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Bibelauslegung und Heiliger Geist

Die Bibel in allen ihren Dimensionen verstehen, kann nur wer glaubend und beschenkt mit Gottes Geist liest. Allerdings heißt das nicht, dass nicht der Sinn der Buchstaben, Sätze und Aussagen klar und verständlich wäre. Es geht auch nicht um ein Geheimwissen, das man zwischen den Buchstaben oder Zeilen suchen müsste. Weil aber Gott selber mit der Botschaft zum Menschen kommt und bei ihm wohnen will, hat das Wort Gottes sein Ziel erst erreicht, wenn ein Mensch an Christus glaubt und sich ganz auf sein Wort verlässt.

Teil 1: Einführung und biblische Grundlinien

„Es ist nicht so wichtig, ob wir von Adam und Eva abstammen, entscheidend ist die Botschaft, die hinter der Geschichte steckt.“ – „Der Herr hat mir gesagt, ich soll mein Haus verkaufen. Er wird meiner Familie einen neuen Platz zum Wohnen geben.“ – „Schwester Müller ist geistlich noch nicht so weit, um diese tiefe Botschaft zu verstehen (wir dagegen sind es)“. – „Gottes Wort ist das, was mir persönlich wichtig wird.“

Die Frage nach der Beziehung von Geist und Wort ist keinesfalls eine akademische Frage. Sie stellt sich häufig in der Gemeinde und selbst im Gespräch mit Nichtchristen.

1 Alte Fragestellungen

Die Frage nach der angemessenen Vermittlung und Auslegung eines Textes bezeichnet man als „Hermeneutik“1. In der biblischen Hermeneutik haben sich im Verlauf der Kirchengeschichte verschiedene Auslegungsweisen etabliert, die bei Thomas von Aquin2 ihre klassische Ausprägung in der Lehre vom vierfachen Schriftsinn fanden:

  1. Der Literal- oder historische Sinn versteht den Bibeltext „so, wie es dasteht“. Dazu werden grammatische und historische Betrachtungen angestellt. Auch Fragen des Stils der Autoren und der Literaturgattung sollten nicht unberücksichtigt bleiben. Diese Auffassung geht oft einher mit einer Lehre von der Verbalinspiration. Der Literalsinn wird besonders betont bei dem altkirchlichen Ausleger Hieronymus, bei Thomas von Aquin, bei Martin Luther und bei Johannes Calvin.
  2. Der moralische oder ethische Sinn will aus dem Bibeltext Lehren für das Verhalten des Menschen ziehen und bedient sich dabei traditionell auch der Allegorese.
  3. Der allegorische Sinn sucht einen „Sinn hinter dem Sinn“ der Texte, der aus dem Literalsinn keineswegs eindeutig hervorgeht. Nach Origenes, einem klassischen Vertreter der Allegorese, ist diese Art der Erkenntnis nur bestimmten Christen („Pneumatikern“) vorbehalten3. Häufig wird dazu auch die typologische Auslegung des AT, die in den alttestamentlichen Berichten, Gesetzestexten usw. Vorausschattungen neutestamentlicher Lehren sieht, dazu gerechnet. Wie wir zeigen werden, ist dies allerdings eine unzulässige Vermischung.
  4. Der anagogische Sinn sucht in Ereignissen, die in der Bibel berichtet werden, eine mystische Vorausschattung des kommenden Lebens. Wir finden dies z.B. in der jüdischen Kabbala, die anhand von hebräischen Buchstaben und Wörtern geheimnisvolle Zahlenberechnungen anstellt.

Neben dem Ringen um das rechte Verständnis des Bibeltextes stoßen wir dabei immer wieder auf die Frage, welche Bedeutung der Glaube des Auslegers für die Bibelauslegung hat. Darf man die Bibel ähnlich „objektiv“ auslegen wie jedes weltliche Geschichtsdokument? Welche Rolle spielt der Heilige Geist bei der Auslegung?

Zwei Extreme: Geistlose Gelehrsamkeit auf der einen Seite – schwarmgeistige Lösung vom offensichtlichen Wortsinn auf der anderen Seite

Im Folgenden soll es um eine Position gehen, die von zwei extremen Ausprägungen der Hermeneutik begrenzt ist: Der geistlosen Gelehrsamkeit auf der einen Seite, und der schwarmgeistigen Lösung vom offensichtlichen Wortsinn auf der anderen Seite. Die Grundfrage bleibt: Wie kann ich die Heilige Schrift richtig verstehen?

2 Gott redet „geradeaus“

Ps 33,4: Denn des HERRN Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiss. (Luther 84)

Denn richtig (jaschar) ist das Wort des HERRN, und all sein Werk geschieht in Treue (a’muna). (Revidierte Elberfelder)

Ursprünglich preist der 33. Psalm Gott für seine Weisheit und Allmacht, mit der er die Welt und ihre Geschichte in seiner Hand hält. Dem Psalmbeter ist klar, dass dies mit Gottes schöpferischem Wort zusammenhängt (33,9): „Denn wenn er spricht, so geschieht’s; wenn er gebietet, so steht’s da.“ Es ist sicher nicht verkehrt, wenn wir daraus Schlüsse auf sein schriftlich geoffenbartes Wort ziehen, auf die Bibel.

2.1 „Wahrhaftig“

Im vierten Vers stoßen wir auf zwei hebräische Begriffe, die im Alten Testament häufiger verwendet werden. Der erste und in unserem Zusammenhang wichtigste Begriff ist jaschar (Luther 84: „wahrhaftig“, Rev. Elberfelder: „richtig“). Gesenius4 bietet folgende Bedeutungen: 1. gerade (im Gegensatz zu krumm) 2. eben (z.B. ein Weg) 3. recht, richtig 4. redlich, aufrichtig, zuverlässig. Zur Wurzel jaschar gibt es 159 Nachweise im AT.

Meistens meint es eine Eigenschaft oder Verhaltensweise des Menschen. Es erscheint z.B. im Sinne von „gut und recht“ z.B. 5Mo 6,18, oder Spr 2,7:

Er lässt es den Aufrichtigen gelingen und beschirmt die Frommen.

Ein bekanntes Beispiel für diese Eigenschaften ist Hiob (1,1):

Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob. Der war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse.

Im Gegensatz dazu steht etwa der anarchische Zustand der Gesellschaft während der Richterzeit (Ri 17,6):

Zu der Zeit war kein König in Israel, und jeder tat, was ihn recht dünkte.

Immer wieder wird der Begriff aber auch von Gott gebraucht, so z.B. im Lobpreis:

Er ist ein Fels. Seine Werke sind vollkommen; denn alles, was er tut, das ist recht. Treu ist Gott und kein Böses an ihm, gerecht und wahrhaftig ist er. (5Mo 32,4)

Die Befehle des HERRN sind richtig und erfreuen das Herz. Die Gebote des HERRN sind lauter und erleuchten die Augen. (Ps 19,9)

Es ist ein Ausdruck von Gottes zuverlässiger Führung:

Ps 107,7 und führte sie den richtigen Weg, dass sie kamen zur Stadt, in der sie wohnen konnten

Dreimal erscheint es im 119. Psalm, dem große Psalm über das Wort Gottes, z. B. Vers 128:

Darum halte ich alle deine Befehle für recht, ich hasse alle falschen Wege.

„Richtig“, steht hier im Gegensatz zu „falsch“, gerade auch im moralischen Sinn.

2.2 „In Treue“

Das zweite bedeutende Wort in Ps 33,4 ist das hebräische a’muna. Gesenius5 übersetzt: 1. Festigkeit, Unbeweglichkeit 2. Sicherheit, Friede 3. Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Treue. Zur Wurzel a’muna (Luther 84: „gewiss“, Revidierte Elberfelder: „in Treue“) gibt es 49 Nachweise im AT.

Schon im zwischenmenschlichen Umgang wird klar, was damit gemeint ist, z.B. 2Kö 12,16:

Auch brauchten die Männer nicht Rechnung zu legen, denen man das Geld übergab, dass sie es den Arbeitern gäben, sondern sie handelten auf Treu und Glauben.

Auf Gott bezogen, finden wir es in der Lutherbibel sowohl als „Wahrheit“ wie auch als „Treue“ übersetzt:

Ps 119,86 All deine Gebote sind Wahrheit; sie aber verfolgen mich mit Lügen; hilf mir!

Ps 89,34 aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden und meine Treue nicht brechen.

Es bildet auch an anderen Stellen ein „Paar“ mit der oben genannten Wahrhaftigkeit Gottes, vgl. die bereits erwähnte Stelle aus 5Mo 32,4. Im deutschen Wort „Zuverlässigkeit“ lässt sich der Begriff a’muna gut zusammenfassen.

2.3 Erste Schlussfolgerungen

Gott bürgt mit seiner Person für sein Wort.

Gott bürgt mit seiner Person für sein Wort. Er ist zuverlässig in seinen Worten (man kann sie nehmen, wie sie sind) und er ist zuverlässig in der Erfüllung seiner Worte (so wie hier im Psalm und an den anderen Stellen beschrieben). Wir sind damit bei einem alten, äußerst wichtigen Prinzip des Schriftgebrauchs angelangt, dass die Väter den unbedingten Vorzug des Literalsinns nannten:

  1. Nimm die Worte der Bibel genau so für wahr, wie es da steht, lass dich durch nichts beirren und suche keinen versteckten „Hintersinn“ in ihnen: Das ist wichtig in allen Fragen der Lehre.
  2. Vertraue darauf, dass Gottes Wort dir den richtigen Weg zeigt und dich nicht geheimnisvoll im Dunkeln tappen lässt: Das ist wichtig in allen moralischen Fragen und Fragen der persönlichen Führung.
  3. Vertraue fest darauf, dass Gott zuverlässig zu seinem Wort steht und es erfüllt: Das ist wichtig in allen Anfechtungen, besonders in der Frage der Heilsgewissheit.

Oder in einem einzigen Satz: Gott redet „geradeaus“. Es ist so gemeint, wie man es auch als Kompliment über einen geschätzten, zuverlässigen Menschen sagt: Der und der redet „geradeaus“, ohne Umschweife und Hintergedanken.

3 Die Verkündigung von Jesus

Dass Jesus das Wort Gottes bis in die Einzelheiten des Wortlauts hinein äußerst hoch schätzt, wird in seiner ganzen Verkündigung offenbar, z.B.:

„Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.“ (Mt 5,17-18)

Dieses „Tüpfelchen“ ist das hebräische „i“, aufgeschrieben lediglich ein kleines Häkchen auf dem Papyrus oder der Steintafel. Die Zuverlässigkeit von Gottes Wort steht für Jesus auch bei scheinbaren Kleinigkeiten fest.

In Johannes 10,34-35 wird von einem Streitgespräch des Herrn berichtet. Selbst mit seinen Gegnern ist sich Jesus über die Zuverlässigkeit von Gottes Wort einig:

„Jesus antwortete: steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: ‘Ich habe gesagt: Ihr seid Götter’? Wenn er Götter die nennt6, zu welchen das Wort Gottes geschah – und die Schrift kann doch nicht gebrochen werden -, wie sprecht ihr denn zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott, – weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn?“

Jesus verzichtet in seiner Bibelauslegung auf jeglichen Doppel- und Hintersinn.

Ron Rhodes7 weist in einem interessanten Aufsatz über „Esoterik und Schriftauslegung“ darauf hin, wie Jesus in seiner Lehre von einer Bibelauslegung ausgeht, die auf jeglichen Doppel- und Hintersinn verzichtet und daher das Gegenteil von esoterischen Geheimlehren verkörpert. Ein Beispiel dafür findet sich im Verhör vor dem Hohenpriester:

Jesus antwortete ihm: Ich habe frei und offen vor aller Welt geredet. Ich habe allezeit gelehrt in der Synagoge und im Tempel, wo alle Juden zusammenkommen, und habe nichts im Verborgenen geredet. Was fragst du mich? Frage die, die gehört haben, was ich zu ihnen geredet habe. Siehe, sie wissen, was ich gesagt habe. (Joh 18,20-21)

Dagegen spricht auch nicht das Geheimnis der Gleichnisse in Mt 13, das manchmal von Anhängern einer „esoterischen“ Schriftauslegung angeführt wird:

Mt 13,10-13: Und die Jünger traten zu ihm und sprachen: Warum redest du zu ihnen in Gleichnissen? Er antwortete und sprach zu ihnen: Euch ist’s gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu verstehen, diesen aber ist’s nicht gegeben. Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat. Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es nicht.“

Geht es doch hier nicht um ein hermeneutisches Prinzip „esoterischer“ Schriftauslegung, mit dem die Jünger von Jesus als „Eingeweihte“ einen geheimnisvollen Hintersinn der Gleichnisse erkennen sollen. Vielmehr geht es um die selbst verschuldete Verstockung und das Gericht Gottes, das die Verstockten zum Unverständnis verurteilt. Deshalb können sie auch – im Gegensatz zu den Nachfolgern von Jesus – die Gleichnisse nicht begreifen:

Mt 13,14f. Und an ihnen wird die Weissagung Jesajas erfüllt, die da sagt: „Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet es nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen und werdet es nicht erkennen. Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt: ihre Ohren hören schwer, und ihre Augen sind geschlossen, damit sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, und ich ihnen helfe.“

Wir halten also fest: Jesus schätzt das Wort Gottes sehr hoch, und geht ebenso wie das AT davon aus, dass Gott in seinem geschriebenen Wort zuverlässig ist. Jesus beansprucht ebenso für sich selbst, dass er „geradeaus“ und ohne geheimnisvollen Hintersinn redet.

4 Einschränkungen und Überbietungen durch das Kommen von Jesus

Die Bibel ist im Sinn einer fortschreitenden Offenbarung zu lesen.

Haben wir also alles in der Bibel so zu nehmen, wie es dasteht? Schnell werden an dieser Stelle Einwände kommen wie: „Dann müssen wir ja noch Tieropfer bringen und heilige Kriege führen, wie es schon im Alten Testament verlangt wurde!“ Ganz unberechtigt sind diese Einwände nicht. Daher haben schon unsere Glaubensväter immer wieder verlangt, die Bibel im Sinne einer fortschreitenden Offenbarung zu lesen. Dafür hat sich der Ausdruck „heilsgeschichtliche Auslegung“8 eingebürgert. Diese Art der Auslegung wird uns schon im NT selbst nahe gelegt, z.B. in Hebr 1,1-2:

Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat.

So sind etwa die Opfervorschriften des AT nur der „Schatten“, durch den Christus schon im Alten Bund schemenhaft zu erahnen war. Mit ihm, dem Mensch gewordenen Christus, haben wir dagegen die Person selbst, die diesen Schatten geworfen hat. Deshalb ist die Zeit der Opfer ein für allemal vorbei:

Denn das Gesetz hat nur einen Schatten von den zukünftigen Gütern, nicht das Wesen der Güter selbst. Deshalb kann es die, die opfern, nicht für immer vollkommen machen, da man alle Jahre die gleichen Opfer bringen muss. Hätte nicht sonst das Opfern aufgehört, wenn die, die den Gottesdienst ausrichten, ein für allemal rein geworden wären und sich kein Gewissen mehr gemacht hätten über ihre Sünden? (Hebr 10,1-2)

An anderen Stellen redet das NT nicht davon, was in Christus abgeschafft ist, sondern es spricht von dem „Mehr“, auf das die Väter bis zur Geburt von Jesus sehnlich gewartet haben, und das uns in Christus nun endlich von Gott gegeben wurde. Paulus erklärt diesen Zusammenhang z.B. mit dem Bild eines lange verschwiegenen, jetzt aber gelüfteten Geheimnisses.

Röm 16,25-27: Dem aber, der euch stärken kann gemäß meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, durch die das Geheimnis offenbart ist, das seit ewigen Zeiten verschwiegen war, nun aber offenbart und kundgemacht ist durch die Schriften der Propheten nach dem Befehl des ewigen Gottes, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden: dem Gott, der allein weise ist, sei Ehre durch Jesus Christus in Ewigkeit! Amen.

Die Beispiele weisen uns darauf hin: Die Bibel wörtlich und „geradeaus“ zu nehmen heißt: nicht nur sie zu zitieren, sondern sie in den heilsgeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen. Immer wieder haben wir zu fragen: Was ist mit der Offenbarung Jesus Christus vorbei? Was ist gleich geblieben? Was hat es vor Jesus so noch nicht gegeben?

5 Heiliger Geist und Ausleger: Die Forderung nach einer „Theologie der Wiedergeborenen“

5.1 Die Stellung zum Gekreuzigten als Schlüssel zur Bibel

Bereits im Zusammenhang mit den Reich-Gottes-Gleichnissen in Mt 13 wurde deutlich, wie die Worte von Jesus dennoch für viele ein „Buch mit sieben Siegeln“ bleiben können. Wenn die richtige Lehre über die Schriftauslegung und das bloße Befolgen eines „wortwörtlichen“ Bibelverständnisses alles wäre, dann würden wir überrascht feststellen, dass der Teufel persönlich die besten Voraussetzungen zum Bibellehrer hätte:

Jak 2,19: Du glaubst, dass nur einer Gott ist? Du tust recht daran; die Teufel glauben’s auch und zittern.

Man vergleiche dazu auch die profunde Schriftgelehrsamkeit, die der Teufel bei der Versuchung von Jesus in der Wüste zeigt (Mt 4,1ff)

Insbesondere Paulus denkt über die Hintergründe dieser Problematik nach. Im 1. Korintherbrief nimmt er dazu Stellung. Ein krasser Gegensatz durchzieht seine Überlegungen im 1. und 2. Kapitel dieses Briefes: Auf der einen Seite gibt es die Menschen, die das Wort vom Kreuz ablehnen – den philosophisch gebildeten Griechen war eine Torheit, und den in ihren falschen Messiasbildern gefangenen Juden ein Ärgernis – auf der anderen Seite gibt es diejenigen, denen der Gekreuzigte alles bedeutet:

1Kor 1,18: Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft.

1Kor 1,30f. Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, damit, wie geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!“

Nur wer das Wort vom Kreuz annimmt, ist in der Lage, die Lehre des Evangeliums zu verstehen.

Dieser Gegensatz wird nun zum Schlüsselprinzip: Nur diejenigen, die das Wort vom Kreuz annehmen, sind in der Lage, die Lehre des Evangeliums zu verstehen. Paulus gebraucht dazu den Begriff „Weisheit“.

5.2 Der geistliche Mensch

Paulus sagt über die, die an den Gekreuzigten glauben: Jesus gibt ihnen den Heiligen Geist. Dieser allein kann das Verständnis für Gottes Gedanken, für sein Wort und seine Weisheit geben. Der Heilige Geist wird so zum Schlüssel des Bibelverständnisses:

1Kor 2,11-16: Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als allein der Geist des Menschen, der in ihm ist? So weiß auch niemand, was in Gott ist, als allein der Geist Gottes. Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, dass wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist. Und davon reden wir auch nicht mit Worten, wie sie menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen. Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden. Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt. Denn „wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen“ ? Wir aber haben Christus Sinn.

Das Bild, das Paulus hier gebraucht, ist eine Erinnerung an unsere eigene Erfahrung: Welcher Mensch kennt mich ganz genau? Meine innersten Beweggründe kenne ich eigentlich nur selbst. Warum sollte das bei Gott anders sein? Wer kennt Gott schon wirklich, außer Gott selbst? Und so weiß allein der Geist Gottes, was Gott, den Vater, und Gott, den Sohn bewegt.

Diesen Geist empfangen die, die an den Gekreuzigten glauben. 1Kor 2,16 sagt Paulus: „Wir aber haben Christus Sinn.“ Unser Denken wird von Christus geformt, wenn wir Christen sind. Wir formen uns dabei nicht selbst, sondern der Geist Gottes gibt uns Mitteilung über Gott.

5.3 Der natürliche Mensch und die Rolle der Vernunft

Im Gegensatz zu diesem „geistlichen Menschen“ steht der „natürliche Mensch“. Man kann das auf zweierlei Weise verstehen. „Natürlich“ heißt zum einen: im Gegensatz zu Gott, so wie alles Geschaffene, auch der Mensch, von Geburt an im Gegensatz zu Gott steht. Die Schöpfung ist natürlich, nicht göttlich.

Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes.

„Natürlich“ wird im Neuen Testament aber immer wieder auch als Gegensatz zu „geistlich“ verstanden. Das griechische Wort dafür heisst psychikos, was sich aber mit unserem Wort „psychisch“ = „seelisch“ nur teilweise wiedergeben lässt9:

1Kor 15,44: Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib.

1Kor 15,46: Aber der geistliche Leib ist nicht der erste, sondern der natürliche; danach der geistliche.

Jak 3,15: Das ist nicht die Weisheit, die von oben herabkommt, sondern sie ist irdisch, niedrig (= psychikos) und teuflisch.

Jud 19: Diese sind es, die Spaltungen hervorrufen, niedrig (= psychikos) Gesinnte, die den Geist nicht haben.

„Natürlich“ heißt dann: von der Sünde geprägt, von sündigen Denkstrukturen, von der Verfallenheit an den Tod. Im Hinblick auf die Bibelauslegung haben wir hier insbesondere über die natürliche Vernunft zu sprechen: Auch unsere Vernunft ist eine Schöpfung Gottes, und Gott hat uns geschaffen, so dass wir denken, philosophische Systeme errichten, technische Apparate bauen und Naturwissenschaften betreiben können. Dennoch reicht diese Vernunft nicht aus, um Gott zu erkennen. Gerade die gefallene, von der Sünde geprägte Vernunft, hat die Fähigkeit verloren, Gott zu erkennen. Allein Gott weiß, wer er ist, und er allein kann uns das mitteilen, wir haben es nicht „im Griff“, auch nicht „auslegungstechnisch“.

Martin Luther, der über die menschliche Vernunft sehr illusionslos dachte, schrieb dazu in seinem Kleinen Katechismus (bei der Erklärung zum Dritten Glaubensartikel „Ich glaube an den Heiligen Geist“):

„Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten.“

5.4 Schlussfolgerungen

Auch eine „konservative“ Bibelauslegung kann gelehrtes, aber leeres Stroh dreschen.

Gerade an dieser Stelle haben wir sehr vorsichtig zu sein, denn Aussagen über die Rolle des Heiligen Geistes in der Schriftauslegung erweisen sich schnell als Gratwanderung. Es ist einerseits klar geworden, dass auch das exakteste und dem Wortsinn entsprechende Bibelverständnis noch nicht alles ist, was uns von Gott her vorgegeben ist: Auch eine „konservative“ Bibelauslegung kann gelehrtes, aber leeres Stroh dreschen.

Wir sehen auf der anderen Seite die Gefahr, sich allzu leichtfertig auf den Geist zu berufen. „Bruder XY ist eben noch nicht so weit.“ Mit dieser Bemerkung erspart man es sich, sich weiterhin mit dem Standpunkt von Bruder XY auseinander zu setzen.

Paulus gibt uns mit der Forderung nach einer geistlichen Auslegung keine bestimmte „geistliche Auslegungstechnik“ an die Hand. Vielmehr muss man sagen: Alles, was wir oben über die Zuverlässigkeit und das „Geradeaus“ der Heiligen Schrift gesagt haben, wird von ihm in keiner Weise aufgehoben. Auch der Gebrauch unserer Vernunft, um den Wortsinn und den Zusammenhang der Schrift möglichst genau zu erfassen, wird damit in keiner Weise in Frage gestellt.

Ebenso sagt uns Paulus, wie wir „geistliche“ und „weniger geistliche“ Ausleger auseinander halten könnten. Er gibt uns allerdings eine absolute Grenze an: Die Scheidelinie verläuft an der Stellung des Auslegers zum Gekreuzigten. Paulus fordert, dass ein Ausleger der Bibel ein Christ ist. Unsere Väter im Glauben nannten diese Forderung eine theologia regenitorum („Theologie der Wiedergeborenen“)10. Bei diesem „Test“ wären nun allerdings sowohl der Teufel, als auch der wissenschaftlich gelehrte, „absolut objektive“, aber ungläubige Ausleger durchgefallen.

Wie ist dein Verhältnis zum Gekreuzigten? Dies ist eine bewusst „erbauliche“ Frage – wer sich nicht so fragen lässt, sondern im Raum des Objektivierbaren bleiben will (und sei es in einer „objektiven“ Beurteilung des genannten Bruder XY), der verliert alles von dem, was Paulus uns hier ans Herz legen will. Vielleicht könnte man auch so sagen: die wichtigsten theologischen Entscheidungen in der Bibelauslegung fallen nicht in wissenschaftlichen Überlegungen, sondern im Bekenntnis meiner Sünden vor dem Gekreuzigten, und im beständigen Neuwerden meines Denkens, das daraus folgt.

6 Typologische Auslegung als biblisches Grundmuster eines „mehrfachen Schriftsinns“

Auch die „typologische“ Auslegung hat sich an den Prinzipien der „Geradeaus“-Auslegung zu messen, und auch für sie ist die Wiedergeburt des Auslegers Voraussetzung. Wir haben beim Suchen eines „mehrfachen Schriftsinns“ also nichts „Geistlicheres“ als bei anderen Auslegungsweisen zu erwarten.

6.1 Der Begriff des „Typos“

Für den Gebrauch einer „typologischen“ Auslegung spricht die Verwendung des Begriffs in der Bibel selbst. Übersetzt wird er z.B. mit „Bild“, „Vorbild“, „Gestalt“. Einige Beispiele zur Illustration:

Apg 7,44: Es hatten unsre Väter die Stiftshütte in der Wüste, wie der es angeordnet hatte, der zu Mose redete, dass er sie machen sollte nach dem Vorbild, das er gesehen hatte.

Röm 5,14: Dennoch herrschte der Tod von Adam an bis Mose auch über die, die nicht gesündigt hatten durch die gleiche Übertretung wie Adam, welcher ist ein Bild dessen, der kommen sollte.

Phil 3,17: Folgt mir, liebe Brüder, und seht auf die, die so leben, wie ihr uns zum Vorbild habt.

1Thes 1,7 … so dass ihr ein Vorbild geworden seid für alle Gläubigen in Mazedonien und Achaja.

Hebr 8,5: Sie dienen aber nur dem Abbild und Schatten des Himmlischen, wie die göttliche Weisung an Mose erging, als er die Stiftshütte errichten sollte: „Sieh zu“, sprach er, „dass du alles machst nach dem Bilde, das dir auf dem Berge gezeigt worden ist.“

Ein „Typos“ gibt einen zeichenhaften Hinweis auf einen anderen Zusammenhang.

Ein „Typos“ gibt also einen zeichenhaften Hinweis auf einen anderen Zusammenhang, z.B. auf eine Lehre oder eine erwünschte Verhaltensweise. Die Sache, die diesen Hinweis gibt, ist keine Idee, sondern existiert selbst real bzw. hat real stattgefunden.

In anderem Zusammenhang kann Typos einfach eine bestimmte Form oder Gestalt bezeichnen:

Röm 6,17: Gott sei aber gedankt, dass ihr Knechte der Sünde gewesen seid, aber nun von Herzen gehorsam geworden der Gestalt der Lehre, der ihr ergeben seid.

6.2 Die Erklärung von „Typos“ in 1. Korinther 10

In 1. Kor 10,1-13 gebraucht Paulus eine typologische Auslegung des AT, um die Gemeinde in einigen wesentlichen Fragen zu unterweisen bzw. zu ermahnen.

Wir wollen uns im Folgenden eine Auswahl von Paulus’ Beispielen anschauen, um Vorbilder für unsere eigene Anwendung der typologischen Auslegung zu finden. Selbstverständlich ist mir bewusst, dass es gerade im Hinblick auf die Sakramente auch andere Auffassungen gibt11. Im Folgenden stelle ich einfach den Typos aus dem AT und die Auslegung von Paulus gegenüber:

10,1-2: Der Durchzug durch das Schilfmeer und die führende Wolkensäule = „Taufe auf Mose“ (vgl. z.B. Ex 14,19f) => Taufe auf den dreieinigen Gott

Die Denkweise des Paulus ist dabei so: in der Tat war es damals das Eingreifen Gottes, das Israel unterstützte und rettete. Dennoch war es schon damals die Absicht Gottes, zu zeigen: ich bin euer Herr und Gott. So ist dieses Geschehen eine Vorausschattung unserer Errettung.

10,3-4: Die gnädige Versorgung mit Manna und das Wasser aus dem Felsen => Die Versorgung der Gläubigen mit „geistlicher Speise“

Der Fels, aus dem das Wasser kam, repräsentierte die Realität von Christus zeichenhaft.

Der geistliche Fels, der Fels, aus dem das Wasser kam, repräsentierte die Realität von Christus zeichenhaft. Wir erfahren heute die Gegenwart von Christus in den Zeichen von Brot und Wein beim Abendmahl.

10,7: Das Gericht Gottes nach der Anbetung des Goldenen Kalbs (2. Mose 32) => Das Gericht Gottes, wenn die Korinther an den heidnischen Festen in der Stadt teilnehmen

10,8: Das Huren mit den Töchtern der Midianiter (2. Mose 25) => Warnung der Korinther vor sexueller Unmoral

10,10-11 Der Aufruhr der Rotte Korah gegen Mose und Aaron (4. Mose 16) => Murren gegen das Apostolat des Paulus und seine apostolische Lehre

Der „Verderber“ ist wohl ein Engel, der Gottes Gericht ausführt. Die Rotte Korah hatte zwar gegen Mose und Aaron gemurrt, aber da diese auf Gottes Anordnung hin handelten, richtete sich das Murren letztlich gegen Gott selbst. „Murren“ ist dabei etwas anderes als das Prüfen jeder Lehre, die auch Paulus immer wieder befürwortet.

An dieser Stelle steht im Urtext übrigens nicht typos, sondern das abgeleitete Wort typikos: Dieses alles widerfuhr jenen als Vorbild (typikos), zur Ermahnung für uns: Gemeint ist damit, dass wir hier Beispiele für Gottes Gerichtshandeln sehen, und zwar direkt vor unseren Augen. Sie dienen uns zur Ermahnung, und sie wurden aufgezeichnet in der Bibel, damit sie uns zur Buße führen.

6.3 Weitere Hinweise

Der Begriff des „Typos“ wird auch an anderen Stellen im NT verwendet, wie z.B. Mt 12, wo zwar nicht der Begriff, aber die Sache enthalten ist. Jesus legt hier das Leben und Wirken des Propheten Jona im Hinblick auf seine eigene Bußpredigt, seinen Tod, und seine Auferstehung typologisch aus:

Mt 12,39ff. Und er antwortete und sprach zu ihnen: Ein böses und abtrünniges Geschlecht fordert ein Zeichen, aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden, es sei denn das Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoss der Erde sein. Die Leute von Ninive werden auftreten beim Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona.

6.4 „Allegorische“ Auslegung als zusätzliche Möglichkeit?

Gibt es nun neben der typologischen Auslegung eine weitere, die „allegorische“ Auslegung – wie es schon in der frühen Kirchengeschichte behauptet wird?

Für den Begriff Allegorie findet sich nur ein Nachweis im NT, das Verb „allegoreo“ in Gal 4,24.

Für den Begriff selbst findet sich nur ein Nachweis im NT das Verb allegoreo in Gal 4,24. Paulus reflektiert hier über die Befreiung des Christen von einer falschen Gesetzlichkeit. Bereits vorher (3,1ff) wies er nach, wie die Verheißung der Glaubensgerechtigkeit an Abraham in der Heilsgeschichte früher kam als die Gabe des Gesetzes am Sinai. Die Glaubensgerechtigkeit ist deshalb die ursprünglichere Form der Beziehung des Menschen zu Gott. Die Zeit, in der Israel mit Gott aufgrund des Sinaibundes verkehrte, ist dagegen eine „Zwischenlösung“, die nun mit dem Kommen Christus abgetan ist.

In Gal 4,21ff greift Paulus diesen Gedanken noch einmal auf, indem er eine Überlegung über die Söhne Abrahams anstellt: Abrahams Sohn Ismael ist von der Magd Hagar und von ihm stammen die Ismaeliten ab, der andere Sohn Isaak ist von seiner Frau Sara, und durch ihn wird die heilsgeschichtliche Linie über das Volk Israel bis hin zum Israeliten Jesus weitergeführt. Sein Gedankengang ist also:

Eine freie Frau mit ihrem Sohn, eine unfreie Frau (Magd) mit ihrem Sohn => der Bundeschluss mit Abraham (Glaubensgerechtigkeit, in Christus vollendet, Freiheit), der Bundeschluss am Sinai (Werkgerechtigkeit, Gebundenheit unter dem Gesetz)

Die Historizität der zugrunde liegenden Ereignisse wird dabei in keiner Weise bezweifelt. Wir haben es also hier der Sache nach – trotz der Verwendung des Ausdrucks allegoreo – mit einer typologischen Auslegung des AT zu tun, ähnlich wie bei den anderen o.g. Stellen12. Die allegorische Auslegung wird übrigens von ihrem klassischen Vertreter Origenes auch nicht aufgrund dieser Bibelstelle begründet13.

Aus Galater 4 lässt sich keine eigene, „allegorische“ Auslegung begründen, die einen tieferen, dem Literalsinn entgegengesetzten oder ihn übersteigenden Gehalt ergäbe.

Wir halten dagegen fest: auch aus Gal 4,21ff lässt sich keine eigene, „allegorische“ Auslegung begründen, die einen tieferen, dem Literalsinn entgegen gesetzten oder ihn übersteigenden Gehalt ergäbe14.

6.5 Schlussfolgerungen

Die typologische Auslegung ist ein „mehrfacher“ Schriftsinn, auf den uns die Heilige Schrift selbst hinweist. Deshalb zeigt sich gerade bei der Auslegung des AT und ihrer Anwendung etwas vom Wesen der Bibel: Es gibt nichts in der Heiligen Schrift, was nicht auf irgendeine Weise von geistlichem Nutzen für uns wäre. Diese Tatsache hängt direkt mit der Inspiration der Schrift zusammen:

2Tim 3,16: Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit …“

Mit der typologischen Auslegung werden jedoch keine neuen Lehren begründet, die nicht an anderer Stelle explizit (d.h. im Literalsinn) dargestellt werden. Der historische Realismus und die Zuverlässigkeit des AT sind dabei ausdrückliche Voraussetzung. Geschichte wird hier nicht zur Illusion vergeistlicht, sondern es wird Geschichte gedeutet. Dies ist etwas ganz anderes als eine ausdrücklich enthistorisierende Allegorese wie bei Origenes.

Der Geist Gottes hat eine zuverlässige, klare Bibel eingegeben, zu deren Verständnis unsere schöpfungsmäßige Sprachfähigkeit ausreicht. Doch um diese Bibel so zu begreifen, wie es von Gott her gedacht ist, bedarf es der Wiedergeburt durch eben diesen Geist.

Martin Luther hat diesen beiden Polen eine gute Bezeichnung gegeben: Es bedarf zur angemessenen Bibelauslegung der „äußeren Klarheit“ der Schrift selbst, und es bedarf der geistgewirkten „inneren“ Klarheit beim Ausleger.15 So bleiben wir vor beiden Extremen bewahrt: Vor der schwarmgeistigen Lösung vom geschriebenen Wort, und vor der geistlosen Gelehrsamkeit ohne persönliche Beziehung zum Gekreuzigten.

 

Teil 2: Schlaglichter aus der Kirchengeschichte

Wer sich mit der Geschichte der Kirche und der der Bibelauslegung beschäftigt, wird feststellen: Es gibt kaum einen guten, förderlichen Gedanken, den nicht ein großer Ausleger vor uns schon einmal gedacht und gelehrt hätte. Und ebenso gibt es kaum eine Irrlehre oder Sekte, die nicht auf die eine oder andere Weise schon einmal da gewesen wäre: Bibelauslegung zwischen Fantasie und Wirklichkeit.

Der Prediger Salomo hatte recht, als er sagte:

Prediger 1:9 Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne.

Wer sich mit der Geschichte der Kirche und mit der Geschichte der Bibelauslegung beschäftigt, wird fest stellen: Es gibt kaum einen guten, förderlichen Gedanken, den nicht ein großer Ausleger vor uns schon einmal gedacht und gelehrt hätte. Und ebenso gibt es kaum eine Irrlehre oder Sekte, die nicht auf die eine oder andere Weise schon einmal dagewesen wäre.

In diesem Sinne wollen wir an zwei ausgewählten Punkten nachfragen, was große Geister aus alten Zeiten uns zum Thema „Bibelauslegung und Heiliger Geist“ hinterlassen haben. Ich habe die Theologen Origenes und Luther bewusst ausgewählt, weil m.E. bei ihnen  beispielhaft Wege bzw. Abwege der Schriftauslegung deutlich werden, die als „klassisch“ gelten können, und deren Ideen – bewusst oder unbewusst – über die Jahrhunderte bis heute einen enormen Einfluss ausüben.

Selbstverständlich wäre gerade über die Zeit nach der Reformation viel zu sagen: über die systematische Darstellung  der Glaubenslehre bei Johannes Calvin16, oder über die große Bedeutung der Bibel im Pietismus. Bei der Tradition meiner eigenen Kirche wäre zu denken an John Wesley: wie er fest hielt an einem bibeltreuen Schriftverständnis, inmitten einer vom Vernunftglauben der Aufklärung geprägten Kirche.17 Wir beschränken uns dagegen – allein schon aus Platzgründen – auf die genannten Beispiele. Immer wieder wollen wir uns dabei fragen: Was können wir dabei für uns heute lernen?

1 Origenes

1.1 Wer war Origenes?

Origenes18 wurde wurde im Jahr 185 n.Chr. geboren, wahrscheinlich in Alexandria (Ägypten), und starb 254 n.Chr. in Tyrus (Phönizien, heute Libanon). Er gehört zu den bekanntesten Lehrern der Alten Kirche und hinterließ ein schier unüberschaubares Werk, das meiste davon Bibelauslegungen. Viele spätere Theologen haben von ihm gelernt – sei es positiv oder in Abgrenzung von ihm. Berühmt wurde seine Bibelausgabe Hexapla, mit der er gegenüber jüdischen Anfragen die Korrektheit der Septuaginta – der griechischen Übersetzung des hebräischen Alten Testaments – beweisen wollte. Seine Zeitgenossen bescheinigten ihm einen unglaublichen Eifer und Entsagungswillen, den er bei der Verteidigung des christlichen Glaubens an den Tag legte. Der häufig kolportierte Bericht, Origenes habe sich sogar – um keusch zu bleiben – in jungen Jahren selbst entmannt, ist jedoch vermutlich in das Reich der Fabeln einzuordnen.

Bei allem Respekt für seine Gelehrsamkeit und seine scharfsinnigen Auslegungen gehört Origenes aber auch zu den umstrittensten Lehrern der Alten Kirche. Unter Kaiser Justinian I. wird er im Jahr 543 n.Chr. zum Irrlehrer erklärt, ebenso erklärt das Konzil von Konstantinopel im Jahr 553 einige seiner eigenen bzw. der Lehren seiner Anhänger für falsch. Hieronymus19 – ebenfalls einer der bedeutendsten Ausleger der Alten Kirche – bewundert Origenes zunächst, grenzt sich aber später deutlich von seiner Art der Bibelauslegung ab.

Was war so problematisch an diesem bedeutenden Mann? Seine Absichten waren ehrbar und aus dem Wunsch heraus motiviert, dem Christentum Gehör zu verschaffen, sei es gegenüber den Angriffen jüdischer Rabbinen, oder den Lehren griechisch geprägter Philosophen. Um hier Rechenschaft über den christlichen Glauben zu geben, entwickelte er ein kompliziertes, höchst spekulatives Gedankengebäude, das letztlich auf zwei Säulen ruht: der grenzenlosen Güte und Liebe Gottes, und dem freien Willen aller seiner Geschöpfe. Dieses System hat er vor allem in seinem Werk De Principiis („Von den Anfängen“) geschlossen dargestellt:

Nachdem Gott alle Kreaturen als reine Geistwesen erschaffen hatte, wandten sich diese von der reinen Anbetung Gottes ab. Daher erschuf Gott die materielle Welt als eine Art „Erziehungsanstalt“, um diese verirrten Seelen wieder auf den rechten Weg zurückzubringen. In dieser Welt leben wir bis heute und müssen uns – in unserem nunmehr leiblichen – Leben abmühen.

Jesus Christus nimmt dabei eine Sonderstellung ein: Er ist die einzige nicht abgefallene Seele. Er vereinigte sich mit dem ewigen Wort, das schon immer bei Gott dem Vater war. Durch ihn, den Mittler, sollen die Geschöpfe wieder zu Gott zurückgebracht werden. Nach einem langen, komplizierten Läuterungsprozess, in diesem Leben und danach, sollen die Geschöpfe dabei lernen, sich wieder freiwillig Gott zuzuwenden. Auf diese Weise ist es möglich, dass letztlich alles und jeder erlöst wird – sogar der Satan hat die Möglichkeit, wieder um zukehren. Falls die Geschöpfe sich jedoch – aus ebenso freien Stücken – wieder von Gott abwenden, könnte dieser Kreislauf von Neuem beginnen.

Wo nur der Geist zählt, gerät die greifbare Wirklichkeit der Schöpfung aus dem Blick.

Natürlich kann sein System hier nur in äußerster Verkürzung dargestellt werden – man kann sich aber vielleicht vorstellen, warum solche Gedanken bei biblisch denkenden Auslegern durchaus umstritten waren. Was uns von seinen Auffassungen  weiter beschäftigen wird, ist seine starke Abwertung von Leiblichkeit, Geschichte und allem, was wir als „harte Tatsachen“ bezeichnen würden. Wo nur der Geist zählt, gerät die greifbare Wirklichkeit der Schöpfung aus dem Blick – auch im Bibelverständnis.

1.2 Origenes‘ Bibelverständnis

1.2.1 Die Verteidigung des christlichen Glaubens als Hintergrund

Bei der Betrachtung seines Bibelverständnisses beschränke ich mich auf seine eigene zusammenfassende Darstellung, die er in seinem Werk De Principiis („Von den Anfängen“) gibt – wohl wissend, dass seine weiteren Werke noch mehr Aufschluss geben würden.20

Origenes behandelt sein Schriftverständnis im letzten und kürzesten Buch der vier Bücher von De Principiis. Auch hier wird sofort sein o.g. Anliegen sichtbar, den christlichen Glauben  darzulegen und zu verteidigen. Als Gegenüber haben wir uns dabei zum einen jüdische Ausleger vorzustellen, die Jesus nicht als Messias anerkennen wollen. Sie nehmen Anstoss an Bibelstellen wie:

Jes 65:25 Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen.“

Diese messianischen Weissagungen – so sagen sie – hätten sich ja offensichtlich mit dem Kommen Jesu nicht vor ihren Augen erfüllt. Wie könnte Jesus also der Messias sein?

Zum anderen sind es vermutlich Irrlehrer in der Tradition von Marcion, der in der Bibel zwei verschiedene Götter fand: einen alttestamentlichen Rachegott – den Schöpfer der Welt -, und den neutestamentlichen Erlösergott, der aus Liebe Jesus Christus in die Welt sandte.21 Solche Menschen nehmen Anstoß an den „dunklen“ Seiten Gottes, z.B. an den Aussagen über seinen Zorn:

Am 3:6 Bläst man etwa die Posaune in einer Stadt und das Volk entsetzt sich nicht? Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der HERR nicht tut?“

Origenes sieht das Grundproblem dieser Anstösse und falschen Lehren in der Beschränkung auf den reinen Literalsinn der Bibel:

Der Grund aller Punkte, die ich oben aufgezählt habe, der falschen Auffassungen, der pietätlosen (…) und unwissenden Aussagen über Gott, ist offensichtlich nichts anderes als (der Fehler), die Schrift nicht ihrem geistlichen Sinn nach zu verstehen, sondern (lediglich) nach dem reinen Buchstaben.22)

1.2.2 Verbalinspiration

Die Grundvoraussetzung für eine solche geistliche Auslegung ist die göttliche Inspiration und Wahrheit der biblischen Schriften. Zunächst bringt er daher Beweise dafür – insbesondere die alttestamentlichen Prophetien, die sich in Christus erfüllen, führt er als Beleg an23.

Origenes war kein „Bibelkritiker“ im modernen Sinn, sondern er hatte in vielem sehr „orthodoxe“ Auffassungen über das Wesen der Heiligen Schrift.

Origenes legt großen Wert auf die Rolle der menschlichen Vernunft – aber dabei erkennt er an, dass ihm die ganze Heilige Schrift als Gottes Wort vorgegeben ist. Wir sollten diesen Zusammenhang nie vergessen – Origenes war kein „Bibelkritiker“ im modernen Sinn, sondern er hatte in vielem sehr „orthodoxe“ Auffassungen über das Wesen der Heiligen Schrift.

1.2.3 Die geistliche Schriftauslegung zur Versöhnung von Vernunft und Glauben

Aber zurück zu Origenes, dessen Frage lautet: Wie kann man die Anstösse vermeiden, die der biblische Text unserer Vernunft und Logik immer wieder bereitet? Origenes möchte einen rationalistisch bestimmten Denkansatz mit den rechtgläubigen Lehren der Kirche versöhnen. Denn, so meint er: Wir dürfen uns nicht vom Schatz der Bibel abschrecken lassen, der in den  irdenen Gefässen unansehnlicher und gewöhnlicher Sprache verborgen ist24. Ausgehend von der Inspiration der Bibel entwickelt er dazu seine Lehre vom dreifachen Schriftsinn:

Denn wie der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht, so ist es auch mit der Heiligen Schrift, die (in dieser Weise) von Gott zur Rettung der Menschen gegeben wurde.25

Der Mensch soll daher die Gedanken der Bibel auf dreifache Weise auffassen26. Dabei profitiert der Mensch zuerst vom „Leib“ der Schrift, dem offensichtlichen Wortsinn. Hier kann er vieles lernen, z.B. über die Schöpfung, über das Leben der Glaubensväter im AT, ihr Leben und auch ihre Verfehlungen. Origenes denkt hier anscheinend besonders an eine moralische Besserung der gewöhnlichen Menschen, denen auf diese Weise biblische Beispiele vor Augen gestellt werden.27 Eine Stufe höher als der Leib ist die Seele der Schrift, verständlich für einen Menschen, der gewisse Fortschritte gemacht hat (vgl. die o.g. Erziehung der Menschheit). Dieser seelische Sinn der Schrift wird allerdings von Origenes nicht ausführlich dargestellt.

Origenes meint, Gott habe in seinem Wort absichtlich Stolpersteine und Anstöße eingebaut.

Damit aber niemand denkt, er hätte damit den gesamten Sinngehalt der Schrift  erfasst, darum hat Gott in seinem inspirierten Wort absichtlich (!) Stolpersteine und Anstösse eingebaut: Dinge, die so unmöglich geschehen sein können (z.B. die Beschreibung der ersten drei Schöpfungstage – es wird Abend und Morgen, obwohl die Himmelskörper erst am dritten Tag geschaffen werden), Dinge, die nicht so stattgefunden haben wie beschrieben, Gesetze, die Unmögliches und Sinnloses enthalten (z.B. komplizierte Sabbatvorschriften, Speisevorschriften). Durch diese Anstösse soll der Bibelleser angehalten werden, nach dem „Mehr“ zu suchen – eben dem Geist der Schrift.28

Entscheidend ist deshalb die geistliche Auslegung – sie ist zugänglich für den „vollkommenen“ Menschen, der genügend göttliche Weisheit dazu mitbringt – wobei dabei selbst einem Paulus Grenzen der Erkenntnis geblieben sind29. Dabei geht es darum, den hinter den Worten liegenden, verborgenen Sinngehalt zu verstehen:

Darum soll jeder, dem es an der Wahrheit liegt, sich wenig um Worte und Sprache kümmern. Denn man sieht, wie in jedem Volk (ohnehin) verschiedener Sprachgebrauch vorherrscht. Ein solcher (Mensch) soll statt dessen seine Aufmerksamkeit auf die Bedeutung richten, die die Worte übermitteln, und nicht auf die Worte, die diese Bedeutung übermitteln. Dies gilt insbesondere in so wichtigen und schwierigen Angelegenheiten…“ (Anm.: gemeint ist die Lehre von der Dreieinigkeit und der Natur Christi, die im Folgenden zusammengefasst wird)30

Wir sehen, wie hier alle Worte einen verborgenen Hintersinn bekommen können – es geht gleichsam um einen besonderen Code, der nur Eingeweihten verständlich ist. Im Rahmen dieses Codes ist die Spannung zwischen Verstand und Glauben aufgehoben. Dem Verstand anstössige Stellen werden durch geistliche Auslegung zu Quellen tiefer Glaubenslehren, in denen man z.B. verborgene Hinweise auf die Dreieinigkeit oder das Wesen Christi findet.31 Oder die Geschichte Israels und seiner Nachbarvölker wird unvermittelt zum Sinnbild, zur Allegorie: Die verschiedenen Völker und ihre Wohnorte stehen für die „Wohnorte“ der Seele, die ihr von Gott nach diesem Leben zugewiesen werden – entsprechend ihren Sünden bzw. guten Werken, gemäss dem o.g. göttlichen „Erziehungsprogramm“.32

Dabei wird der Literalsinn der Schrift nicht aufgehoben: Origenes erkennt durchaus an, dass die meisten Berichte der Bibel historisch wahr sind, und die meisten von Gott gegebenen Gesetze sinnvoll. Inwieweit der Literalsinn gilt oder aber zu einer unmöglichen Auslegung führt, hat der Ausleger durch sorgfältige Beschäftigung mit dem Text zu prüfen. Der verborgene, geistliche Sinn der Schrift dagegen ist der Bibel in ihrer Gesamtheit gegeben – ihn zu erforschen, sollte das erste Anliegen des Auslegers sein.33

1.2.4 Origenes‘ wichtigste Belegstellen zur Begründung seiner Lehre

Fragt man nach der Begründung dieses fantastischen Konzepts, stösst man zunächst auf ein Zitat aus Sprüche 22,20f in der Fassung der Septuaginta –  der griechischen Übersetzung des AT – die damals als Autorität galt. Origenes zitiert dabei recht frei:

Beschreibe sie in dreifacher Weise (wörtl. in der Septuaginta: „dreimal“), in Rat und Erkenntnis, um Worte der Wahrheit denen zu antworten, die es dir auftrugen.34

In der revidierten Elberfelder Übersetzung, die nach dem hebräischen Urtext übersetzt, heisst es dagegen:

Habe ich dir nicht dreißig Sprüche aufgeschrieben mit Ratschlägen und Erkenntnis, um dich zu lehren die Wahrheit zuverlässiger Worte, so daß du denen, die dich gesandt haben, zuverlässige Antwort geben kannst?

Schon bei der Begründung des dreifachen Schriftsinns ist Origenes gezwungen, erheblich vom Wortsinn abzuweichen.

Schon bei der Begründung des dreifachen Schriftsinns ist Origenes hier offensichtlich gezwungen, erheblich vom Wortsinn seiner Belegstelle abzuweichen, selbst dann, wenn man nur den Text der Septuaginta zugrunde legt. Man muss daraus schliessen, dass die Legitimität der geistlichen Auslegungsmethode hier selbst mit einer – scheinbar beliebig gewählten – geistlichen Auslegung von Sprüche 22,20f begründet wird – womit sich die Katze gleichsam in den eigenen Schwanz beisst.

An anderer Stelle nimmt Origenes Bezug auf die Gleichnisse Jesu:

Matthäus 13:44 Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker.

Der verborgene Schatz sei hier der verborgene Reichtum der Schrift, der Sinn hinter dem Wortsinn, der nur mit Hilfe der geistlichen Auslegung hervorgebracht werden kann. Wieder gebraucht Origenes eine Auslegung gegen den Wortsinn, um seine Methode zu begründen: Denn dem Kontext nach bedeutet der Schatz entweder Jesus, den ein Mensch gefunden hat und für den er in der Nachfolge alles aufgeben will, oder (m.E. noch treffender), der gefallene Mensch, für den Jesus alles aufgibt und sogar sein eigenes Leben „verkauft“, um ihn zu erlösen.

An anderer Stelle wird dagegen von den notwendigen Voraussetzungen beim Ausleger her argumentiert: Nur der vom Geist erleuchtete Ausleger kann die Schrift recht verstehen. Hier kommt eine Bibelstelle ins Spiel, die in der kirchlichen Tradition häufig zitiert wird, nämlich  2. Korinther 3,6:

… Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

Origenes verwendet sie im ersten Buch von De Principiis, als er über die Unkörperlichkeit Gottes nachdenkt: Gott ist seinem Wesen nach Geist, nicht Körper.35 Origenes sagt nun im Zusammenhang mit der Erkenntnis der Bibel: erst wenn wir uns Gott zuwenden, offenbart uns der Geist Gottes geistliches Wissen und wir erkennen in der Schrift die Herrlichkeit Gottes.

Im vierten Buch, als er seine Schriftlehre ausführlich entfaltet, dient dagegen in erster Linie 1 Korinther 2 als Belegstelle36:

12 Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, dass wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist. 13 Und davon reden wir auch nicht mit Worten, wie sie menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen. 14 Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich beurteilt werden. 15 Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt. 16 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen« ? Wir aber haben Christi Sinn.

Die Legitimität einer solchen Auslegung von 1 Korinther 2 haben wir bereits in Teil A nachgewiesen. Auch 2. Korinther 3,6 gehört sicherlich zu Recht in diesen Zusammenhang. Wir haben allerdings in Teil A auch gesehen, wie die Notwendigkeit einer „Theologie der Wiedergeborenen“ niemals gegen den Literalsinn der Schrift ausgespielt wird. Ausserdem hat die Fähigkeit zu solcher geistlichen Auslegung jeder wiedergeborene, gläubige Mensch – nicht nur ein solcher, der zusätzlich bestimmte geistliche Stufen erklommen hat.

Selbst wenn wir noch weitere Belegstellen von Origenes heranziehen – wir kommen an dieser Stelle m.E. nicht weiter, als zu sagen: Die Schriftlehre von Origenes ist ein kompliziertes, sich selbst begründendes System. Nur wer sich darauf einlässt, kann es nachvollziehen – dem schlichten, einfachen Bibelleser bleibt es tatsächlich „zu hoch“.

1.3 Zwischenbilanz

Wer – wie ich – eine Ader für fantastische Romane und Filme hat, kann sich der Faszination beim Lesen von Origenes nur schwer entziehen – seine Ausführungen wirken an manchen Stellen wie „Science Fiction und Fantasy für Fromme“. Würde Origenes heute leben, wäre sein Universum möglicherweise von Ausserirdischen und Raumschiffen bevölkert, und in der Bibel würde man mit Hilfe geistlicher Auslegung Anleitungen finden, wie wir mit diesen Ausserirdischen Kontakt aufnehmen können…

Was hier mit einem Augenzwinkern gesagt ist, wird von anderen Zeitgenossen durchaus ernsthaft betrieben, z.B. auf der Internetseite www.origenes.de: Hier findet man eine Mischung von theologischer Belehrung aus katholischer Sicht einerseits und Esoterik andererseits, einschliesslich Schriften der Art „Meine Wanderungen in der Geisterwelt“ – zum freien Herunterladen für jeden Interessierten.

Es scheint so, dass Origenes nach fast 1800 Jahren gut in unsere moderne Zeit passt, die sich der Grenzen von Vernunft und Technik nur allzu bewusst geworden ist, und sich wieder nach dem Geheimnisvollen und Höheren sehnt. Wie gehen wir als Christen mit dieser Sehnsucht um, wenn wir dabei klar und nüchtern das Wort Gottes im Auge behalten wollen? Wir werden am Schluss diese Fragen noch einmal ausführlicher in den Blick nehmen.

2 Martin Luther

2.1 Voraussetzungen

Über Martin Luther (1483-1546) ist schon so viel geschrieben worden, im Geschichtsunterricht der Schulen vermittelt worden, ja selbst in jüngster Zeit als Film gedreht worden, dass ich mir eine ausführliche Einführung in sein Leben und Denken sparen kann. Seine Wiederentdeckung des Evangeliums, seine vier reformatorischen Prinzipien (allein die Schrift, allein Christus, allein aus Gnade, allein durch den Glauben) haben alle mit seiner Art zu tun, das Wort Gottes zu verstehen und auszulegen – und darum soll es uns im Folgenden gehen.

Bereits in Teil A lasen wir über die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die im Mittelalter von Thomas von Aquin in klassischer Form formuliert wurde. Wenn man es genau nimmt, geht es dabei eigentlich um einen zweifachen Schriftsinn: den Literalsinn auf der einen Seite, und drei verschiedene Arten eines geistlichen Sinns auf der anderen Seite. Wir erinnern uns, wie die Schriftlehre schon bei Origenes im Grunde auf einen zweifachen Schriftsinn hinauslief: einen leiblich-seelischen Sinn, und einen geistlichen Sinn. Martin Luther dagegen ist in seinem Schriftverständnis als Theologe zu verstehen, der von der mittelalterlichen Theologie herkommt, und im Laufe seiner Glaubensentwicklung eine Revolution im Bibelverständnis auslöst.37

Die allegorische Auslegung, die sich in der Nachfolge von Origenes in der Kirche etabliert hatte, war zwar durch ihre strenge Anbindung an die offizielle kirchliche Lehre gezähmt worden, und Wildwuchs wie bei Origenes fand man bei weitem nicht überall. Dennoch war die Frage nach der Zuordnung von „Geist und Buchstaben“ der Schrift nach wie vor offen. Stark vereinfacht gesagt: Man gebrauchte den Literalsinn, um die in der Bibel geschilderten historischen Ereignisse zu verstehen, den geistlichen Sinn dagegen zur Begründung der kirchlichen Glaubenslehre.

Eine „allegorische“ Auslegungsmethode verwirft Luther nicht grundsätzlich.

Bei Luther finden wir bereits in seinen frühen Werken, also vor seinem Thesenanschlag im Jahr 1517, Hinweise auf eine starke Aufwertung des Literalsinns. Im Verlauf der Reformation versucht Luther nun gemäss seinem Prinzip „Allein die Schrift“, die christliche Lehre ausschliesslich aus dem Wortsinn der Bibel zu gewinnen – und zwar aus dem NT gleichermaßen wie aus dem AT. Eine „allegorische“ Auslegungsmethode verwirft er nicht grundsätzlich, aber er gebraucht sie nicht mehr zur Feststellung verbindlicher kirchlicher Lehre, sondern als Illustration des Wortsinns – man könnte sagen, gleichsam als Predigtbeispiel. In in den meisten Fällen wird man sich m.E. an das erinnert fühlen, was wir in Teil A als „typologische Auslegung“ bezeichnet haben.

2.2 Die Schriftlehre in der Luther-Schrift „Vom unfreien Willen“

2.2.1 Der Hintergrund

Anders als sein Mitarbeiter Melanchthon oder später Johannes Calvin hat Martin Luther nirgends einen systematischen Gesamtentwurf seiner Glaubenslehre niedergeschrieben. Seine Lehre über die Heilige Schrift findet sich in seinen Werken verstreut. Einige wesentliche Gedanken hat er in seiner Auseinandersetzung mit den Schwärmern  geäussert, die sich auf  besondere Offenbarungen beriefen, abgelöst vom geschriebenen Wort der Bibel.38 Eine nähere Beschäftigung damit würde aber zu weit führen.39 Uns dagegen soll hier besonders eine Schrift interessieren, die aus der Auseinandersetzung mit dem Rotterdamer Humanisten Erasmus (1469-1536)40 entstand: De servo arbitrio, deutsch „Vom unfreien Willen“.41

Der Name der Schrift ist Programm und berührt eine der Kernfragen der Reformation: Kann der Mensch sich „für Jesus entscheiden“, oder liegt unser Heil allein an Gottes souveränem Ratschluss, so dass selbst unser Glaube allein durch Gott entsteht und erhalten wird? Erasmus hatte die Frage im Sinne einer logisch „stimmigen“, Glaubenslehre beantwortet, und ging dabei konform mit der offiziellen kirchlichen Lehre seiner Zeit: De libero arbitrio, zu deutsch „Vom freien Willen“, hiess seine Schrift von 1524, auf die Luther 1525 mit De servo arbitrio antwortete.42

Erasmus hatte über das Thema keine „Streitschrift“ verfasst, so, wie z.B. später John Wesley vehement für den freien Willen stritt, in seiner Auseinandersetzung mit George Whitefield43. Erasmus‘ Auffassung lief – vereinfacht ausgedrückt – darauf hinaus: Das ganze Thema ist im Grunde ein Theologenstreit, die Bibel sagt ohnehin nichts Genaues darüber, und der einfache Bibelleser muss sich damit auch nicht beschäftigen.

„Ein Christ muss Freude an Bekenntnissen haben, oder er wird kein Christ sein.“

Genau das ist der Punkt, durch den Luther nun die Glaubensgewissheit und damit das Christentum in seinem Kern angegriffen sieht:

„…ein Christ muß Freude an Bekenntnissen haben, oder er wird kein Christ sein. … Hebe die verbindlichen theologischen Aussagen auf, und du hast das Christentum aufgehoben.“44

Wie hat sich Gott uns offenbart durch seinen Heiligen Geist? Luther antwortet darauf:

Der Heilige Geist ist kein Skeptiker, nicht Zweifel oder subjektive Ansichten hat er in unsere Herzen geschrieben, sondern verbindliche Aussagen, die gewisser und unerschütterlicher sind als das Leben selbst und alle Erfahrung.“45

2.2.2 „claritas externa“ – Die äussere Klarheit der Schrift

Die Auffassung des Erasmus – „Nichts Genaues weiss man nicht“ – kommt im Grunde aus einer falschen Schriftlehre, so meinte Luther. Ist die Schrift in entscheidenden Fragen dunkel und unverständlich? Origenes hatte darauf geantwortet: Ja, an vielen Stellen – wenn man sie nicht in erster Linie ihrem geistlichen, allegorischen Sinn nach versteht. Der aber ist nur den besonders  „geistlichen“  Christen zugänglich. Erasmus sagt: Ja – und deshalb gibt es viele Fragen, die unklar bleiben müssen. Aus pragmatischen Gründen halten wir uns aber an die offizielle kirchliche Lehre. Luther stellt dagegen: Nein – die Schrift ist klar und deutlich, und zwar in ihrem Literalsinn. Deshalb muss sie allein der letzte Maßstab sein, nach dem unser Glauben und alle kirchliche Lehre zu beurteilen sind. Deshalb ist die Schrift – in ihrem Literalsinn – der Grund unserer Glaubensgewissheit.

Um das zu verstehen, müssen wir zunächst genau unterscheiden zwischen Gott auf der einen Seite, und seiner Offenbarung in der Heiligen Schrift auf der anderen Seite:

Es sind zwei Dinge: Gott und die Schrift Gottes; nicht weniger als es zwei Dinge sind: Schöpfer und Geschöpf Gottes.46

In der Tat hat Gott uns nicht alles offenbart über sich und seine Ratschlüsse:

Daß in Gott viele Dinge verborgen sind, die wir nicht zu erkennen vermögen, das bezweifelt niemand, wie er auch selbst sagt vom jüngsten Tage: „Von jenem Tage weiß niemand, sondern allein der Vater.“ Und Apg. 1,7: „So gebührt euch nicht, zu wissen Zeit oder Stunde.“ Und wiederum: „Ich weiß, welche ich erwählt habe.“ Und Paulus: „Der Herr kennt die Seinen“, und dergleichen.47

Diese Tatsache wird später in De servo arbitrio noch eine große Rolle spielen, wenn Luther sich Gedanken macht über Gottes Zorn und über seine Verborgenheit: Gott ist grösser als das, was er uns von sich offenbart hat – das dürfen wir nie vergessen.

Etwas anderes dagegen ist es mit der Heiligen Schrift. Wir haben zwar in ihr kein logisch völlig in sich stimmiges, „mathematisch exaktes“ und vollständiges Glaubenssystem zu erwarten:

Die Schrift bekennt ohne Einschränkung die Dreieinigkeit Gottes, die Menschheit Christi und die unvergebbare Sünde. Hier ist nichts von Dunkelheit und Zweideutigkeit. Wie sich das jedoch verhält, sagt die Schrift nicht48

Doch ist eine solche Logik auch nicht der entscheidende Antrieb beim Erfassen christlicher Lehre, sondern es steht dahinter eine große Verheissung: Gott will sich uns mitteilen, er will für uns nicht verborgen bleiben. Genau darin besteht das Wesen der Sendung Christi, und das Wesen des Evangeliums:

Denn was kann an Erhabenem in der Schrift verborgen bleiben, nachdem die Siegel gebrochen, der Stein von des Grabes Tür gewälzt und damit jenes höchste Geheimnis preisgegeben ist: Christus, der Sohn Gottes, sei Mensch geworden, Gott sei dreifaltig und einer, Christus habe für uns gelitten und werde herrschen ewiglich?49

Ein geheimnisvoller „Sinn hinter dem Wortsinn“ dagegen wäre das Gegenteil des Evangeliums.

Ein geheimnisvoller „Sinn hinter dem Wortsinn“ dagegen wäre gleichsam das Gegenteil des Evangeliums. Wir erinnern uns an Teil A, wo wir gesehen haben: Gott redet „geradeaus“, ohne Hintergedanken. Luther fügt hinzu: Gott redet öffentlich, so dass es jedermann hören und verstehen kann – genau das ist das Sinn der Heilsbotschaft:

Und was die höchste Erhabenheit und die verschlossensten Geheimnisse betrifft, so befinden sie sich nicht an einem abgeschiedenen Ort, sondern sind in aller Öffentlichkeit und vor aller Augen vorgeführt und ausgestellt. Christus nämlich hat uns den Sinn aufgetan, dass wir die Schrift verstehen. Und „das Evangelium ist aller Kreatur gepredigt“. „Ihr Schall ist ausgegangen in alle Lande.“ Und „alles, was geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben“. Weiter: „Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre.“50

Deshalb finden wir in der Schrift auch keinen „geheimen Code“, sondern Gott hat sich uns dort klar und deutlich, für jedermann verständlich offenbart:

Wenn du aber von der äußeren Klarheit sprichst, so bleibt ganz und gar nichts Dunkles und Zweideutiges übrig, sondern alles, was auch immer in der Schrift steht, ist durch das Wort ins gewisseste Licht gerückt und aller Welt öffentlich verkündigt.51

2.2.3 „claritas interna“ – Die innere Klarheit im Herzen des Auslegers

Auch Luther kennt die Erfahrung, dass wir in der Schrift keineswegs auf Anhieb alles verstehen. Doch das liegt nicht am Wesen der Schrift oder an einem geheimnisvollen „Sinn hinter dem Wortsinn“, sondern an unseren eigenen Begrenzungen. Die erste Begrenzung des Auslegers ist seine unvollkommene Sprach- und Bibelkenntnis:

Freilich gestehe ich, daß viele Stellen in der Schrift dunkel und verschlossen sind, nicht wegen der Erhabenheit der Dinge, sondern wegen der Unkenntnis der Worte und der Grammatik, die  jedoch in nichts das Verständnis aller Dinge der Schrift aufhalten kann.52

All diese denkerischen Bemühungen nützen aber nichts, wenn der Ausleger sich daran versucht, ohne eine persönliche Beziehung zu Christus, der lebendigen Mitte der Schrift, zu haben:

Wenn jedoch vielen vieles verschlossen ist, so liegt das nicht an der Dunkelheit der Schrift, sondern an der Blindheit oder Beschränktheit jener, die sich nicht bemühen, die allerklarste Wahrheit zu sehen, so wie Paulus von den Juden sagt, 2. Kor. 4,3.: „Die Decke bleibt auf ihren Herzen.“ Und wiederum: „Ist nun unser Evangelium verdeckt, so ist’s in denen, die verloren gehen, verdeckt; deren Herzen der Gott dieser Welt verblendet hat.“53

Es gibt eine zwiefache Klarheit der Schrift, so wie auch eine zwiefache Dunkelheit.

Deshalb kann Luther von einer äusseren Klarheit der Schrift und andererseits von einer inneren Klarheit im Herzen des Auslegers sprechen:

Und, um es kurz zu sagen: Es gibt eine zwiefache Klarheit der Schrift, so wie auch eine zwiefache Dunkelheit, eine äußerliche im Dienst des Wortes gesetzte und eine andere, in der Erkenntnis des Herzens gelegene. Wenn du von der inneren Klarheit sprichst, nimmt kein Mensch auch nur ein Jota in der Schrift wahr, wenn er nicht den Geist Gottes hat. Alle haben ein verfinstertes Herz … Der Geist nämlich ist zum Verstehen der ganzen Schrift und auch nur irgendeines Teiles derselben erforderlich.54

2.3 Fazit

Luther fordert – ohne das er den Begriff ausdrücklich verwendet – eine „Theologie der Wiedergeborenen“, wie wir sie schon in Teil A bei Paulus vorgefunden haben. Andererseits besteht er vehement darauf, dass die Schrift in ihrem Literalsinn für jedermann klar verständlich ist – alles andere würde dem Wesen des Evangeliums als frohe Botschaft für die ganze Welt widersprechen. Beide Klarheiten zusammen bilden den Grund einer festen Glaubensgewissheit und einer biblisch fundierten christlichen Lehre, denn: „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker.“

Wo wir die Bibel trotzdem – noch – nicht verstehen, haben wir nicht nach höheren „geistlichen“ Stufen des Christentums zu suchen. Wir haben uns aber auch nicht achselzuckend mit einer „Unklarheit der Schrift“ oder einem Hinweis auf „unnötiges Theologengezänk“ zu begnügen. Vielmehr sollte uns dies einerseits in ein vermehrtes Studium der Bibel und der biblischen Sprachen führen, damit wir den Literalsinn der Bibel noch besser erfassen können. Andererseits sollte uns als Christen dadurch unsere Abhängigkeit vom Wirken des Heiligen Geistes deutlich werden, die uns beim Auslegen der Bibel immer wieder ins Gebet treibt: Veni, creator spiritus – Komm, Schöpfer Geist. Wer sich mit dem Leben und Werk Luthers näher befasst, wird beiden Bemühungen immer wieder begegnen.

3 Ausblick für heute

Wir haben zwei große Gestalten der Kirchengeschichte betrachtet, die – jeder auf seine Art – zweifellos genial und tiefsinnig über die Frage „Bibelauslegung und Heiliger Geist“ nachgedacht haben. Ebenso wurde – wie schon in Teil A – klar, dass es dabei immer wieder um  zwei Grundprobleme geht: Die Frage nach dem Literalsinn der Schrift, und die Frage nach der geistlichen Beziehung des Auslegers zu Christus. Mein eigener Standpunkt in dieser Frage ist – so denke ich – ebenfalls hinreichend klar geworden.

Wahrscheinlich die meisten Irrlehren in der Geschichte der Kirche wurden ganz ohne die „Hilfe“ der modernen Bibelkritik konstruiert.

Mit einigen Thesen möchte ich nun zum Schluss andeuten, was ich aus den Untersuchungen aus Teil A und B für unsere kirchliche Arbeit heute lernen möchte:

  1. Es geht beim Thema „Bibelauslegung und Heiliger Geist“ nicht um „Theologengezänk“ und graue Theorie, sondern es steht hier tatsächlich alles auf dem Spiel, was uns an unserem Glauben lieb und wert ist. D.h. es geht dabei weniger um wissenschaftliche Fragen, als vielmehr um die Frage der Glaubensgewissheit.
  2. Eine wirklich bibeltreue Auslegung kann sich nicht in blosser rechtgläubiger Gelehrsamkeit erschöpfen. Sie muss immer von meiner lebendigen Beziehung zu Christus geprägt sein, begleitet vom Gebet.
  3. Als geistliche Voraussetzung auf Seiten des Auslegers und Hörers der Schrift genügt dabei der Glaube an Christus, oder anders ausgedrückt: die geistliche Wiedergeburt. Dazu kommen in keinem Fall weitere „höhere Weihen“, nenne man sie „reifen Erkenntnisstand“, „Fülle in Christus“, „Geistestaufe“, „besondere Offenbarung“, oder wie auch immer.
  4. Mit dem Glauben an die Verbalinspiration ist die notwendige lehrmäßige Formulierung unseres Glaubens noch längst nicht erschöpft – hier wären wir z.B. mit Origenes durchaus eins geworden. Ich möchte deshalb die These wagen: Wahrscheinlich die meisten Irrlehren in der Geschichte der christlichen Kirche wurden ganz ohne die „Hilfe“ der modernen Bibelkritik konstruiert. Im Gegenteil gehen häufig die krausesten Lehren und die merkwürdigsten Sektierer einher mit einer sehr orthodoxen Lehre von der Verbalinspiration.
  5. Unsere kirchlichen Lehren – sei es über Dreieinigkeit, Gemeinde, Taufe, Erwählung, Ehe und Familie, Homosexualität, Umgang mit dem Geld usw. – müssen daher nachvollziehbar aus dem Wortsinn der Schrift begründet sein. Dies bewahrt uns davor, in ein sich selbst begründendes System abzugleiten (vgl. Origenes) – sei es methodistisch, lutherisch, brüdergemeindlich, historisch-kritisch,  kreationistisch, evolutionistisch, oder was auch immer.
  6. Bei dieser Begründung unserer Lehren wollen wir die Schrift in ihrem Literalsinn so nehmen, wie sie uns von Gott gegeben wurde. Dies gilt auch dann, wenn uns das in – scheinbare oder echte – Widersprüche zwischen Vernunft und Glauben bringen sollte. Wir nehmen in jedem Fall „… gefangen alles Denken in den Gehorsam gegen Christus.“ (2. Kor 10,5)

Bei allen Fragen möchte ich aber nicht vergessen: Was wir in der Heiligen Schrift finden, und was uns der Heilige Geist immer gewisser machen will, das ist vor allem froh machende Botschaft. Ich möchte deshalb an den Schluss zwei Zitate stellen.

Das erste – von Luther – wurde bereits oben erwähnt: „Denn was kann an Erhabenem in der Schrift verborgen bleiben, nachdem die Siegel gebrochen, der Stein von des Grabes Tür gewälzt und damit jenes höchste Geheimnis preisgegeben ist: Christus, der Sohn Gottes, sei Mensch geworden, Gott sei dreifaltig und einer, Christus habe für uns gelitten und werde herrschen ewiglich?“55

Das andere Zitat stammt von John Wesley, der auf seine Weise die Schlussfolgerung aus der Schriftlehre der Reformation gezogen hat: „Ich will nur eines wissen: den Weg zum Himmel, wie ich an jenem seligen Ufern lande. Gott selbst hat sich herabgelassen, diesen Weg zu lehren. Genau deshalb stieg Er vom Himmel herab. Er schrieb es in ein Buch. O gib mir das Buch um jeden Preis: Gib mir das Buch Gottes! Ich habe es: Hier ist genug Wissen für mich. Was ich sein will, ist ein homo unius libri.“ – ein Mann eines Buches.56


  1. z.B. Gerhard Maier, Biblische Hermeneutik, 1. Aufl. Wuppertal/Zürich 1990, 7ff. 

  2. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I,1,10 

  3. Origenes, De Principiis IV,1,9ff. 

  4. Wilhelm Gesenius‘ Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, unveränderter Nachdruck der 1915 erschienenen 17. Auflage, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1962, 362f 

  5. Gesenius, a.a.O. 47f 

  6. Mit „Götter“ ist hier ist ein bestimmter Ausdruck für den Menschen als Geschöpf Gottes gemeint. 

  7. Ron Rhodes, Esotericism and Biblical Interpretation, http://ronrhodes.org/articles/esotericism-and-biblical.html 

  8. Erläuterungen dazu z.B. in Gerhard Maier, a.a.O., 167ff. 

  9. Es ist aber mit darin enthalten. Eine sehr schöne Anwendung findet sich bei Bonhoeffer, der beim Miteinander von Christen zwischen psychischer und pneumatischer (geistlicher) Gemeinschaft unterscheidet. s. Dietrich Bonhoffer, Gemeinsames Leben, 24. Auflage, Gütersloh 1993, 22ff 

  10. Der Ausdruck theologia regenitorum  findet sich so nicht überall, aber der Sache nach ist sie mindestens bis zur Aufklärung weit verbreitet. Für die Reformatoren ist sie eine Selbstverständlichkeit, z.B.:
    Luther, De servo arbitrio, (WA 18,606,12ff, oder Münchner Ausgabe S.15ff)
    Calvin, Institutio, I,7,5
    Eine Übersicht dazu bei Gerhard Maier, a.a.O., 37ff 

  11. Hier folge ich im Wesentlichen den Auffassungen, wie sie im Bibelkommentar von Johannes Calvin zu 1. Kor 10,1ff zur Stelle ausgedrückt werden. 

  12. vgl. dazu auch den Kommentar von Calvin zu Gal 4,21ff 

  13. sondern mit Sprüche 22,20f in der Lesart der Septuaginta, Origenes, De Principiis IV,1,11 

  14. einer anderen Auffassung ist z.B. Gerhard Maier, a.a.O., 72ff. Er sieht z.B. in den Gleichnissen Jesu und seiner Auslegung derselben ein Grundmuster biblischer Allegorie (auch z.B in den Visionen der Johannesoffenbarung). Maier mahnt aber in diesem Zusammenhang zu grösster Vorsicht: Wir könnten nicht Jesus und die Apostel darin einfach imitieren. M.E. sollte man aber hier besser  nicht von „Allegorie“ sprechen. Bei Origenes u.ä. wird der Begriff „Allegorie“ nämlich auch auf solche biblischen Literaturgattungen übertragen, die ihrem eigenen Anspruch nach historische Berichte – und keine Gleichnisse, Bilder oder Visionen – sein wollen. Wir sollten einen derart belasteten Begriff daher besser vermeiden, und statt dessen einfach von Bild / Gleichnis / Vision und der zugehörigen Deutung reden. 

  15. Luther, De Servo Arbitrio, a.a.O. 

  16. z.B. in Institutio I,6ff spez. I,9 zur Auseinandersetzung mit den Schwärmern oder in seinem Bibelkommentar zu 1. Kor. 10 

  17. eine Einführung z.B. in: https://www.methodist.org.uk/downloads/wc_Eur_John_Wesley_and_the_Bible_Stephen_Dawes.pdf, The European Methodist Theological Commission, “Scriptural Holiness” project, John Wesley and the Bible – A paper prepared by Rev Dr Stephen B Dawes.
    Allerdings kann ich der Einordnung John Wesleys als „voraufklärerischer“ Ausleger, wie sie dort vorgenommen wird, nicht ohne Weiteres zustimmen. M.E. behauptete er sein Schriftverständnis sehr bewusst mitten in und gegenüber der Theologie der Aufklärung. Eine Vertiefung würde aber hier zu weit führen. 

  18. Eine ausführliche, gut lesbare Einführung in Henry Chadwick, Die Kirche in der antiken Welt, Berlin/New York 1972, 111ff.
    Kürzer und m.E. in der Bewertung sachlicher und kritischer schreibt Chadwick in seinem Artikel für die Enzyklopaedia Britannica: „Origen.“ Encyclopædia Britannica from Encyclopædia Britannica Premium Service. <http://www.britannica.com/eb/article?tocId=9057374> [Accessed March 3, 2005]
    M.E. leider wenig brauchbar – vor allem in den Ausführungen zur biblischen Hermeneutik – der Origenes-Artikel des im Brockhaus-Verlag erschienenen: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde Bd. II, 1488ff., 2. Aufl. Wuppertal 1998
    Weitere Informationen und Links erhält man auch im Artikel „Origenes“ des (mittlerweile sehr renommierten) Wikipedia-Projekts: http://de.wikipedia.org/wiki/Origenes 

  19. Jerome, Saint.“ Encyclopædia Britannica from Encyclopædia Britannica Premium Service.<http://www.britannica.com/eb/article?tocId=9043550>[Accessed March 3, 2005] 

  20. Leider stand mir nur eine englische Übersetzung der Werke Origenes‘ zur Verfügung: The Ante-Nicene Fathers, Vol. IV, Grand Rapids (Michigan) / Edinburgh, ohne Erscheinungsjahr. Wenn ich deutsch zitiere, dann handelt es sich um eigene Übersetzungen aus dem englischen Text – der englische Text erscheint in der Fussnote. Wenn nicht anders angegeben, beziehe ich mich auf die englische Übersetzung der griechischen Originalausgabe mit dem ursprünglichen Titel Peri Archon  (= rechte Spalte im Buch), nicht die der lateinischen (z.T. sehr freien) Übersetzung von Rufinus.
    Eine englische Übersetzung der lateinischen Fassung von De Principiis ist in der Christian Classics Ethereal Library im Internet zugänglich: http://www.ccel.org/fathers2/ANF-04/TOC.htm#TopOfPage 

  21. z.B.: „Marcionite.“ Encyclopædia Britannica from Encyclopædia Britannica Premium Service.   <http://www.britannica.com/eb/article?tocId=9050810> [Accessed March 10, 2005]. 

  22. IV,1,8 – Hervorhebung von mir. „Now the cause, in all the points previously enumerated, of the false opinions, and of the impious statements or ignorant assertions about God, appears to be nothing else than the not understanding the Scripture according to its spiritual meaning, but the interpretation of it agreeably to the mere letter.“ vgl. dazu auch IV,1,27.
    Hintergrundinformation z.B. in: „biblical literature.“ Encyclopædia Britannica from Encyclopædia Britannica Premium Service. <http://www.britannica.com/eb/article?tocId=73500> [Accessed March 10, 2005]., p.310 

  23. IV,1,1-7 

  24. IV,1,7 unter Bezugnahme auf 2. Kor 4,7 

  25. IV,1,11 in relativ freier Übersetzung: „For as man consists of body, and soul, and spirit, so in the same way does Scripture, which has been arranged to be given by God for the salvation of men.“ 

  26. IV,1,11 

  27. z.B. IV,1,14 

  28. IV,1,14-18 

  29. IV,1,26 

  30. IV,1,27 in relativ freier Übersetzung, Hervorhebungen von mir. Ab IV,1,24 ist nur in der lateinischen Fassung überliefert, in der englischen Ausgabe: „Let everyone, then, who cares for truth, be little concerned about words and language, seeing that in every nation there prevails a different usage of speech; but let him rather direct his attention to the meaning conveyed by the words, than to the nature of the words that convey the meaning, especially in matters of such importance and difficulty…“ 

  31. z.B. IV,1,14 

  32. IV,1,23 

  33. IV,1,19 

  34. IV,1,11: „And do thou portray them in a threefold manner, in counsel and knowledge, to answer words of truth to them woh propose them to thee.“ 

  35. I,1,2, eine Anspielung auch in IV,1,27. Dass es sich bei 2. Korinther 3,16 um die schlechthinnige Belegstelle handelt, von der Origenes seine Schriftlehre ableitet, kann ich jedoch – zumindest aus De Principiis – nicht bestätigen. Anders dagegen: Gerhard Ebeling, The New Hermeneutics and the Early Luther, Abschnitt 42, im Internet unter: https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/004057366402100105. Das deutsche Original stand mir leider nicht zur Verfügung. 

  36. z.B. IV,1,10 

  37. vgl. zu diesem Abschnitt inbesondere Gerhard Ebeling, a.a.O. 

  38. Die erste grössere Kontroverse war hier die „radikale Reformation“ in Wittenberg in den Jahren 1521/22, wo er sich mit dem Theologen Karlstadt und den „Zwickauer Propheten“ auseinander zusetzen hatte. Letztere beriefen sich auf Träume und Visionen.
    Mehr Information dazu z.B. unter „Luther, Martin.“ Encyclopædia Britannica from Encyclopædia Britannica Premium Service. <http://www.britannica.com/eb/article?tocId=59860> [Accessed March 16, 2005], S.23
    Eine leichtverständliche Einführung auf deutsch z.B. unter: http://www.luther.de/leben/bauernk.html 

  39. Das Thema „Luther und die Schwärmer“ ist ein klassisches Thema der Reformationsgeschichte und in der deutschsprachigen Theologie m.E. ausserordentlich gut behandelt worden. Interessante einführende Gedanken dazu, im Zusammenhang mit einer sehr aktuellen Fragestellung, bei: Max Suda, Meditieren aus evangelischer Sicht, sowie ders., Spiritualität bei Luther. Seine Ausführungen zu Luthers „meditativem“  Umgang mit dem Literalsinn der Bibel finde ich sehr treffend, wenn ich auch Sudas Anregungen für unsere heutige Praxis nicht in allem folgen kann. Die Vorträge finden sich im Internet unter: https://evang.at/wp-content/uploads/2015/07/160608_archiv_evang-spiritualitaet.pdf 

  40. Näheres z.B. unter „Erasmus, Desiderius.“ Encyclopædia Britannica from Encyclopædia Britannica Premium Service.<http://www.britannica.com/eb/article?tocId=9106053> [Accessed March 15, 2005]. 

  41. WA 18,606,12ff, oder Münchner Ausgabe S.15ff.
    Die Schrift De Servo Arbitrio ist im lateinischen Original in der Weimarer Ausgabe (WA) greifbar. Ich verwende die deutsche Übersetzung der „Münchner Ausgabe“ (Münchner): Martin Luther, Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe Bd. I, Hrsg. H.H. Borcherdt / Georg Merz, 3. Aufl. München 1986 

  42. vgl. dazu auch die Theologische Einführung in der Münchner Ausgabe, 253ff 

  43. die entscheidenden Dokumente dazu sind in deutscher Sprache verfügbar z.B. im Anhang der Whitefield-Biografie von Benedikt Peters, George Whitefield, Bielefeld 1997, 427ff 

  44. Münchner 11 bzw. WA 18,603,7f 

  45. Münchner 14 bzw. WA 18,605,12 – Hervorhebung von mir 

  46. Münchner 15 bzw. WA 18,606,12 

  47. Münchner 15 bzw. WA 18,606,12. Die Bibelzitate aus: Mark 13,22; Apg 1,7; Joh 13,18; 2 Tim 2,19 

  48. Müncher 17 bzw. WA 18,608,15 – Hervorhebung von mir 

  49. Münchner 16 bzw. WA 18,606,13 

  50. Münchner 16 bzw. WA 18,607,13f. Die Bibelzitate aus: Mat 24,14/Mk 13,10; Mat 26,13/Mk 14,9; Röm 10,18; Röm 15,4; 2 Tim 3,16 

  51. Münchner 18 bzw. WA 18,609,15 – Hervorhebung von mir 

  52. Münchner 15f bzw. WA 18,606,13 

  53. Münchner 16f bzw. WA 18,607,14. Bibelzitate aus: 2 Kor 3,15; 4,3f 

  54. Münchner 17f bzw. WA 18,609,15 unter Hinweis auf Psalm 14,1: „Es spricht der Tor in seinem Herzen: es ist kein Gott.“ Hervorhebung von mir. 

  55. Münchner 16 bzw. WA 18,606,13 

  56. in der Vorrede zu seinen Lehrpredigten, übersetzt aus dem Englischen in: John Wesley, Die 53 Lehrpredigten, Bd. I, Stuttgart 1986,  S. 14