Der in der Ukraine geborene und in Deutschland lebende Jude Anatoli Uschomirski legt in diesem Band eine Auslegung der Bergpredigt vor. Unter den Kapitelüberschriften „Voraussetzungen für Jünger“, „die Bessere Gerechtigkeit“ und „Das Vaterunser“ werden die Bibeltexte in Matthäus 5,1-16; 5,17-48 und 6,9-15 behandelt. Dabei handelt es sich nicht um eine Auslegung in Form eines Kommentars, sondern eine freie Behandlung des Textes, in der Uschomirski auch eigene Gedanken, Assoziationen aus seinem kulturellen Hintergrund und Zitate aus jüdischen Quellen ins Spiel bringt.
Der rote Faden ist dabei die Betrachtung aus „jüdischer Sicht“, die im Titel angekündigt wird. Dem Autor gelingt es, den Leser in seine eigene Gedankenwelt mitzunehmen, in der sich häufig ganz andere Assoziationen und Bezüge nahelegen, als es der Leser aus seiner eigenen Kultur gewöhnt ist. In vielen Fällen sind die Quellen oder Hintergründe, die der Autor nennt, eine echte Hilfe zum besseren Verständnis des Bibeltextes. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Der Autor liest den Bibeltext häufig aus seiner eigenen Prägung, Kultur und Tradition und führt dafür Quellen oder Bräuche an, die weit von der Zeit Jesu entfernt sind. Werden diese unreflektiert in die Zeit Jesu übertragen, entsteht zwar eine Auslegung aus jüdischer Sicht, die aber dennoch wenig mit dem jüdischen Leben zur Zeit Jesu zu tun hat. So gibt der Autor mitunter lange Anekdoten oder Traditionen aus späteren jüdischen Quellen wieder, ohne dass ein direkter zeitlicher oder inhaltlicher Bezug zur behandelten Stelle erkennbar wird (z.B. S. 80-21). Für den Leser ist daher nicht erkennbar, in welchen Fällen tatsächlich eine relevante Erklärung vorliegt und wo eine Ausführung zwar interessant, aber für die Zeit Jesu von geringem Nutzen ist.
Uschomirski, Anatoli: Die Bergpredigt aus jüdischer Sicht. Was Juden und Christen gemeinsam von Jesus lernen können. Holzgerlingen: SCM Hänssler 2021. 208 S. Gebunden: 15,95 €. ISBN 978-3-7751-6000-1
Ungewöhnlich ist, dass der Autor gerne ganze hebräische Sätze (S. 21-22) oder aramäische Worte (S. 79) unkommentiert wiedergibt, ohne dass dies für den Leser einen Nutzen hätte. Etwas verblüfft stellt man am Ende des Buches fest, dass die Behandlung mit dem Ende des „Vaterunsers“ abbricht und damit – anders als der Titel erwarten lässt – tatsächlich nur die erste Hälfte der Bergpredigt behandelt wird. Die Auslegung der „Bergpredigt aus jüdischer Sicht“ ist damit tatsächlich eine relativ freie Behandlung der ersten Hälfte der Rede aus einem häufig viel späteren kulturellen Blickwinkel, als der eines Zuhörers zur Zeit Jesu.
Fazit: Dem Autor gelingt es immer wieder, seinen eigenen jüdischen Blickwinkel auf die Bergpredigt zu vermitteln, der interessante und wertvolle Einsichten liefert. Die Erwartung, dass damit zugleich die Zeit Jesu und die Hintergründe der Bergpredigt besser verständlich werden, erfüllt sich jedoch nur zum Teil.