oder anderen Frage intensiver nachzugehen. Ein reichhaltiges Quellen- und Literaturver­zeich­nis helfen dabei. Am Ende hinterfragt Angenendt selbst­kritisch, wie die modernen Ideale wohl aus der Sicht späterer Erkenntnisse erscheinen wer­den. Allerdings sucht er dann nicht das feste Fundament biblisch-christlicher Maßstäbe, sondern bleibt auf dem schwankenden Boden sich wandelnder Erkenntnisse.