ThemenEthische Themen, Systematische Theologie

Wege zur Liebe? Wie christliche Sexualethik unchristlich transformiert wird

Die transformative Sexualethik, die die post-evangelikalen Theologen Thorsten Dietz und Tobias Faix vorgelegt haben, bricht mit jeder christlichen Tradition. Angeblich will man das Selberdenken in ethischen Entscheidungen fördern, gibt aber nur ein Plädoyer für die kritiklose Akzeptanz einer Sichtweise auf sexuelles Leben, wie es in den gegenwärtigen Sozialwissenschaften vertreten wird. Dazu wird allerdings die Bibel und auch die Geschichte willkürlich hingebogen, so dass sie die Argumentation angeblich stützen soll. Echte Hilfe in einer nach Orientierung hungernden Zeit findet sich an keiner Stelle. (Lange Fassung)

Im Rahmen des Projektes „Transformative Ethik“ legen die Thorsten Dietz und Tobias Faix vordergründig den Versuch vor, eine Sexualethik ohne ethische Urteile zu verfassen. „Wir verstehen Ethik … als Reflexion von Moral und moralischem Handeln“. Moralische Prinzipien und Positionen zu vertreten, verdächtigen sie einer „konfliktorientierten Kulturkampfrhetorik“, obwohl sie die gegen römisch-katholische und konservativ-evangelikale Positionen selber gerne kräftig austeilen. Sie wollen in ihrer Ethik angeblich nur „zwischen die Konfliktlinien gehen und jeweils das kommunikative und selbstreflexive Element … fördern“ (25). Das soll dazu dienen, dass „eine Sexualethik zum Selberdenken“ entsteht. Allerdings erlauben sie das Selberdenken nur innerhalb der Grenzen soziologischer Mainstream-Meinungen. Als Theologen der post-evangelikalen Bewegung wollen sie trotzdem eine christliche Sexualethik entwickeln, die sich an der Bibel orientiert. Sie benutzen dabei ihr Modell von „Karte und Gebiet“, bei dem sie davon ausgehen, dass sich das Gebiet des Lebens mit der Sexualität so verändert hat, dass die moralischen Karten der Vergangenheit und die ethischen Normen der Bibel „völlig aus der Zeit gefallen“ sind und nicht mehr in die Landschaft passen. Die vorliegende Ethik bietet aber nur an wenigen Stellen eine aktualisierte Karte, sondern geht davon aus, dass die Beschreibung des Gebietes ausreicht, um seinen Weg „selberdenkend“ zu finden. Klar, dass das für unwegsames Gelände, im Gebirge oder einer Wüste nicht funktioniert, es sei denn man orientiert sich an vorgetrampelten Wegen.

Thorsten Diez/Tobias Faix. Transformative Ethik: Wege zur Liebe. Eine Sexualethik zum Selberdenken. Neukirchen: Neukirchner Verlag 2025. 428 Seiten. 30,00 €. ISBN 978-376-157-038-8.

Einerseits hat es etwas von Bescheidenheit, in der man niemanden für seine sexuellen Vorlieben und Praktiken verurteilen will und sich sogar für eine Voreingenommenheit entschuldigt, die allein daraus resultiert, dass sich die Autoren als „weiße Cis-Männer“ verstehen. Andererseits liegt ein unverkennbarer Hochmut darin, sich selbst zum Vermittler in ethischen Konflikten und Wegweiser zu erklären und allen beibringen zu wollen, wie sie richtig „selberdenken“, was erreicht wäre, wenn sie zu Lebenswegen gelangen, die angeblich „biblisch“ sind („Transformative Ethik ist biblische Ethik.“ 27) und zugleich das Denken gegenwärtiger sozialwissenschaftlicher Fakultäten widerspiegeln. Das heißt – um einzelne Punkte aus der zweiten Hälfte des über 400 Seiten starken Buches zu nennen –, dass homosexuelles Leben völlig gleichberechtigt ist, eine „sex-positive“ Pornografie Vielfalt und Lust fördert, ein „polyamoröses“ Leben mit mehreren Partnern förderlich für Gesundheit und Kindererziehung ist und die Ehe als junge Erfindung „ohne Bruch“ zu einer „Ehe für alle“ transformiert werden kann. Diese Haltung resultiert daraus, dass die Autoren irgendwoher zu wissen meinen, dass Jesus Christus genau das will, denn „für uns ist Christus derjenige, der heilsame Transformationen und Versöhnung miteinander ermöglicht“ (19). Es sei also letztlich Christus selbst, der „evangelisch-reformatorische Tradition“ und „kontextuelle Perspektiven wie feministischer und queerer Theologie“ irgendwie miteinander versöhnt. Eine evangelische Ethik zeichnet eigentlich aus, dass sie formuliert, was gutes Handeln im Horizont des biblischen Evangeliums ist, aber das lehrt uns, dass Christus kam, um die Menschen mit Gott zu versöhnen, die aufgrund ihrer Haltung zu Gott und ihrer Irrwege zu Feinden Gottes geworden sind. Weder wollte Christus theologische Schulen miteinander versöhnen noch Gottes Maßstäbe für gutes Handeln mit den Irrungen des sündigen Lebens.
Man muss sich m.E. bei der „transformativen Ethik“ jederzeit bewusst sein, dass der Anspruch der „Reflexion“ – mit der Bereitschaft sich auf Veränderung einzulassen und das alles irgendwie versöhnend zwischen den Fronten – mit klaren Vorentscheidungen verbunden ist. „Theologische Ethik“ ist sie nicht etwa, weil sie sich den alle Zeit gültigen Maßstäben Gottes gehorsam beugen will, sondern weil Gott Geschichte schreibt und dabei angeblich immer mit den Transformationen der Geschichte und des gängigen Denkens mitgeht. „Biblische Ethik“ ist sie nicht, weil sie aus der Bibel Prinzipien und Gebote erkennen und sie auf heutige Herausforderungen anwenden will, sondern weil die biblischen Begriffe „Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit“ leitend sein sollen – allerdings in einer inhaltlichen Bestimmung, die dem aktuellen Zeitgeist angepasst ist und kaum mehr der Bibel entspricht.

Anthropologie als Grundlegung

Die Autoren wollen – wie es in der modernen evangelischen Theologie üblich geworden ist – die Anthropologie zu ihrer theologischen Grundlegung für die Sexualethik machen. Sie stellen allerdings sofort klar, dass es ein christliches oder biblisches Menschenbild gar nicht geben kann. Es bleiben die Feststellung der allgemeinen Menschenwürde und der Bezogenheit auf Gott und den Mitmenschen als Merkmale einer „biblischen“ Anthropologie. Aus der Lehre Martin Luthers vom Menschen ergänzen die Autoren den Aspekt, dass der Mensch eine zukünftige Bestimmung hat. Wo allerdings Luther die Erfüllung der Erlösung in der endzeitlichen Vollendung im Blick hatte, stellen die Autoren im Sinne ihres Transformationsdenkens eine allgemeine Weiterentwicklung auf irgendein zukünftiges Ziel in den Vordergrund. Damit gibt es kein „sehr gut“ des Schöpfungsanfangs und keinen Sündenfall mehr, der durch die Erlösung durch Christus in Ewigkeit überwunden wird, sondern einfach ein „Der Mensch ist das Wesen, an dem Gott baut“ (65). Eine weitere Ergänzung scheint ihnen notwendig durch die feministische Befreiungstheologie. Weil Männer als Männer Frauen überhaupt nicht angemessen würdigen können, darum ist Theologie von Männern grundsätzlich der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verdächtig („Hermeneutik des Verdachts“). Das gilt auch für „Paulus und seine Schüler“ und genauso im Blick auf die Sexualethik. Wie soll es dann möglich sein, dass „heterosexuelle Cis-Männer“ der Herausforderung gerecht werden, queere Menschen in einer theologischen Anthropologie wertschätzend zu würdigen? Das erscheint den Autoren (beinahe) nicht machbar. Sie wollen aber trotzdem „diese Perspektiven studieren und so gut wie möglich aufgreifen“ (69).
In einer „Anthropologie der Offenheit“ wollen Dietz/Faix vor allem von queerer Sichtweise lernen. Dazu gehört zum Beispiel: „Queere Analysen zielen auf den Nachweis, dass Essentialierungen im Sinn von Wesensbehauptungen das Ergebnis historischer Entwicklung und sozialer Konstruktion sind“ (81). Aus dieser Behauptung geht dann der Schluss hervor, dass alles, was einmal historisch sozial konstruiert wurde, auch ganz anders neu konstruiert werden kann. „Geschlecht“ ist demnach nur „ein Bild“, das der Mensch sich gemacht hat und solches „Bildermachen“ verbiete sogar Gottes Gebot. Weil Gott nicht erkennbar sei, darum könne es auch nur eine „negative Anthropologie“ geben, die alle Normen und Kategorien für den Menschen grundsätzlich infrage stellt.
Es ist schwindelerregend, mit welcher Akrobatik es Thorsten Dietz und Tobias Faix unternehmen, biblische Motive erst um Inhalt und Bedeutung zu erleichtern, um dann mit ihnen so wild zu jonglieren, dass eindeutig zu sein scheint: Bibel und Theologie bestätigen das Weltbild des sozialwissenschaftlichen Mainstreams. Dann hat folgerichtig eine christliche Ethik die Aufgabe, dieses Weltbild im Leben aller Menschen zu verankern.

Gibt es ein männliches und weibliches Geschlecht?

Nach ihrer Einleitung behandeln die Autoren konkrete Fragen der Sexualethik in drei jeweils rund 100 Seiten umfassenden Kapiteln zu „Gender“, „Sexualität“ und „Lebensformen“. Das ausführliche Kapitel über Gender als Bearbeitung der „Geschlechterkonflikte“ ist durchgängig eine Argumentation für eine egalitäre Sicht auf die Geschlechtlichkeit der Menschen. Dietz/Faix meinen damit nicht nur, dass Männer und Frauen völlig gleichberechtigt sein sollen, weil ihre Geschlechtlichkeit sie nicht wesenhaft zu unterschiedlichen Menschen macht, sondern vielmehr schließen sie ein, dass Geschlechtlichkeit „vielfältig“ sei. Das bedeutet offenbar, dass es wohl irgendwie männlich und weiblich gibt, aber das höchstens auf der biologischen Ebene festzumachen ist, aber nicht das Wesen eines Menschen „essentialisiert“. Die Geschlechtlichkeit des Menschen sei vielfältiger als männlich und weiblich.
Thorsten Dietz und Tobias Faix entscheiden sich nach ihrer Darstellung der Entwicklungen zum modernen Verständnis der Geschlechter dafür, dass nur bei dem einen Unterschied, dass Männer Samenzellen produzieren und Frauen Eizellen, die für die Fortpflanzung notwendig sind, eine echte zweigeschlechtliche (binäre) Unterscheidung von Mann und Frau möglich ist. Alle anderen männlichen oder weiblichen Merkmale seien „statistische Unterschiede“, die „nicht rein naturgegeben, sondern vielfach Ergebnis einer langen kulturellen Entwicklungsgeschichte“ sind (120). „Das heißt aber, dass Geschlecht keine reine biologisch feststellbare Tatsache ist.“ Das wäre aus ihrer Sicht gleichbedeutend mit einer Behauptung, Geschlecht sei so etwas wie ein „Blinddarm“. „Gehört es zu den wesentlichen Dimensionen des Menschlichen, … [d]ann ist auch Geschlecht ein biopsychosoziales Gefüge“ (121). Das ist offensichtlich eine typische Strohmann-Argumentation. Wenn Biologen teilweise gegen einen Sturm der Entrüstung festhalten, dass das biologische Geschlecht offenbar binär ist, dann sagen sie nicht, dass Geschlecht nur eine biologische Dimension habe. Sie stellen sich allerdings gegen die Behauptung von Nicht-Biologen, dass Zweigeschlechtlichkeit keine biologische Beobachtung sei, sondern Naturwissenschaft nur das „Ergebnis einer langen kulturellen Entwicklungsgeschichte“, in der es Männern darum ging, Frauen zu unterdrücken und Queerness auszugrenzen. Christen, die ein komplementäres Zueinander der beiden Geschlechter vertreten und das nur mit Biologie begründen, sind mir nicht bekannt. Geschlecht ist offenbar „naturgegeben“ – oder besser gottgegeben – und zugleich ein „biopsychosoziales Gefüge“. Die Biologie in diesem Gefüge macht allerdings klar, dass es sich beim männlichen und weiblichen Geschlecht nicht um eine völlig „fluide“ – also fließend formbare – Zufälligkeit handelt. Und es gibt genug Hinweise, dass auch die Psychologie und die Sozialität von Männern und Frauen nicht völlig fließend ist.
In ihrer Beschreibung des „biopsychosozialen Gefüges“ folgen die Autoren dann ganz der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler, die eine binäre Geschlechterordnung für unausweichlich soziokulturell konstruiert hält und verteidigen deren Ansichten gegen jede Kritik. Dann gilt, dass die Wesenseigenschaft „Frau“, die einerseits jedes Kind sofort erkennen kann, die aber andererseits auch nicht umfassend definiert werden kann, vor allem ein gewalttätiger „Sprechakt“ wäre, der Macht über einen Menschen gewinnen will und ihn in seinem Dasein unfrei macht. Die Entscheidungen der Autoren in Sachen Geschlecht gehen bewusst „in vieler Hinsicht hinaus über das, was in der Christentumsgeschichte gedacht wurde.“ Sie seien trotzdem „keine Anpassung an moderne Entwicklung“, sondern könnten sich „auf egalitäre Impulse schon der biblischen Texte“ berufen (127).
Für Dietz/Faix sind in dieser Frage „Freiheit und Selbstbestimmung … aus christlicher Sicht zentrale Normen“ (158). Mit diesen Normen wollen sie jedem „Druck“ zur Anpassung an die Zweigeschlechtlichkeit wehren. Sie sehen „unbegründete“ „Ängste, dass die Abkehr von der Idee einer binären Zweigeschlechtlichkeit in eine völlige Willkür und Beliebigkeit führt“ (157). Sie missachten, dass keine Freiheit ohne Grenzen existiert, seien diese nun durch den Körper, die psychische Anlage, durch die Familie oder das weitere soziale Umfeld gegeben. Christliche Ethik zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie diese Gegebenheit aufnimmt und die Würde des Menschen auch in unvermeidlicher Einschränkung von Freiheit achtet und bewahrt. Sie weiß, dass ethische Normen keine Erlösung schaffen können. Die wahre „Freiheit der Kinder Gottes“ ist Geschenk der Errettung durch Christus und wird erst in Ewigkeit völlig offenbar (Röm 8,21).
Die Autoren monieren, „transkritische Theologie“ sei keine Theologie mit „Betroffenen“, aber für meinen Eindruck bleibt ihre Ethik in Hinsicht auf Betroffene distanziert und realitätsfremd. Die ethischen Herausforderungen Betroffener liegen doch nicht nur im Kampf um Anerkennung, sondern z.B. in der großen Gefahr des beständigen Drehens um sich und das eigene Selbstbild.

Wenn alles christlich gerechtfertigt werden kann

Im Kapitel über die Sexualität (195-300) wollen Thorsten Dietz und Tobias Faix wieder die Bibel zu Wort kommen lassen. Allerdings in genau der selektiven Weise, wie sie es in der Einleitung dargelegt haben, denn sie meinen, dass die Bibel in ihren ethischen Aussagen „auf ganz andere Lebensverhältnisse bezogen ist als unsere“ (195). Aber weil es „für viele Gläubige … nach wie vor eine entscheidende Frage (ist), ob die Bibel klare und eindeutige Anweisungen gibt, wie Sex vor der Ehe oder gleichgeschlechtliche Liebe zu bewerten sei“, wird dargelegt, wo die Bibel angeblich die gängige Sexualmoral bestätigt und dass ansonsten ihre Aussagen nicht relevant sind, weil sie nicht mehr in unsere Lebensverhältnisse passen. Was die Autoren meinen, wird bereits deutlich, wenn sie feststellen, dass „Antike und Mittelalter … kein Konzept von Sexualität (kennen)“. Das gebe es erst seit dem späten 18. Jhdt. und da sei es auch nur um die Fortpflanzung von Pflanzen gegangen, was irgendwie auf Menschen übertragen wurde. Dann wird das übliche Bild gezeichnet: Die christliche Sicht auf die Geschlechtlichkeit sei immer von „Sexualskepsis“ und Lustfeindlichkeit gekennzeichnet gewesen. Erst die „romantische Revolution“ ab 1770 und dann die „sexuelle Revolution“ ab 1960 hätten das grundlegend positiv verändert (204). Das ist nicht nur „vereinfachend“ – wie die Autoren zugeben –, es ist eine irreführende Karikatur.
Für ihre Sexualethik wollen die Autoren nur Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit als leitende Prinzipien gelten lassen (214). Es fällt aber auf, dass wichtige Aspekte der Bibel darin nicht vorkommen. Bei der Freiheit will man die Selbstbestimmung sicherstellen, aber es fehlt das Verständnis, dass Freiheit in der Bibel am größten in einem geschützten Raum mit Grenzen ist. Bei der Liebe will man „Liebe in der Vielfalt aller Liebesfähigkeiten des Menschen … entwickeln“ – was immer das heißen soll. Es fehlt aber die hingebungsvolle Liebe bis zur Selbstaufgabe, die die Bibel auch für die Ehe als notwendig ansieht. Bei der Gerechtigkeit betont man „die Akzeptanz aller Menschen in ihrer schöpfungsbedingten Gleichheit“ gegen das biblische Verständnis von Gerechtigkeit als gegenseitigem Dienen in der gottgewollten Verschiedenheit. Eine theologische Deutung von Geschlechtlichkeit und Sexualität als Grundlage für ethische Ordnungen fehlt schließlich völlig, obwohl die Bibel durchaus Aussagen dazu macht.
Die Ergebnisse zu einzelnen Fragen der Sexualethik sind dann nicht überraschend. Homosexuelles Leben soll als normale Ausdrucksform der Sexualität akzeptiert werden. „Mit der Entdeckung der homosexuellen Orientierung in der Neuzeit hat sich das Gebiet so signifikant verändert, dass eine Übertragung biblischer Einzelaussagen auf die heutige Zeit in keiner Weise mehr zu rechtfertigen ist“ (234). Allerdings sucht man an dieser Stelle sexualethische Ordnungen für homosexuelles Leben vergeblich. Die ethische Ordnung heißt nur Akzeptanz. Das gilt gleichermaßen für „Bisexualität“ und die „vielen Formen“ der „Asexualität“. Die Autoren erlauben sich keinerlei kritische Anfragen an diese Konzepte, sondern referieren einfach nur. Purity Culture ist abzulehnen, weil sie den vorehelichen Geschlechtsverkehr junger Christen nur von 99 % auf 88 % senken könne und ansonsten der Möglichkeit beraubt, den eigenen Körper, die Sexualität und einen eventuellen zukünftigen Mann richtig kennenzulernen. Über Prostitution bzw. Sexarbeit gebe es zu wenig „klarere Kenntnis“, um eine „ethische Einordnung“ vorzunehmen. Pro und Kontra werden mit klarer Tendenz zur Bejahung von „selbstbestimmter“ Prostitution referiert. Sexuelle Gewalt ist natürlich abzulehnen. Irritierend, aber vielleicht auch nur unglücklich formuliert ist, dass man am Ende pädophile Handlungen mit dem Argument verwirft, dass „es an dieser Stelle einen absoluten Konsens aller politischen Lager, der medizinischen und psychologischen Auffassung und der juristischen Bewertung“ gebe. Der Konsens wird referiert (261). Gibt es auch eine dezidiert christliche Perspektive oder könnte mit dem Wandel der Zeiten pädophile Sexualität auch wieder akzeptabel werden – vielleicht in der Form der Knabenliebe des alten Griechenlands?
Weil die Bibel im Buch Hohelied angeblich den körperlichen Akt und die Sexualität außerhalb einer Ehebeziehung „darstellt“, soll die Nutzung von Pornografie nicht grundsätzlich abgelehnt werden. „Wie gerade sex-positive Ansätze aufzeigen, kann mit fairen, diversen, inklusiven und feministischen Formen von Pornografie die Selbstbestimmung und sexuelle Entfaltung der Darsteller:innen wie der Betrachter:innen gestärkt werden“ (292). Positive Pornografie, „die Freiheit, Gleichheit, Liebe, Gerechtigkeit und Würde wie auch sexuelle Orientierungen und Identifikationen schützen und vermitteln“, könnte förderlich für die eigene Sexualität konsumiert werden.
Der Rest der Sexualethik wird im Kapitel „Lebensformen“ abgehandelt (301-382). Die Ehe erscheint als eine Lebensform unter anderen. Sie sei in der Geschichte eine junge Erscheinung und immer im Wandel gewesen, sodass auch die „Einführung einer Ehe für alle … in dieser Geschichte kein Bruch“ ist (333). Das Höchste, was von ihr gesagt werden kann, ist, dass sie „als Lebensform … eine öffentliche Gestalt der liebenden Gemeinschaft eines Paares“ darstellt, in der Treue wichtig ist (320). Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften und „Ehen für alle“ sollen als gleichwertig akzeptiert werden. Als Zugeständnis an konservativ-evangelikale Christen soll auf Infragestellung verzichtet werden, wenn homosexuell empfindende Menschen sich für Ehelosigkeit und sexuelle Enthaltsamkeit entscheiden (326). Scheidung und Wiederheirat erscheinen den Autoren kein Problem, obwohl sie sehen, dass Jesus sie ablehnte. Nicht mal als „Scheitern“ sollte die Scheidung einer Ehe angesehen werden: „Für nicht wenige Menschen ist der Mut zur Trennung eine Leistung, derer sie sich in keiner Weise zu schämen haben“ (343). Familien besitzen „soziologisch gesehen … eine Fülle von wichtigen Funktionen“, weswegen sie nicht nur als Orte der Unterdrückung und Unfreiheit gesehen werden sollten (345-346). Aus christlicher Sicht bleibt Familie „ein zentraler Bestandteil des menschlichen Lebens und bietet emotionale Stabilität und Unterstützung“ (357). Aber auch die Polyamorie wird gleichberechtigt unter die Lebensformen gezählt, wobei dabei ein Mensch zugleich mehrere Beziehungen führen kann, die jeweils mal romantisch, mal rein sexuell oder freundschaftlich sein können – oder eben auch jede Mischung davon. Das ist positiv zu sehen, denn sie „ermöglichen die Erfahrung von Vielfalt und Lebendigkeit und können gute Bedingungen für das Großziehen von Kindern bieten“ (372). Solange alles mit Ehrlichkeit und Einvernehmlichkeit gelebt wird, ist es „gut für die körperliche und seelische Gesundheit“. Das ist durchweg eine utilitaristische Argumentation: Was irgendwie nützlich bzw. lebensdienlich erscheint, das ist auch ethisch gut. Wirklich christlich ist das nicht.

Fazit

In dieser „christlichen“ Sexualethik findet der geneigte Leser Rechtfertigungen für fast jeden Umgang mit Sexualität. Ich setze „christlich“ in Anführungszeichen, weil ein bewusster Abschied von der kompletten christlichen Tradition vorliegt und nicht nur notwendige Korrektur. Die wiederholte Betonung, man orientiere sich an der Bibel, meint eine selektive Auswahl biblischer Motive, soweit sie die vorgefasste Meinung zu bestätigen scheinen. Die Autoren sehen kein Problem, sich die Sache im Zweifel hinzubiegen. Auch die historischen Exkurse sind tendenziös, beruhen auf wenigen Quellen, die wieder sehr selektiv herangezogen werden. Dabei stellen sich Dietz/Faix als selbstkritisch bescheidende Vermittler dar, während sie tatsächlich mit Vehemenz ihre Agenda durchpeitschen. Diese Art hat etwas von Unehrlichkeit.
In ihrer Kritik einer christlichen Ethik, die geschöpflichen Gegebenheiten Bedeutung beimessen will, sind die Autoren rigoros: alles Biologismus. Biblische Ordnungen, die vom Schöpfer passend zu seiner Schöpfung in ihrem gefallenen Zustand gegeben wurde, haben für sie keine Relevanz. An keiner Stelle gelingt es ihnen, einen eigenen hilfreichen Akzent in herausfordernden ethischen Fragen zu setzen. Offensichtliche Entwicklungen, wie die erhebliche Zunahme psychischer Störungen bei jungen Menschen, die offenbar auch mit Orientierungslosigkeit in Fragen der Identität und Sexualität verbunden sind, werden in ihrer ethischen Dimension nicht wahrgenommen. Es findet sich nicht einmal ein Versuch, eine christliche Antwort zu geben.
Nach evangelischem Verständnis ist biblisch-christliche Ethik Gesetz, also Gottes Weisung für den Menschen, auf der Grundlage des Evangeliums von der Vergebung und ewigen Erlösung durch Christus. Wegweisung oder Orientierung kann die transformative Ethik nirgendwo bieten, weil sie einfach nur kritiklos wiederholt, was jeder allerwärts hören kann. Bei all dem Ausrichten an den Transformationen haben die Autoren scheinbar nicht bemerkt, dass überall Menschen nach Orientierung fragen und Wegweisung suchen. Hier kann eine christliche Sexualethik Hilfe bieten, wenn sie Gottes Gedanken über die Geschlechtlichkeit entfaltet. Sie ist auch dann eine Ethik zum Selberdenken im Sinne des aktiven Nachdenkens der Gedanken Gottes. Was hier vorgelegt wurde, erscheint eher als eine Ethik des Nachplapperns des aktuellen sozialwissenschaftlichen Mainstreams.