Als Lukas sein Evangelium verfasste, da schrieb er an Theophilus (1,1-4), weil er wollte, dass der die Zuverlässigkeit der Nachrichten über Jesus erkannte, von denen er – wahrscheinlich aus verschiedenen Quellen – vorher unterrichtet worden war. Mit anderen Worten forderte Lukas Theophilus auf: „Hier, lies, was geschehen ist, denn dein Glaube beruht auf historischen Tatsachen!“
Er formuliert:
1 Schon viele haben sich darangesetzt, einen Bericht über die Ereignisse zu schreiben, die bei uns geschehen sind 2 und die wir von denen erfahren haben, die von Anfang an als Augenzeugen dabei waren und dann den Auftrag erhielten, die Botschaft weiterzusagen. 3 Nun habe auch ich mich dazu entschlossen, allem von Anfang an sorgfältig nachzugehen und es für dich, verehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. 4 So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Dinge überzeugen, in denen du unterwiesen worden bist.
Johannes sagte es am Ende seines Evangeliums ganz ähnlich (20,31):
„Diese [Geschichten der zeichenhaften Taten von Jesus] aber sind geschrieben, auf dass ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und auf dass ihr glaubend Leben habt in seinem Namen.”
Die Ereignisse in Raum und Zeit gehören zu den grundlegenden Fakten für den Glauben, weswegen sie aufgeschrieben sind. Wir sehen daran, dass ohne das sichtbare Eingreifen Gottes in der Geschichte und der Überlieferung der Geschichtserzählung davon, unser Glaube einen wichtigen Teil seines Fundaments verlieren würde. Wir glauben nämlich nicht eine Philosophie, d.h. Einsichten und Gedanken über etwas, was gut und richtig ist. Wir glauben an die Person des Sohnes Gottes, Jesus Christus. Wir glauben an geschichtliche Ereignisse und natürlich an ihre Bedeutung, die mit diesen Ereignissen verbunden ist. Unser Glaube aber wäre leer und sinnlos, wenn wir nur die Bedeutung glauben würden, während die Ereignisse vielleicht gar nicht passiert wären.1 Paulus betont im Hinblick auf die Auferstehung (1Kor 15,14):
„Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist auch unsere Predigt sinnlos und euer Glaube ist ohne Inhalt.“
Deswegen hat Gott in seiner Güte Menschen dazu getrieben, alles Wichtige als Zeugen genau wahrzunehmen und weiterzugeben, dann auch aufzuschreiben, sodass wir es noch über 2000 Jahre später lesen können. Es wäre eine Tragödie, wenn heute niemand mehr von der Geburt, dem Leben, Sterben und der Auferstehung von Jesus wüsste, sondern vielleicht nur eine allgemeine Formel der Art „Gott liebt uns alle“ hätte.
Unter dem Wort „Geschichte“ verstehen wir zu Recht sowohl das Geschehen selbst als auch den Bericht davon. Dass die in der Bibel berichtete Geschichte für unseren Glauben unabdingbar ist, sollte uns eigentlich klar sein. Den frühen Christen, die unser Glaubensbekenntnis formuliert haben, war es das. Sie haben den ganzen mittleren Teil als eine Geschichtserzählung aufgebaut. Er beginnt noch mit einer Glaubensaussage über „Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unseren Herrn“. Dann aber werden Ereignisse aufgezählt: „…. empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.“
Wie Lukas erzählt
An der Art, wie Lukas die Geschichte von Jesus und seinem Kommen in die Welt erzählt, sehen wir, dass er keineswegs nur Glaubenswahrheiten vermitteln wollte. Er wollte Glauben wecken, indem er Geschichte erzählte. Dieser Glaube ist in seinem Kern ein tiefes Vertrauen, das uns mit Gott und Christus verbindet. Aber er ist eben auch ein Überzeugtsein von Tatsachen, die wir selber nicht erlebt haben, die aber zuverlässig berichtet wurden. Damit einige unglaubliche Details der Geschehnisse nicht als Märchenerzählung erscheinen, hat Lukas sie mit anderen geschichtlichen Daten verbunden. Andernfalls hätte sich Theophilus nicht von der Zuverlässigkeit der Geschichte der Erlösung durch Christus überzeugen können. Er konnte es nicht anhand des Erzählstils von Lukas oder weil Lukas, der Arzt, ein ausgewähltes griechisches Vokabular benutzte oder weil er einfach ein netter Mann war. Er konnte es, wenn er die enge Verzahnung des bekannten Geschichtsverlaufs der Zeitgeschichte mit dem Kommen von Jesus sah. Dazu kommen namentliche Zeugen, die zur Zeit von Theophilus noch lebten bzw. deren Verwandte und Freunde noch lebten, und die der Erzählung widersprechen oder sie bestätigen konnten. Lukas streute dazu auch ein paar extra Namen in seine Erzählung ein, z.B. Johanna, die Frau von Chuza, der ein Beamter des Herodes Antipas war2, oder Susanna (Lk 8,3; 24,10) oder Hanna, die alte Prophetin (Lk 2,36), oder Kleopas, einer der Emmausjünger (Lk 24,18).
In der Weihnachtsgeschichte ist da der römische Kaiser Augustus und seine bekannte Vorliebe für Volkszählungen, die nun auch in der Provinz Syria durchgeführt wurden, zu der Israel im Römischen Reich gerechnet wurde. Dieses geschichtliche Detail ist oft angezweifelt worden, weil es unter Quirinus eine weitere Zählung in Israel gab und Lukas eine Verwechslung unterstellt wird. Das Problem an dieser Annahme ist, dass diese Einzelheit so mit dem Geschehen verwoben ist, dass man sie nicht einfach weglassen kann. Immerhin nennt sie Lukas als den Grund, warum sich Josef mit seiner schwangeren Frau auf die Reise nach Bethlehem machte. Das zeigt, dass es nicht um eine einfache Kopfzählung gegangen sein kann, sondern dass Augustus Steuerlisten anfertigen ließ, die mit Grundbesitz verbunden waren. Den hatte das junge Ehepaar offenbar in Bethlehem, während sie wegen der Arbeit im Baugewerbe im Norden Israels, in Nazareth, lebten. Aus der Apostelgeschichte des Lukas wissen wir (5,37), dass Lukas andere Volkszählungen nicht unbekannt waren. Außerdem betont er, dass es sich hier um die erste (römische) Zählung handelt. Also gab es später weitere. Es bleibt am Ende nur ein Problem: Quirinus war nach unserer Kenntnis aus anderen glaubwürdigen Quellen erst bei der zweiten Zählung der offizielle Statthalter des Augustus für die Provinz. Entweder war Quirinus auch schon mit der ersten Zählung beauftragt oder Lukas meint, die erste Zählung habe stattgefunden, bevor Quirinus als römischer Statthalter die zweite – offenbar mit Unruhen verbundene – durchführte.
Dass solche Beobachtungen für die Botschaft vom Kommen des Heilands der Welt wichtig waren, darauf macht Lukas auch mit der Vorgeschichte aufmerksam. Die Geburt von Jesus wird angekündigt. Auch der Vorläufer, Johannes der Täufer, wird nach besonderer Ankündigung geboren. Und wieder ist Lukas wichtig, das mit der Zeitgeschichte zu verbinden (1,5). Die Formulierung ist die Gleiche wie am Anfang des zweiten Kapitels:
„Es begann in der Zeit, als Herodes König von Judäa war. Damals lebte dort ein Priester namens Zacharias, der zur Priesterabteilung des Abija gehörte. Seine Frau hieß Elisabet und stammte aus dem Priestergeschlecht Aarons.“
Herodes war von 37 v.Chr. bis zu seinem Tod 4 v.Chr. König aufgrund der Zustimmung des römischen Feldherrn und Politikers Octavian, der ab 31 v.Chr. Kaiser Augustus wurde. Herodes musste die ganze Zeit seine Regierungsmaßnahmen mit Rom abstimmen und erhielt Kritik, wenn sein Handeln römischen Interessen schadete. Er war außergewöhnlich lange König in Judäa. Auch wenn er zur Zeit der Abfassung des Lukasevangeliums schon länger tot war, war sein Handeln im Gedächtnis geblieben. Er hatte mit ausgedehnten Baumaßnahmen Spuren hinterlassen. Insbesondere der Tempel in Jerusalem stand prächtig da, weil er sich dafür eingesetzt hatte. Das wurde anerkannt (21,5), selbst wenn viele Juden Herodes, den Hasmonäer, verachtet hatten. Im wahrscheinlich vorletzten Regierungsjahr des Herodes wird also Jesus geboren. Lukas macht es nicht wie manche moderne Romanautoren, die Zeitgeschichte als Hintergrund für eine erfundene Erzählung benutzen. Lukas macht die Glaubwürdigkeit der ewigen Errettung von dem Geschehen innerhalb der Zeitgeschichte abhängig. Das ist sehr gewagt, weil es das Evangelium unglaubwürdig machen würde, wenn sich Lukas in einigen Details geirrt hätte oder er es nicht so genau nehmen würde. Das zeigt aber zugleich, dass die Geschichtlichkeit des Evangeliums keine Nebensache darstellt.
Wie wichtig ihm die Zusammenhänge sind, erkennen wir an einem weiteren, leicht zu übersehenden Detail der Weihnachtsgeschichte. Die Erkennungszeichen für den neugeborenen Retter und Messias, die den Hirten auf dem Feld mitgeteilt werden, sind geschichtlicher Natur: Er wurde nach der Geburt in eine Futterkrippe gelegt. Dort liegt er in Windeltücher gewickelt (2,12). Diese Hinweise für die Hirten machen nur Sinn, weil sie Einzelheiten im Geschehen sind. Würde man normalerweise nicht eher einen Heiligenschein erwarten oder Engel, die neben der Krippe stehen? Diese Einzelheiten werden zu Erkennungszeichen, weil sie auch für die damalige Zeit ungewöhnlich waren. Und auch am Beginn der Wirksamkeit von Jesus Christus setzt Lukas erneut geschichtliche Daten (3,1-2):
„Es war im 15. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa; Herodes Antipas regierte als Fürst in Galiläa, sein Bruder Philippus in Ituräa und Trachonitis, Lysanias in Abilene; Hohepriester waren Hannas und Kajafas. In dieser Zeit erhielt Johannes, der Sohn des Zacharias, draußen in der Wüste einen Auftrag von Gott.“
Warum Geschichte so wichtig ist
Ist die Gesamterzählung von Jesus glaubwürdig, dann sind es auch solche Details des Handelns von Jesus, die beweisen, dass er der Retter sein muss.
Lukas sind diese geschichtlichen Details aus verschiedenen Gründen wichtig. Erstens geht es um Bestätigungen für die Glaubwürdigkeit. Matthäus beruft sich dafür stärker auf die Erfüllung von Verheißungen, aber auch bei Lukas ist das ein Aspekt. Gott hatte mehrere Jahrhunderte zuvor den Geburtsort Bethlehem durch den Propheten Micha mitgeteilt. Er sagte voraus, dass es den Ort zur Zeit des Kommens des Retters noch geben würde. Er nannte ihn zugleich einen kleinen und unbedeutenden Ort, der er bei der Geburt von Jesus war. Gott wollte die geschichtliche Erfüllung von Voraussagen und damit zeigen, dass er der Herr der Geschichte ist. Der ewige Logos und Sohn Gottes wurde Mensch und hatte seitdem einen Geburtstag, den er vorher nicht hatte. Gott bestätigte seinen Retter, indem er Dinge geschehen lässt, die nur der Herr der Geschichte geschehen lassen kann. Bei Lukas kommt ein anderer Aspekt dazu: Ist die Gesamterzählung von Jesus glaubwürdig, dann sind es auch solche Details des Handelns von Jesus, die beweisen, dass er der Retter sein muss (vgl. 10,13). Wie Gott schon in der Erschaffung der Natur seine Handschrift hinterlassen hat und alles so gemacht, dass es auf einen Schöpfer hinweist, so hat er seine Handschrift auch in der Geschichte hinterlassen. Jeder sollte daran sehen, dass es unmöglich Zufall sein konnte, was bei der Geburt von Jesus geschah. Jeder soll sehen, dass im Wirken von Jesus nur Gott selbst am Werk sein kann. Die geschichtlichen Details dienen der Glaubwürdigkeit. Gott wirbt damit um Vertrauen zu seinem Weg der Errettung durch seinen Sohn Jesus Christus.
Lukas wollte offenbar nicht nur Glaubenswahrheiten vermitteln, sondern wahren Glauben mit der Verkündigung von geschichtlichen Ereignissen wecken.
Zweitens aber sollte die Rettung selbst auch als Ereignis in Raum und Zeit Wirklichkeit werden. Die Rettung von Sünde besteht nicht nur in dem zeitlosen Liebeswillen Gottes, durch den er unsere Schuld vergibt. Das hätte Gott auch jederzeit und ganz unabhängig von irgendwelchen Ereignissen tun können. Er wollte aber seine ewige Gnade offenbar an Geschehnisse in Raum und Zeit in seiner Schöpfung binden. Heute stört das viele. Sie behaupten, dass Gott mit der Geburt von Jesus und mit seinem Sterben am Kreuz nur ein Zeichen seiner ewigen Liebe geben wollte. Aber die Liebe Gottes ist mehr als ein rein geistiger Zustand oder eine Stimmung in Gott. Sie ist zugleich auch ein Geschehen, eine Tat, die Gott an uns tut. Für Lukas ist offenbar klar, dass man diese beiden Seiten der Liebe Gottes nicht voneinander trennen kann. Gott zeigt nicht nur seine Liebe durch das Kommen von Jesus. Gott liebt uns mit dem Kommen von Jesus. Gott liebt uns mit der Geburt des Christus als Kind von Maria und Josef. Er liebt uns mit dem Sohn, der Mensch geworden ist. Er liebt uns mit dem Sterben des Christus am Kreuz. Er liebt uns mit der Auferweckung seines Sohnes. Er liebt uns mit der Erhöhung des Sohnes.
Paulus formuliert es so (2Korinther 5,18-19):
„Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“
Gott war in Christus gegenwärtig. Seine Liebe ist also der menschgewordene Jesus in der Krippe. Seine Liebe ist der am Kreuz qualvoll sterbende Jesus. Seine Liebe ist der auferstandene und erhöhte Herr.
Das alles hat drittens Folgen für uns und unseren Glauben. Unser Glaube richtet sich einerseits allgemein auf das Wesen Gottes, das wir allerdings auch durch sein Handeln in der Geschichte kennen, und nicht nur aufgrund allgemeiner Beschreibungen. Die würden uns nämlich nicht ausreichen. Was Gottes Gnade, Liebe oder Geduld ist, wissen wir nicht durch Definitionen der Wörter, sondern sehen es daran, wie sich Gottes Wesen in seinem Handeln zeigt. Und dann ist dieser Glaube nicht von unserer eigenen Geschichte getrennt. Der Glaube ist auch bei uns ganz verwoben mit unserem Leben. Gott handelt in unserem Leben, wir handeln aus Glauben. Er schenkte uns seinen Heiligen Geist zu der Zeit, als wir zum Glauben fanden. Er hat wohl unser Leben schon von Ewigkeit her gesehen, aber wir waren durch Sünde tot für ihn und werden durch sein Eingreifen lebendig durch den Glauben. Das geschah in der Geschichte von Jesus: wir sind mitgestorben, mitbegraben, mitauferstanden und miteingesetzt im Himmel, was wir in unserer Geschichte glauben (vgl. Eph 2,4-7).
Unsere Geschichte wird so verbunden mit der Geschichte von Jesus Christus. Das ist übrigens auch der Grund dafür, warum die Geschichte der Kirche des Christus für Christen immer wichtig war. Lukas hat mit der Aufzeichnung in seiner Apostelgeschichte begonnen und gezeigt, dass geschichtliche Ereignisse der Beweis dafür sind, dass Gott Mission und Kirche überhaupt wollte. Aber auch der weitere Blick auf die Wolke der Zeugen ist lehrreich, weil wir sehen, dass Christus für seine Kirche sorgt bis zu seinem endlichen Ziel. Das tut er trotz der Feindschaft der Welt gegen die Gläubigen und trotz der Sünde und mancher Irrtümer auch unter den Gläubigen.
Rudolf Bultmann trennte das geschichtliche Ereignis von der Bedeutung, die er das Kerygma nannte. Bultmann sah in der Berufung von Paulus auf Zeugen der Auferstehung einen Fehler, weil Paulus das geschichtliche Ereignis betone, statt seiner Bedeutung im Kerygma. Diese Idee hat viele Nachfolger bis heute. ↩
Aus dieser Quelle stammte vielleicht die Geschichte von der Begegnung zwischen Jesus und Herodes, die allein Lukas erzählt (23,6-16). ↩