ThemenZeitgeist und Bibel

Gibt es ein „Recht auf Verletztsein“? – Teil 2

Empfindlichkeit ist auch unter Christen weit verbreitet. Und wem Böses angetan wurde, der nimmt sich oft für lange Zeit das Recht auf Verletzt- und Beleidigtsein. Im ersten Teil der biblischen Betrachtung wurde herausgestellt, dass es eine solche Haltung in der Bibel nicht gibt und sie für Christen deswegen auch kein sinnvoller Umgang mit dem eigenen Verletztsein werden darf.

Der zweite Teil betrachtet jetzt die Kritikfähigkeit und rechte Ermahnung, wie sie nach der Bibel verstanden und ausgeübt werden soll.

Teil 1 Gibt es ein „Recht auf Verletztsein“? Teil 1

Diese Betrachtung kann nicht an einer sachlichen Erörterung der Fragen vorbeigehen: „Was ist Kritik?“ und „Was sagt die Bibel zur Kritikfähigkeit?“ Dies betrifft sowohl die Kritikkompetenz dessen, der kritisiert (aktive Kritikfähigkeit), als auch dessen, der kritisiert wird (passive Kritikfähigkeit).

Was ist Kritik?

Grundsätzlich ist „Kritik“ als Begriff neutral besetzt und nicht negativ, wie landläufig angenommen wird. Kritik bedeutet einfach die Beurteilung eines Gegenstandes, eines Zustandes oder einer Handlung anhand eines bestimmten Maßstabes.

Die Fähigkeit der Beurteilung ist eine der wichtigsten menschlichen Fähigkeiten, sie ist eine Grundfunktion der denkenden Vernunft. Der Begriff „Kritik“ geht auf das griechische kritike zurück, abgeleitet von krino (krinein), [unter-]scheiden, trennen. Wir verwenden den Begriff auch im Kulturbereich; eine Filmkritik etwa ist eine journalistische Darstellungsform differenzieller Besprechung eines Films und kann somit „positive“ (lobende und anerkennende) wie „negative“ (missbilligende) Beurteilungselemente aufweisen.

Auch bei einer Kritik mit „negativer“ Konnotation ist zu unterscheiden bzw. abzugrenzen1:

1. Schmähkritik und ein Verriss zielen nicht auf eine Verbes­serung des kritisierten Gegenstandes ab, sondern auf seine Ver­ächt­­lichmachung und Ver­nich­tung.

2. Tadel und Schel­­te wiederum sind missbilligende Be­ur­­­teilungen, die als Erziehungsmittel ein­ge­setzt werden. Ent­scheidend ist, ob sie auf Ver­besserung abzielen, dann gelten sie als „konstruktiv“.

3. Rüge ist eine missbilligende Beur­­teilung, z.B. im Beamtenrecht.

4. Krittelei ist anhaltendes und klein­­liches Kritisieren mit Tendenz zum Nör­geln und sich Beklagen.

Das Normensystem zur Beurteilung eines Gegenstandes der historisch-christlichen Tradition bildet die als Wort Gottes verstandene Bibel alten und neuen Testaments.

Wer ist „kritikfähig“? Die Psychologie der Kritikkompetenz

Kritikkompetenz hat zwei Seiten: einerseits die Fähigkeit, Menschen positiv oder negativ im Sinne der Person und der Sache zu kritisieren (aktive Kritikkompetenz), und andererseits die Fähigkeit, Kritik im Sinne der Person und der Sache für sich selbst zu akzeptieren (passive Kritikkompetenz).

a) Aktiv kritikkompetente Personen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Konfliktfähigkeit im Rahmen optimaler Konfliktbereitschaft aus (im Gegensatz zum konfliktscheuen Kritiker), neben der Fähigkeit, sich in eine andere Person hinein­zuversetzen und die Welt aus deren Blickwinkel zu betrachten (man nennt das auch „Perspektivenübernahme“2).

Der Kritiktyp des autoritären Kritikers zeichnet sich zwar auch durch eine hohe Konfliktfähigkeit, dagegen aber durch eine eher schwache Pers­pektiven­über­nahme und geringere Empathie aus.

„Die Einstellung dieses Typus gegenüber Kritik kann infolgedessen als deutlich autoritär bezeichnet werden, so wie auch die Möglichkeiten, mit ihm zu einer sinnvollen Kooperation zu gelangen. Bei einer ausgeprägten Stärke seines Selbstwert­gefühls besteht für ihn die Möglichkeit, unabhängig von der Beurteilung anderer zu handeln. Oftmals bildet autoritärer Kritikstil einen Mangel an sozialer Kompetenz ab. Dieser Mangel wird von solchen Personen mit einem kritischen Machtgebaren kompensiert.“3

b) Bei der passiven Kritikkompetenz ist zwischen dem „kompetenten Kri­tik­nehmer“, dem „konfliktären Kritik­nehmer“, dem „kooperativen Kri­tik­neh­mer“ und dem „unabhängigen Kritik­neh­mer“ zu unterscheiden. Im Zu­sam­menhang mit dem hier behandelten Thema genügt es, sich auf die beiden ersten Typen zu beschränken.

„Der kompetente Kritiknehmer ist in der Lage, an ihn geäußerte Kritik konstruktiv zu verarbeiten. Da er den kreativen Konflikt nicht scheut, setzt er sich mit Kritik so auseinander, dass er einerseits die Kritik aus einer anderen Perspektive heraus akzeptiert, sich selbst also in Frage stellen kann, um gegebenenfalls das eigene Verhalten neu anzupassen und zu verbessern. Der kompetente Kritiknehmer prüft also Kritik anderer und erkennt gegebenenfalls seine eigenen Mängel in ihr wieder, um diese dann aufzuarbeiten. Zugleich legt er gegenüber der Kritik anderer Ernsthaftigkeit an den Tag. Er ist außerdem in der Lage, problematische Spannungen mit humorvoller Einstellung zu beantworten und so zu entschärfen. Andererseits ist dieser Typ nicht so eingestellt, dass er mit humorvoller Attitüde produktive kritische Situationen nivelliert. Der kompetente Kritiknehmer reflektiert seine kritischen Seiten und erkennt, dass Kritik zur Entwicklung seiner persönlichen Fähigkeiten beitragen kann.“4

In mehr oder weniger krassem Gegen­­satz dazu steht der „konfliktäre Kritik­nehmer“, dessen Bereitschaft zur eigenen Veränderung und zur Akzeptanz und seine Fähigkeit zum Humor bzw. zur Selbstironie ebenfalls nur gering oder nur sehr selektiv entwickelt sind.

Der konfliktäre Kritiknehmer fühlt sich immer angegriffen und reagiert eher rechthaberisch.

„Dieser Typ des konfliktären Kritikneh­mers fasst Kritik eher als Bevormundung auf und ist nicht bereit, sich produktiv nach der Kritik Dritter zu richten. Kritisiert man ihn, ist der Konflikt mit ihm fast zwangsläufig. Die Klärung eines solchen Konfliktes wirft gleichfalls Probleme auf, da dieser Kritiktyp mit seiner gering ausgeprägten Kooperations­bereitschaft sich angegriffen fühlt und eher rechthaberisch reagiert.“5

Kritik und Ermahnung in der Bibel

Wir haben erwähnt, dass „Kritik“ auf den griechischen Begriff „kritikos“ zurückgeht. Dieser kommt zwar im Neuen Testament nur einmal vor (Heb 4,12, siehe unten). Allerdings finden wir häufig den Begriff „krites“: der Richter, der über Gut und Böse entscheidet bzw. zwischen Recht und Unrecht unterscheidet und daraufhin sein Urteil spricht. Neben Menschen, die dieses Amt ausführen, ist Gott der höchste Richter; im Neuen Testament wird Christus als dieser göttliche Richter geoffenbart (Apg 10,42; 2Tim 4,8; Jak 5,9).

Einzigartig im Neuen Testament findet sich das Adjektiv „kritikos“, das, wie erwähnt, die Verwandtschaft zu „krino“ (urteilen) anzeigt und in Heb 4,12-13 auf das Wort Gottes bezogen ist: Die Heilige Schrift ist der Maßstab des Urteils und der Unterscheidung bis in das Innerste des Menschen:

„Lebendig ist das Wort Gottes und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und es fährt durch bis zur Teilung der Seele und auch des Geistes6, der Gelenke und auch des Markes, und urteilt* über Erwägungen und Vorstellungen7 des Herzens. Und es ist kein Geschöpf unsichtbar vor ihm: Es ist alles bloß und aufgedeckt für seine Augen; ihm [schulden] wir Rechenschaft8.“

[*Andere übersetzen: „und ist ein Richter über die Regungen (oder Gesinnungen) und Gedanken des Herzens“ (Menge); ELB: „ein Urteilsfähiger“; ELO: „ein Beurteiler“.]

Indem hier „Wort“ für griech. logos steht, bedeutet dies einen Anklang an Gott selbst. So gesehen ist er es, vor dem wir aufgedeckt sind9 und der über Herz und Sinne urteilt.

Auch das über hundert Mal im Neuen Testament gebrauchte Wort für „urteilen“, „krino“ (vgl. auch „anakrino10 und „diakrino11) belegt die grundsätzliche Neutralität des Begriffs, von dem unser Wort „Kritik“ hergeleitet wird12. Dazu greifen wir exemplarisch zwei Zitate heraus. Die Purpurhändlerin Lydia bat Paulus und seine Begleiter:

„Wenn ihr geurteilt habt, dass ich dem Herrn treu sei, kommt herein in mein Haus und bleibt.“ (Apg 16,15)

„Paulus hatte entschieden, an Ephesus vorbeizufahren, damit er nicht in Asien Zeit verbringen müsste.“ (Apg 20,16)

Um Missverständnissen vorzubeugen: Zwischen „urteilen“ (griech. krino) und „verurteilen“ (griech. katakrino13) ist grundsätzlich zu unterscheiden. „Verurteilen“ meint ein endgültiges Verdammungsurteil, das nur Gott zusteht bzw. nur auf Basis des Sinai-Gesetzes ausgesprochen werden durfte (etwa die Todesstrafe bei Gräuelsünden wie Zauberei und Verführung zum Abfall).

Wir sind als urteilsfähige Menschen täglich herausgefordert, Entscheidungen zu treffen und Beurteilungen vorzunehmen.

Schlussfolgernd kann konstatiert werden: Wir sind als urteilsfähige Menschen tagtäglich herausgefordert, Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen, vor allem für uns selber, aber auch in allen unseren Verantwortlichkeiten für Menschen und Situationen in unserem Umfeld. Entscheidend ist, dass unsere Beurteilungen und Entscheidungen dem Maßstab des Wortes Gottes unterliegen und dass sie gerecht und unparteiisch getroffen werden, ohne Menschenrücksichten, ohne Vorurteile und ohne Gunst (Zuneigung).

Es ist ein Gebot seit alters, gemäß dem zwischen Israeliten und Fremdlingen vor dem Richter kein Unterschied gemacht werden durfte. Davon war abhängig, ob Israel das Land behalten dürfte. Mose erinnerte eindringlich vor der Landnahme in den Gefilden Moabs an das am Sinai gelehrte zwölffache Gerechtigkeitsgebot (siehe 2Mo 22,1-9):

„Zu gleicher Zeit gab ich euren Richtern folgende Anweisung: ›Wenn ihr eure Volksgenossen bei Streitsachen verhört, so entscheidet mit Gerechtigkeit, mag jemand mit einem von seinen Volksgenossen oder mit einem bei ihm wohnenden Fremdling einen Streit haben! Ihr dürft beim Rechtsprechen die Person nicht ansehen: den Niedrigsten müsst ihr ebenso wie den Vornehmsten anhören und euch vor niemand scheuen; denn das Gericht ist Gottes Sache.14“ (5Mo 1,16-1715)

„Richter und Obmänner (vgl. 1,15) sollst du dir in allen deinen Ortschaften, die der HERR, dein Gott, dir in jedem deiner Stämme gibt, einsetzen, damit sie dem Volke mit Gerechtigkeit Recht sprechen. Du darfst das Recht nicht beugen, darfst die Person nicht ansehen und Geschenke (= Bestechung) nicht annehmen; denn Geschenke machen die Augen der Weisesten blind und bringen die Sache derer, die im Recht sind, zu Fall. Der Gerechtigkeit allein sollst du die Ehre geben, damit du am Leben bleibst und das Land im Besitz behältst, das der HERR, dein Gott, dir geben wird.“ (5Mo 16,18-20)

Die Warnung davor, „die Person anzusehen“ und parteiisch zu urteilen, wird auch in den Sprüchen Salomos ausgesprochen16 und von Jakobus zitiert, der sich explizit auf Moses Gesetz beruft17.

So beschwört18 Paulus seinen jungen Apostel­schüler Timotheus mit allem Ernst, seine „Anweisungen ohne Vorurteil zu bewahren und einzuhalten und nichts aus Zuneigung zu tun“.

Damit ist umfassend belegt, dass es bei „Kritik“ im eigentlichen Sinn des Wortes als „Urteil“ und „Entscheidung“ erstens um eine alltägliche Notwendigkeit im Leben eines jeden vernünftigen und verantwortlichen Menschen geht und zweitens diese „Kritik“ gerecht und unparteiisch zu sein hat und dem Maßstab des Wortes Gottes genügen muss. Nicht nur der Sohn Gottes in seinen irdischen Tagen forderte dies von seinen Zeitgenossen:

„Richtet nicht nach Augenschein, sondern richtet das gerechte Urteil.“ (Joh 7,24),

Auch seine Apostel wurden nicht müde, dazu aufzufordern und an das Kritik­vermögen zu appellieren:

„Aber Petrus und Johannes antworteten und sagten zu ihnen: „Entscheidet19 ihr ‹selbst›, ob es in den Augen Gottes recht sei, auf euch eher zu hören als auf Gott.“ (Apg 4,19)

„Ich spreche als zu Verständigen. Beurteilt ihr, was ich sage.“ (1Kor 10,15)

„Urteilt bei euch selbst […]“ (1Kor 11,13)

Dass „Urteilen“ mit Verstand und Einsicht eines Erwachsenen einhergeht, macht Paulus in 1Kor 14,20 mit einem anderen Begriff deutlich:

„Brüder, werdet nicht Kinder am Verstand20, sondern an Bosheit seid Kleinkinder. Am Verstand werdet aber Reife.“ (1Kor 14,20)

Die Reife an Einsicht und Urteilskraft – neben der demütigen, dienenden Gesinnung – ist auch die unbedingte Voraussetzung für den Dienst der Ermahnung in der Gemeinde.

Welche Begriffe gebraucht das Neue Testament, wenn es uns über das Ermahnen lehrt?

  • Noutheteo – einerseits als unterweisendes und belehrendes Ermahnen (z.B. Apg 20,31; Kol 1,28), Warnung und Zurechtweisung von Unordentlichen (1Thess 5,14; 2Thess 3,15) und andererseits als „väterliche“ Ermahnung „geliebter Kinder“ in Christus (1Kor 4,14). In diesem Sinne wird den Gläubigen sogar ausdrücklich geboten, einander zu lehren, zu ermahnen und zurechtzuweisen (Röm 15,14: „dass auch ihr selbst voller Gütigkeit seid, erfüllt mit allerlei Kenntnis, auch imstande, einander zu ermahnen“; Kol 3,16: „indem ihr euch ‹untereinander› in aller Weisheit lehrt und mahnt“).
  • Parakaleo ist der häufigste Ausdruck für ermahnen. Seine Betonung liegt auf ermuntern, zusprechen, trösten, Zuspruch erteilen in der Lehre (Tit 1,9); das Bedeutungsspektrum kann auch gut zureden, freundlich zusprechen und gute Worte geben umfassen (Lk 15,28; 1Kor 4,13; 1Thess 2,12).
  • Paideuo spricht von zurechtweisen im Sinne von unterweisen (die Gnade Gottes erzieht uns: Tit 2,12), zurechtleiten, anleiten (vgl. Apg 7,22), kann aber auch züchtigen im Sinne einer strafenden Erziehung meinen (Offb 3,19; Hbr12,10b; 1Kor 11,32; 2Kor 6,9; 1Tim 1,20; in Lk 23,16.22 sogar – euphemistisch – für geißeln).
  • Elegcho ist wohl die schärfste Form von zurechtweisen: ans Licht stellen, an den Tag bringen, jemand einer Sünde überführen, unter vier Augen zur Rede stellen (Matth 18,15), etwas nachweisen, tadeln; gesteigert: strafen, strafend heimsuchen (Offb 3,19; Hbr 12,5). Tit 1,9: „in der gesunden Lehre aufrufen ‹und Zuspruch geben› [parakaleo] und auch die Wider­spre­chen­den zurechtweisen [elegcho]“. Gemeinde­leiter, die vor Zeugen der Sünde überführt worden sind, „weise zurecht [elegcho] vor allen, damit sich auch die anderen fürchten.“ (1Tim 5,20).
  • Chrematizo wird meist mit „warnen“ wiedergegeben. Es handelt von der Er­tei­lung einer göttlichen Weisung, einer warnenden Weissagung (Apg 10,22; Hbr 8,5; 11,7; 12,25).
  • Paraineo kommt nur an zwei Stellen vor: in Apg 27,9.22 ist es als ratschlagendes Ermahnen, als Anweisung zu verstehen.
  • Protrepomai in Apg 18,27 ist ein ermutigendes Ermahnen: antreiben, ermuntern, auffordern, veranlassen.

Geistlicher Missbrauch und Verletztsein

Bei „geistlichem“ Missbrauch handelt es sich um den Missbrauch geistlicher Macht.

„Geistlicher Missbrauch“ kann zwar niemals geistlich sein, sondern ist immer fleischlich. Aber wenn es sich um Miss­brauch in geistlichen Dingen handelt, wollen wir diese paradoxe Wortkombination beibehalten. Dabei ist im Auge zu behalten, dass Missbrauch zugleich Macht­missbrauch bedeutet: Dort, wo jemand die Möglichkeit hat, Geistliches für seinen Vorteil zu nutzen, sei es im Geheimen oder ganz offen und ungeniert, handelt es sich um Machtmissbrauch – um Missbrauch geistlicher Macht.

Dabei soll es hier nicht um Macht­miss­brauch heidnischer Reli­gio­nen gehen, wie etwa islamistischen Machtbestrebungen unter Berufung auf den Koran oder die Etablierung der buddhistischen Staatsreligion in Tibet unter versuchter Ausrottung der alten Bön-Religion, auch nicht um den in der Mensch­heits­geschichte einzigartigen Macht­miss­brauch der römisch-katholischen Staats- und Weltkirche. Vielmehr bieten bereits die biblische Frühgeschichte und die Geschichte des alten Israel anschauliche warnende Beispiele von missbrauchter Macht gegen Gottes Absichten.

Es begann schon bei Adam und Eva: Sie verfügten über die Macht, wenn auch nicht die Erlaubnis, von dem verbotenen „Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen“ zu essen. Aber sie missbrauchten ihre Macht, übertraten das Verbot und nahmen davon in der Erwartung eines geistlichen Machtzuwachses, nämlich „so zu sein wie Gott“.

Ähnlich ging es weiter. Weil Gott Kain und dessen Opfergabe – im Gegensatz zu Abels – „nicht ansah“, „geriet Kain in heftige Erregung, sodass sich sein Angesicht finster senkte“ (1Mo 4). Obwohl er wusste, was der Grund gewesen war (V. 7), brachte er seinen jüngeren – und wohl schwächeren – Bruder dazu, mit ihm auf das Feld zu gehen, und erschlug ihn dort aus Zorn und Neid.

Wir denken weiter an Esau, wie er auf Jakob wütend wurde und ihn zu töten trachtete, als er des Verlusts seines Erstgeburtssegens (1Mose 27) gewahr wurde.

Habgier nach Macht, Eifersucht auf geistlichen Besitz anderer und Rachsucht infolge Verletztheiten ziehen sich unheilvoll durch die gesamte Menschheits-, Heils- und Kirchengeschichte und führen stets zu Missgunst, Rivalität, Spaltungen, Rufmord, Raub und Totschlag – bis heute, auch in „frommen“ Kreisen, wie noch gezeigt werden soll.

David, obwohl ursprünglich ein „Mann nach dem Herzen Gottes“, nutzte einmal seine von Gott gegebene Macht als absolut herrschender König Israels und missbrauchte die Frau seines Nächsten. Dieses Verbrechen gebar die Folgesünde, indem er seine Macht ausnützte, den einzig möglichen Zeugen gegen sich, eben diesen seinen Nächsten, „aus der Welt zu schaffen“.

Wir überspringen den Großteil der Geschichte des alten Israel und gelangen in die Zeit von Johannes dem Täufer, dem Vorläufer des Messias. Er wurde ein Opfer des edomitisch-judaisierten Königs Herodes Antipas, den er auf Basis der Torah21 öffentlich getadelt hatte, weil dieser Herodias, die Frau seines Bruders Philippus, geheiratet und dafür seine erste Frau verstoßen hatte22. Wir bemerken: „Kritik“ an einem Führer, der sich für von Gott eingesetzt hält, kann sich tödlich auswirken (Mt 14,3-10).

Als der religiösen („geistlichen“) Elite Jerusalems, dem Hohen Rat, klar wurde, dass „dieser Jesus“ ihre Geistlichkeit in Frage stellte und ihre autoritäre und unterdrückerische Führerpraxis „kritisierte“, betrachteten sie ihn als ihren Rivalen (statt als ihren Meister), reagierten stolz, verletzt und eifersüchtig und suchten, ihn zu töten (Joh 7,1; 11,47-48).

Dieses Muster an geistlichem Missbrauch aus Machtgier, Stolz und Eifersucht setzte sich auch in der frühen Gemeinde des neuen Bundes fort. Während der Erweckung in Samaria blickte Simon, der sich als „ein Großer“ dünkte, scheel auf die geistlichen Gaben der Apostel und wollte sie für sich um Geld erwerben (Apg 8,9-24): „Gebt auch mir diese Macht!“23

Das klassische Beispiel der Apostelzeit jedoch ist ein Mann namens Diotrephes.

Obwohl im 3. Johannesbrief nur kurz erwähnt (Vers 9-10), ist folgender Tatbestand dokumentiert: Es handelte sich offenbar um einen der Gemeindeleiter innerhalb eines Leitungskollektivs (im Neuen Testament „Älteste“ genannt24), an dem Johannes kritisierte, dass er „gerne der Erste von ihnen sein will“. Weil Diotrephes offenbar genau wusste, dass dieser „Vor­herr­schaftsanspruch“ gegen das kollektive Leitungsprinzip nicht nur des Zwölfstämmevolkes und des Judentums, sondern auch der Lehre Jesu und der apostolischen Ge­meinde­grün­dungs­praxis verstieß, deshalb „nahm er Johannes und sein Apostelteam nicht an“, sondern bediente sich dazu auch noch des Mittels der Verleumdung und der gewaltsamen Spaltung:

„Mit bösen Worten schwatzt er ‹gegen› uns, und damit begnügt er sich nicht; er selbst nimmt die Brüder nicht an, und zudem hindert er die [daran], die es wollen, und er stößt sie aus der Gemeinde.“

Was H. Jantzen/Th. Jettel hier korrekt, aber scheinbar verharmlosend, mit „schwatzen“ übersetzen, bedeutet nach W. Bauer im Grundtext (phlyareo): „unbegründetes Zeug schwatzen, unberechtigte Anklagen vorbringen“. Statt sie aus der Gemeinde auszustoßen, um fortan für sich allein freie Hand zu gewinnen, war gemäß Johannes die Gemeinde um Gaius (dem er treues Handeln attestierte, V. 5) schuldig, „die Brüder und Gäste“, die „für den Namen [des Herrn] auszogen“, „aufzunehmen“ und „sie in einer Weise, die Gottes würdig ist, fürsorglich abzufertigen“ (V. 6; oder: „für die Weiterreise auszurüsten“).

Gefahren einer Solo-Leitung

An dieser Stelle sei angemerkt, dass es nicht von ungefähr kommt, dass ein „Ein-Mann-Leitungssystem“ den Absichten Gottes widerspricht. Abgesehen davon, dass in der Regel eine Person alleine nicht alle unterschiedlichen Leitungs­begabungen besitzen kann (sie sind nämlich durch den Geist Gottes der Gesamt­gemeinde gegeben25) und es daher sowohl der Beratung durch andere als auch der gegenseitigen Kontrolle und brüderlichen Korrektur bedarf (siehe auch Spr 12,15; 15,22; 20,18; 24,6), birgt eine monarchische Führungsstruktur einer örtlichen Gemeinde, in der eine einzige Person die dominierende Autorität beansprucht, erfahrungsgemäß Gefahren, die sich in der Geschichte immer wieder auf fatale Weise bestätigt haben.

Es besteht immer die Gefahr, dass sich im Denken und Handeln geistlicher Leiter Absolutheit, Selbstherr­lichkeit und Unbelehr­barkeit ein­schleichen.

Selbst wenn der Leiter ein anfangs am Wort Gottes orientierter und „ordinierter“26, hingegebener, begabter, gut ausgebildeter Nachfolger Christi und treuer Hirte der Gemeinde ist, kann eine langjährige Vorrangstellung gegenüber allen anderen Gemeindegliedern eine subtile Veränderung seines Selbstverständnisses und seines Führungsanspruchs bewirken. Die Gefahr besteht (und ist oft zu beobachten), dass sich in seinem Denken und Handeln Absolutheit, Selbstherrlichkeit und Unbelehr­barkeit einschleichen. Dazu kommt, dass nachwachsende junge, begabte Brüder zwar gefördert werden mögen, aber nicht so weit, dass sie jemals auf Augenhöhe mit dem Gemeindeleiter herankommen könnten.

Die Gefahr besteht weiter, dass der Gemeinde­leiter argwöhnisch wird und jegliche „Kritik“ als Infragestellung oder gar als Angriff auf seine Person und Stellung miss­interpretiert. Zunehmend versteht er die Gemeinde als „seine“ Gemeinde und sich selbst  als das ihr Haupt, dem sich alle anderen unterzuordnen hätten. Das geschieht oft auch dann, wenn fleischliche Verhaltens­weisen eine Ermahnung von Mitbrüdern erforderten. Manchmal werden zum Schutz der eigenen Macht sogar eigengesetzliche, über das Wort Gottes hinausgehende oder abweichende Regeln etabliert27. Dann kann eine Gemeindestruktur und die Position der „ordinierten“ Person zu einem juristischen Korsett werden, durch das die souveräne Wirkung des Geistes Gottes unterdrückt oder gar bekämpft wird (etwa durch Mobbing oder Ausschluss).

Damit ist der Irrweg geistlichen Missbrauchs und der autoritären Ausübung „frommer“ Gewalt gleichsam vorgezeichnet. Darüber hinaus geht es bei vollzeitig tätigen Führungspersonen im kirchlichen und freikirchlichen Raum oft um den Zwang zum Erhalt der eigenen Arbeitsstelle oder womöglich der weiteren Unterstützung durch Missions­gesellschaften.

Um diese Analyse abzukürzen, sei auf mehrere Bücher zum Thema hingewiesen28. Es finden sich auch gute Beiträge im Internet29, unter anderem die treffende Auflistung von „10 Merkmalen“30 von geistlichem Missbrauch. Ergänzend sei angemerkt, dass diese Merkmale nicht nur auf eine ortsgemeindliche Ein-Personen-Leitung, sondern ebenso auf ein autoritäres Führungskollektiv zutreffen können.

Lehrreiche biblische Beispiele: Dabei ist schon im Alten Testament eine Reihe von warnenden Beispielen zu finden. Da das Königtum in Israel absolutistisch-monarchisch angelegt war (was Gottes ursprünglichem Plan entgegenstand, weil nur er selber diese Herrschaft auszuüben gedachte31), bestand die latente Gefahr von Selbst­über­hebung und geist­lichem Macht­miss­brauch der Herrscher naturgemäß verstärkt. Vier Beispiele seien herausgegriffen.

1. Saul, ein Sohn des Benjaminiters Kisch, zwar von Gott erwählt und von Samuel zum König über Israel gesalbt, entwickelte sich vom eher schüchternen (1Sam 10,32) Bauernsohn zum eifersüchtigen Despoten, als er bemerkte, dass ihm in David, dem Sohn Isais, ein „Rivale“ erstanden war, und suchte ihn zu töten.

2. Die wachsende Macht des Allein­herr­schertums hatte auch den anfangs so gesegneten, mit göttlicher Weisheit ausgestatteten Salomo korrumpiert. Er regierte über die nichtjudäischen Stämme Israels mit äußerster Härte, stellte sich um seiner heidnischen Ehefrauen willen über das Gebot, JHWH-Gott allein zu dienen und verfolgte die drei Widersacher, die ihm Gott daraufhin erstehen ließ, statt sie als Warnung und Kritik Gottes zu begreifen und dementsprechend demütige Konsequenzen zu ziehen (1Kön 11).

3. Ahab, König über die nördlichen zehn Stämme Israels, wurde „missmutig und wütend“, nachdem ihn ein Prophet wegen Un­gehorsams gegen Gottes Auftrag getadelt hatte (1Kön 20,42f), statt sich zu demütigen. In diesem Gemütszustand ging er hin und ver­suchte Nabot, den Besitzer des Weinbergs neben seinem Palast, zum Verkauf zu überreden, um sich daraus einen Gemü­segarten zu pflanzen, weil dieser nahe bei seinem Haus lag. Aber Nabot war nicht bereit, das Erbe seiner Väter herzuge­ben. Daraufhin wurde Ahab neuerlich „missmutig und wütend“, legte sich zu Hause trotzig auf sein Bett, wandte sein Ge­sicht ab und aß nichts, so steht es wörtlich geschrieben. Dies weckte den tödlichen Ehrgeiz seiner skrupellosen, heidni­schen Ehefrau Isebel, die falsche Zeugen gegen Nabot aufbot, sodass dieser wegen Blasphemie und Majestätsbeleidigung zu Tode gesteinigt wurde. Als Ahab – nunmehr wohl in besserer Laune – heimlich hinabging, um nun Nabots Weinberg widerrechtlich in Besitz zu nehmen, trat ihm der Prophet Elia mit Gottes Strafurteil über dieses doppelte Verbrechen entgegen. Statt sich zu demütigen (wie ehemals David durch Nathans Gerichtswort), reagierte Ahab trotzig (1Kön 21,20): „Hast du mich gefunden, mein Feind?“

Wer ein Wort des Tadels und die Zurechtweisung nicht als Chance zur Selbstprüfung und Umkehr begreifen kann, der macht aus seinen Ermahnern schnell „Feinde“, die ihm Böses wollen.

Wir lernen: Wer ein Wort des Tadels und der Zurecht­weisung nicht als Chance zur Selbstprüfung und Umkehr begreift, der unterstellt dem Überbringer der Zurechtweisung feindselige Motive, sieht in ihm „seinen Feind“ statt einen Fingerzeig Gottes und bringt ihm Hass und Ablehnung entgegen.

Auch als Ahab später gegen die Aramäer einen Krieg anzetteln wollte, um ihnen die Grenzstadt Ramot für sich zu entreißen, offenbarte sich sein Hass gegen Prophetenworte, die seinen Absichten entgegenstanden. Nur widerwillig ließ er Micha befragen, nachdem vierhundert (falsche) Propheten ihm zum Krieg geraten hatten („Führe Israel zum Sieg!“). Ahab machte aus seinem Herzen keine Mördergrube, als er seinem Bünd­nis­partner, der diesen letzten Propheten (Micha) noch hören wollte, bekannte:

„Ich hasse ihn, denn er weissagt nichts Gutes über mich, sondern nur Böses.“

Aber Micha war der Einzige, der ihm die Wahrheit und die bevorstehende Katas­trophe weissagte, die bald darauf auch eintrat (1Kön 22). Gegen Ende der politischen Existenz Israels, des Zehn-Stämme-Königtums, musste auch Amos feststellen (5,10):

„Sie hassen den, der im Tor Recht spricht, und den, der unsträflich redet, verabscheuen sie.“ (Oder: „Sie hassen im Tor den, der sie zurechtweist“).

4. Sogar von dem gottesfürchtigen und politisch höchst erfolgreichen König von Juda, Usija, wird berichtet:

„Als er mächtig geworden war, wurde sein Herz hochmütig, bis er verderblich handelte.“ (2Chr 26,16)

Er verstieg sich zu der Irrmeinung, er ­könne nun auch das aaronitische Priester­amt, das einem Daviden von Gott verwehrt geblieben war32, für sich in Anspruch nehmen, und „drang in den Tempel des HERRN ein, um auf dem Räucheraltar zu räuchern“. Als er daraufhin von den Söhnen Aarons der Treulosigkeit bezichtigt und von ihnen aufgefordert worden war, aus dem Heiligtum hinauszugehen, heißt es:

„Aber Usija wurde wütend. […] Und als er über die Priester wütend wurde, brach der Aussatz aus an seiner Stirn, angesichts der Priester im Haus des HERRN neben dem Räucheraltar.“

So musste er die letzten zehn Jahre als Aussätziger, von seinen Amtsgeschäften „befreit“, den Rest seines Lebens in einer geschlossenen Anstalt fristen, während sein Sohn Jotam an seiner Stelle über sein Haus gesetzt wurde.

Wie hat doch Jesus, der Meister, seine Lehrlinge ganz anders über „Rang­ord­nungen“ gelehrt?!

Jesus rief sie heran, und er sagt zu ihnen: „Ihr wisst, dass die, die als Erstrangige der Völker gelten, sie beherrschen und die große Autorität über sie ausüben33. Unter euch wird34 es aber nicht so sein, sondern wer irgend unter euch groß zu werden wünscht, wird Diener von euch sein, und wer irgend von euch Erster zu werden wünscht, wird leibeigener Knecht35 von allen sein. denn auch der Sohn des Menschen kam nicht, bedient zu werden, sondern zu dienen und seine Seele36 zu geben als Lösegeld für viele.“ (Mk 10,42-45)

Und im Matthäusevangelium (5,6-8):

„Sie (die Schriftgelehrten und Pharisäer) haben bei den Gastmählern den ersten Platz gern und in den Synagogen die ersten Sitze und die Begrüßungen auf den Märkten und [haben es gern], von den Menschen ‚Rabbi, Rabbi’ genannt zu werden. Ihr aber, lasst ihr euch nicht ‚Rabbi’ nennen, denn einer ist euer Führer: der Gesalbte. Ihr alle aber seid Brüder.“

Fazit und Schlusswort

Wir stellen uns nun der eingangs gestellten Frage und fassen zusammen:

Nicht nur die geistliche Verarbeitung selbst ungerechter Kritik ist von uns gefordert, sondern Retterliebe Christi.

Gibt es für solche, die sich zur Nachfolge Christi bekennen, ein „Recht auf Verletztsein“? Können wir uns auf unsere „Ehre“ berufen, wenn wir beleidigt, geschmäht oder ungerecht behandelt werden? Damit ist nicht gemeint, dass wir anderen Personen einen Freibrief gewähren sollen, uns willkürlich zu beleidigen und niederzumachen. Sondern es geht darum, wie wir eine erniedrigende Behandlung auf geistliche, christusgemäße Weise zu verarbeiten bereit sind. Außerdem sollen wir durch Gottes Kraft von Groll, Bitterkeit und Rache­gefühlen frei bleiben, und darüber hinaus befähigt werden, auf Schmähkritik nicht nur demütig zu reagieren als Menschen, die „den anderen höher achten als sich selbst“ (Phil 2,3-5)37, sondern dem Kritiker im Sinne der Bergpredigt als „Menschen der zweiten Meile“38 zu begegnen.

Wenn wir das Vorbild des Sohnes Gottes in seinen irdischen Tagen betrachten, dann muss jeglicher Anspruch unseres inneren Menschen auf Genugtuung gegenüber denen in Bedeutungslosigkeit fallen, die uns übel mitspielen. Wenn wir uns das Zeugnis des Völkerapostels Paulus von Tarsus zu eigen machen wollen, dann gilt es, gleich ihm das Ich-Leben mit all seinen eitlen Dün­keln sterben und dem Tod Christi gleichförmig werden zu lassen, damit wir in ihm zu einem neuen, von ihm durch und durch geprägten Leben auferstehen. Beruht nicht „die Gotteskraft des Evangeliums“ (Röm 1,16) darin, dass uns nichts und niemand mehr nachhaltig anfechten kann, weil wir wissen, dass wir von Gott aus Gnaden (nicht durch eigene Verdienste) angenommen worden sind, sofern wir uns ihm zum Eigentum überantwortet haben, ohne jeglichen Vorbehalt?

Sogar nachdem Paulus „von allen“ (Glaubensbrüdern!) feige im Stich gelassen worden war, segnete er („Es werde ihnen nicht angerechnet!“) und bezeugte:

„Aber der Herr stand mir bei und kräftigte mich innerlich, damit durch mich die Verkündigung in vollem Maße ausgerichtet werde und alle, die von den Völkern sind, hörten.“ (2Tim 1,15; 4,10.16.17)

Kann uns also noch irgendetwas antasten, wenn doch für uns – wie für Paulus – gilt (Phil 1,21): „Christus ist mein Leben“? Kann denn unser „beleidigtes“ Ego noch wie ein gefräßiger Wurm unser Innerstes unterminieren, wenn „nicht wir leben, sondern Christus in uns lebt“? Brauchen wir auf unsere Ehre zu pochen, wenn der Geist Gottes, der nicht Menschen, sondern Christus verherrlicht (Joh 16,14), in unseren Herzen seine Liebe für unsere Mitmenschen ausgegossen hat (Röm 5,5) und uns treibt, ihnen entgegenzukommen und zu helfen, das Evangelium zu verstehen, und ihnen das Versöhntsein mit Gott (2Kor 5,18-21) vorzuleben?

Nein, denn es heißt, dass wir „nicht dem Fleisch schuldig sind, um nach dem Fleisch zu leben“ (Röm 8,12), sondern nach dem Geist, der in jedem Menschen wohnt, der sich rückhaltlos dem Auferstandenen als seinem Herrn hingegeben hat und für ihn lebt. Regen sich aber Groll, Verachtung und Feindseligkeit gegen unseren Kritiker, dann haben wir noch nicht unsere ganze alte Identität unserem Herrn und Meister ausgeliefert, oder wir sind in sie zurückgefallen.

Die Forderung des Evan­ge­liums an Nachfolger Christi geht aber noch viel weiter als nur bis zur rein passiven geistlichen Verarbeitung von ungerechter Kritik. Sie fordert nicht weniger als in der Retterliebe Christi in die Offensive zu gehen. Der Sohn Gottes ging uns entgegen, als wir nicht nur Sünder, sondern sogar Feinde waren (Röm 5,10); er suchte, was verloren war. Agape-Liebe über­windet Schranken, statt sich in einen Schmollwinkel zurückzuziehen, Vorurteile zu zementieren oder anderen vermeintliche Motive zu unterstellen. Agape-Liebe ist mehr als nur „Emotionale Intelligenz“, die befähigen soll, „eigene und fremde Gefühle korrekt wahrzunehmen, zu verstehen und zu beeinflussen“, um „Beliebtheit, Wertschätzung und Integration in eine Gemeinschaft“ zu gewinnen39.

Neutesta­ment­liche Liebe geht – ungeachtet möglicher Nachteile oder Rückschläge – die „zweite Meile“ auch dort, wo Welt­menschen nicht einmal die „erste Meile“ ohne Bitterkeit oder Rache­­­gedanken ver­­kraften können. Walter Nitsche hat dies fol­gen­­dermaßen treffend auf den Punkt gebracht:

„Lieben heißt, die wahren Bedürfnisse des anderen erforschen und zu stillen trachten.“40

In diesem Sinne bleibt uns noch das Schlusswort: Wie kann jemand gegen uns sein, wenn Gott für uns ist? Wie kann jemand Anklage gegen uns erheben, wenn wir im Licht wandeln?

„Gott [ist der], der rechtfertigt! Wer verurteilt? Christus [ist es], der starb; mehr, der auch erweckt wurde, der auch zur Rechten Gottes ist, der sich auch für uns verwendet. Was wird uns trennen von der Liebe des Christus? Bedrängnis oder Einengung oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? – so wie geschrieben ist: ‚Deinetwegen werden wir getötet den ganzen Tag. Als Schlachtschafe wurden wir gerechnet.‘ [Ps 44,23] In diesem allem jedoch sind wir überlegene Sieger durch den, der uns liebte! – denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben noch [himmlische] Boten noch Erstrangige noch Kräfte noch Gegenwärtiges noch Bevorstehendes noch Hohes noch Tiefes noch etwas sonstiges Erschaffenes uns wird trennen können von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,33-39)


  1. Nach: Wikipedia, „Kritik“ (März 2017). 

  2. Zur Unterscheidung der Fachbegriffe: Während sich Perspektivenübernahme in erster Linie auf den kognitiven Prozess bezieht (d.h. auf das Denken und Erkennen bezogen) und nicht notwendigerweise mit Mitgefühl einhergeht, ist Empathie ein emotionaler Prozess, bei dem man die Emotionen des Anderen selbst erlebt. 

  3. Nach: Wikipedia, „Kritikkompetenz“ (März 2017). 

  4. Wie Fußnote 3. 

  5. Wie Fußnote 3. 

  6. „d.h.: bis zur Trennung [o.: völligen Zerlegung; Bloßlegung] von sowohl Seele als auch Geist“, so die Fußnote zu Hbr 4,12 in der ÜS von H. Jantzen/Th. Jettel). 

  7. oder: Gesinnungen. 

  8. oder: ihm haben wir Rede [und Antwort] zu stehen; o.: ihm sind wir ein[e Ant]wort schuldig. 

  9. Vgl. Joh 2,24-25. 

  10. anakrino in der Bedeutung: befragen, ausfragen, untersuchen, beurteilen, prüfen (z.B. in 1Kor 2,15). 

  11. diakrino in der hauptsächlichen Bedeutung: unterscheiden, einen Unterschied machen (z.B. „zwischen uns und ihnen“, Apg 15,9), beurteilen, richtig beurteilen, Erwägungen anstellen, entscheiden. 

  12. Ein weiteres Beispiel für dessen neutralen Gebrauch ist „Textkritik“, ein Begriff der Literaturwissenschaft. So ist die Textkritik des Neuen Testaments (nicht zu verwechseln mit Bibelkritik!) eine wissenschaftliche Methode, die den Ausgangstext der verschiedenen Varianten der neutestamentlichen Texte zu rekonstruieren sucht. Die Textkritik soll den Bibeltext möglichst in der ursprünglichen Form rekonstruieren, oder ersatzweise einen Text, der dem ursprünglichen Text („Urtext“) möglichst nahe kommt („Grundtext“). 

  13. Die im Neuen Testament vorkommenden Schriftstellen lauten: Mat 12,41.42; 20,18; 27,3; Mk 10,33; 14,64; 16,16; Lk 11,31.32; Joh 8,10.11; Röm 2,1; 8,3.34; 14,23; 1Kor 11,32; Heb 11,7; Jak 5,9; 2Pt 2,6. 

  14. Andere übersetzen: „denn das Gerichthalten (oder: Rechtsprechen) geschieht für Gott.“ 

  15. Übersetzung nach Hermann Menge. 

  16. Spr 18,5; 24,23; 28,21. 

  17. Jak 2,1.9 mit 5Mose 1,17 

  18. griech. diamarturomai – beschwören, dringend zureden. 

  19. oder: „urteilt“ (griech.: krino). 

  20. griech. phren: Verstand, Einsicht; Hermann Menge übersetzt hier mit „Urteilskraft“. 

  21. 3Mose 18,16; 20,21. 

  22. Es war aber die ehrgeizige und skrupellose Herodias gewesen, die sich ob dieses Tadels verletzt gefühlt und infolgedessen seine Gefangennahme und Enthauptung betrieben hatte. 

  23. griech. exousia: Vollmacht, Autorität (Vers 19). 

  24. wörtlich: „Ältere“ (presbyteros); allgemein: Ältere an Jahren, fortgeschrittenen Lebens, Senioren und im neutestamentlichen Sinn: reif an geistlicher Erfahrung. Synonym für denselben Personenkreis wird auch episkopos gebraucht: „Aufseher“. H. Jantzen/Th. Jettel übersetzen episkope mit „Aufseherschaft“ (W. Bauer: „Aufsichtsamt“; 1Tim 3,2). Bemerkenswert ist, dass eine Gemeindeleitung im Neuen Testament stets als Kollektiv verstanden wird, niemals als „Ein-Mann-Pfarrherr- oder Pastorensystem“ (vgl. episkopous, Mehrzahl, Apg 20,17). 

  25. 1Kor 12,27-31; Röm 12,3-8; Eph 4,11-13. 

  26. „Ordination“ (lateinisch: ordinatio: „Bestellung, Weihe“) ist eine gottesdienstliche Handlung in christlichen Kirchen und im Judentum. In fast allen Kirchen werden durch die Ordination Gläubige (in römisch-katholischen, orthodoxen und vielen Freikirchen nur Männer) zum geistlichen Amt gesegnet, ausgesondert und gesandt. 

  27. Dazu vgl. 1Kor 4,6: „nicht über das hinaus, was geschrieben steht“. 

  28. Paul und Liz Griffin: „Missbrauch hat viele Gesichter. Opfer finden Hoffnung und Heilung“, 2018. – David Johnson/Jeff van Vonderen: „Die zerstörende Kraft des geistlichen Missbrauchs“, 2016 (Klassiker! 18 Auflagen in den USA). – Inge Tempelmann: „Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt – Ein Handbuch für Betroffene und Berater“, 2015. 

  29. Siehe z.B.: „Geistlicher Missbrauch – kann es in Freikirchen dazu kommen?“ von Fritz Imhof http://www.jesus.ch/information/kirche/freikirchen/ueber_freikirchen/133115-geistlicher_missbrauch_kann_es_in_freikirchen_dazu_kommen.html). 

  30. http://www.geistlicher-missbrauch.ch/10_Merkmale (hier die Überschriften; es empfiehlt sich jedoch, auch die kurzen, aber präg­nanten Beschreibungen dazu zu lesen):

    (1) Wenn du ein Problem ansprichst, wirst du zum Problem, und das Problem wird nie besprochen.

    (2) Wenn du einen Leiter/Pastor hinterfragst, wird dir gesagt, du hättest ein Autoritätsproblem.

    (3) Mentoring wird zur Kontrolle missbraucht.

    (4) Die Leitung nimmt sich das Recht, über dein Privatleben zu bestimmen.

    (5) Die Leitung steht nicht zu gemachten Fehlern.

    (6) Der Schein zählt mehr als das Sein.

    (7) Freundschaften und Ehen werden zerstört.

    (8) Unangenehme Aussagen werden als Missverständnisse abgetan.

    (9) „Kleider machen Leute“.

    (10) Mit-Entscheidung nur proforma.

    zusammengestellt von der Schweizerischen „Informationsplattform Missbrauchter Christen“ 

  31. Gottes Plan für Israel für das ihm auf Bewährung zur Verfügung gestellte Land war eine lose 12-Stämme-Konföderation mit jeweils einem Ältestenrat als Stammes­führung. So sollten sie friedlich in ihren abgegrenzten Stammesgebieten leben – außer Stande, eine kriegerische Gebiets­expansion über ihren Besitz hinaus anzuzetteln – und den Völkern zur Erleuchtung dienen (Jes 42,7; 49,9; vgl. Apg 26,18). Auch der Priesterstamm der Leviten lebte dezentral unter den Stämmen in Priesterstädten, um das Volk den Weg Gottes zu lehren und Recht zu sprechen. Nur der Opferdienst im Heiligtum der Stiftshütte, später des Tempels in Jerusalem, sollte zentral vollzogen werden. Und nur im Falle einer militärischen Bedrohung von außen (was Gott ohnedies nur bei krassem Abfall zulassen wollte) sollten sie ihre waffenfähigen Männer aus allen Stämmen zusammenrufen (wie unter Gideon, vgl. Ri 6-8) und sich unter neuerlicher Hinwendung zu ihrem Gott und im Vertrauen auf ihn auch gegen eine Übermacht zur Wehr setzen können. Doch schließlich wollten sie so sein wie die Heidenvölker mit einem absolutistisch herrschenden Königtum eines politisch-militärischen Zentralstaates, um womöglich mittels eines stehenden Berufsheeres ihre begrenzte Gebietsherrschaft gewaltsam zu einer dominierenden Regionalmacht ausweiten zu können. Nachzulesen: 1Sam 8,1-22; 10,19. 

  32. Die Gewaltentrennung, die Gott in dem Zwölfstämmevolk zwischen politischer und priesterlicher Führerschaft implementiert hatte, ist ein weiteres Indiz dafür, dass Gott einer Führung seines Volkes durch nur einen einzigen Mann an der Spitze einen Riegel vorgeschoben hatte. Wie konnte (und kann) der Mensch sich darüber hinwegsetzen, ohne sein Volk in Gefahr zu bringen! 

  33. griech.: katexousiazo. Nach W. Bauer bedeutet dieses Verb bei Matth 20,25 und Mk 10,42 aufgrund der Verstärkung der Ausübung von Autorität und Vollmacht durch „kata“: jemandem gegenüber „die Amtsgewalt missbrauchen“. Wenn also der Meister seine Lehrlinge mit diesem drastischen Vergleich ermahnt, kann dies als eine Schlüsselstelle seiner Warnung vor geistlichem Machtmissbrauch verstanden werden. 

  34. Die griech. Zukunftsform (Futur) ist hier wohl im Sinne eines Befehls zu verstehen. 

  35. griech.: doulos: W. Bauer merkt an („Wörterbuch zum NT“), dass der Begriff „Sklave“ (den H. Jantzen/Th. Jettel konsequent mit „leibeigener Knecht“ übersetzen) an dieser Stelle jemanden bezeichnet, der – „im Gegensatz zu protos“, „der Erstrangiger sein will“ – einen „Dienst in demütiger Gesinnung“ tut. Bereits ein Kapitel vorher hat der Meister von „jemandem, der Erster sein will“, gefordert, „Letzter von allen und ein Diener aller“ zu sein (Mk 9,35), und zwar „stets“ (Matth 20,27: „sei ‹stets› euer leibeigener Knecht“)  

  36. d. h.: sein Leben; sich selbst. 

  37. siehe auch: „Korruption, Streit und Kriege – was führt zum Frieden unter uns?“ Eine biblische Betrachtung nach Phil 2, 1-11.
    Erschienen in: Bibel und Gemeinde 4/2014. Im Internet unter: http://oeko-treff.at/12_Thesen.html 

  38. So lautet der Titel eines 1988 erschienen Buches von Isobel Kuhn. Vgl. Matth 5,39-49; Spr 25,21-22. 

  39. So bei Wikipedia zu lesen unter „Emotionale Intelligenz“. Dort heißt es auch unter „Umgang mit Beziehungen“:
    „Diese Fähigkeit oder Kunst der Gestaltung von Beziehungen besteht im Wesentlichen im Umgang mit den Gefühlen anderer Menschen. Es ist die Grundlage für eine reibungslose Zusammenarbeit in nahezu allen beruflichen Umfeldern.“ 

  40. So lautet das durchgängige Leitmotiv des sehr empfehlenswerten Buches von Walter Nitsche mit dem Titel: „Lieben will gelernt sein“, 11. Auflage 2015.