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Jesus als Lehrer. Frühjüdische Volksbildung und Evangelien-Über­lieferung

Etwa 40 Jahre nach Erscheinen seiner Dissertation legt der mittlerweile emeritierte Professor für Theologie, Rainer Riesner, nun seine Dissertation in einer aktualisierten und stark erweiterten Neuauflage vor. Diese Neuauflage wurde in den letzten zwei Jahrzehnten sehnsüchtig erwartet, nachdem das Werk viele Jahre lang vergriffen war. Die 1981 veröffentlichte Dissertation war ein bahnbrechendes Werk, weil sie auf eine wichtige und durch die bis dahin vorherrschenden Forschungsparadigmen nur einseitig adressierte Frage einging: Wie kann man die Tradierung der Worte Jesu bis zur Verschriftlichung der Evangelien rekonstruieren und was sagt dies über die Zuverlässigkeit der Evangelientexte aus? Während die von Form- und Redak­tions­geschichte geprägten Sicht­weisen der Forschung in den 1960er bis 1980er Jahren diese Zuverlässigkeit relativ gering einschätzen, verhalf Riesner einem anderen Ansatz zum Durchbruch, der die Plausibilität einer festen und zuverlässig tradierten mündlichen Überlieferung aufzeigte. Riesner ging den Quellen aus der Zeit des zweiten Tempels nach und zeigte, wie die Rolle von Lehrern im frühjüdischen Milieu gesehen und charakterisiert wurde. Anschließend zeigte er durch eine Auswertung vieler Details auf, dass die Evangelien Jesus vor diesem Hintergrund nicht nur in der Rolle eines Lehrers mit besonders großer Autorität sehen, sondern diese Rolle sogar so tief in den Evangelien verankert ist, dass man sie auch dann zugrunde legen muss, wenn man der historischen Zuverlässigkeit der Evangelien eher skeptisch gegenübersteht. Diese Rolle Jesu als Lehrer wiederum macht nicht nur die Grundlagen und Rahmenbedingungen dafür, sondern auch das Interesse daran plausibel, dass die Worte Jesu bis zur Niederschrift in den Evangelien in fester und auswendig gelernter Form als autoritative Lehre weitergegeben wurden. Mit dieser Grundthese war die Dissertation Riesners nicht nur ein entscheidendes Korrektiv für die damalige Forschung, sondern war auch folgenreich für neue Akzente in der anschließenden Forschung.

Leider war die bahnbrechende Dissertation Riesners trotz ihrer großen Bedeutung nach der bereits 1988 erschienen dritten Auflage über viele Jahre vergriffen. Riesner verfolgte die Themenstellung seiner Dissertation in seiner Forschung jedoch stets weiter und legt nun eine stark erweiterte Fassung vor, die auf die Entwicklung der letzten 40 Jahre zurückblickt und die bis dahin erfolgten Forschungsarbeiten integriert.

Riesner, Rainer: Jesus als Lehrer. Frühjüdische Volksbildung und Evangelien-Über­lieferung. Tübingen: Mohr Siebeck 2023. 864 S. Broschüre: 129,00 €. ISBN: 978-3-16-162497-1

Inhaltlich folgt die Neuauflage in Gliederung und Aufbau den ersten drei Auflagen von 1981-1988, was die Orientierung erleichtert und gleichzeitig den damals wegweisenden Entwurf zusammen mit aktuellen Ergebnissen auch forschungsgeschichtlich nachvollziehbar macht. Nachdem Riesner im ersten Kapitel der Neuauflage Grundfragen der Jesus-Überlieferung absteckt (1-183), widmet er sich im zweiten Kapitel der frühjüdischen Volksbildung (185-373) und zeigt dabei auf, dass durch die alttestamentliche Tradition, die Synagogen, das Elternhaus und den frühjüdischen Schulbetrieb alle Voraussetzungen bestanden, Lehrtraditionen zuverlässig weiterzugeben, sofern sie als autoritativ verstanden wurden. Im dritten Kapitel (375-466) weist Riesner nach, dass genau diese Autorität nach dem Selbstanspruch und dem Verständnis der Zuhörer und Jünger Jesu vorausgesetzt werden muss. Anschließend weist Riesner im vierten Kapitel nach, dass die öffentliche Lehre Jesu in Art, Aufbau und begleitenden Umständen darauf ausgelegt war, memoriert, bewahrt und zuverlässig weitergegeben zu werden (467-534). Im letzten Kapitel zeigt der Autor, dass genau dies im Jüngerkreis auch geschah (535-632). In allen Kapiteln geht Riesner auf aktuelle Entwicklungen ein, die die damaligen Beobachtungen inzwischen breiter bestätigt oder konkretisiert haben. Dass damit in der Neuauflage ein aktuelles und in seiner Fundierung unerreichtes Kompendium zur mündlichen Tradierung der Worte Jesu vorliegt, bezeugt auch ein auf über 170 Seiten (!) erweitertes Literaturverzeichnis sowie ausführliche Stellen-, Personen- und Sachregister.

Damit füllt die Neuauflage nicht nur die Lücke, die durch die vergriffene Auflage von 1988 lange Jahre bestand, sondern wird zu einem neuen Meilenstein, der auch zukünftige Forschung noch lange begleiten wird.