LiteraturBiografien, Buchbesprechungen, Judentum/Israel

Ultraorthodox. Mein Weg

Akiva Weingarten wird in eine ultra­orthodoxe jüdische Familie der Satmarer-Chassidim in den USA im Jahre 1984 geboren. Authentisch und lebensnah beschreibt er seine Kindheit und Jugend in dieser von ungezählten Regeln geprägten Glaubensgemeinschaft, die stark exklusiv geprägt ist und sich sowohl von der Welt der „Goyim“ (Heiden) wie auch von anderen jüdischen Richtungen absondert. Nicht nur die 613 Gebote und Verbote der Torah hat Akiva zu befolgen; auch die unzähligen zusätzlichen Regeln der Halacha, die im Laufe der Jahrhunderte von den rabbinischen Rechtsschulen formuliert worden sind, müssen beobachtet werden. Von diesen Regeln spricht auch Jesus in Matthäus 15,1ff. und weist sie zurück, weil sie erstens das Licht der Torah verdunkeln und zweitens den Menschen nicht tragbare Lasten auferlegen (Matthäus 23,4).

Akivas Vater ist ein überzeugter Chassidim und so ist der Weg seines erstgeborenen Sohnes vorgezeichnet. Er besucht verschiedene ultraorthodoxe theologische Ausbildungsstätten in den USA und Israel und lernt dort, wie die Gebote und Regeln von Torah und Halacha in der heutigen Zeit anzuwenden sind. Doch zunehmend fühlt er sich durch die Unzahl der zu befolgenden Regeln eingeengt und in seiner Freiheit beschnitten. Auch nimmt er in seiner exklusiven Gemeinschaft Heuchelei und geistlichen sowie sexuellen Missbrauch wahr. Über Freunde erfährt er von Ergebnissen der historisch-kritischen Theologie und zweifelt fortan immer stärker an der historischen Zuverlässigkeit des Alten Testamentes. Dazu kommt, dass er unglücklich verheiratet ist. Seine Frau, die ihm nach ultraorthodoxer Tradition von der Familie zugeführt wurde, stellt für ihn kein wirkliches Gegenüber dar, mit dem er sich auf Augenhöhe austauschen kann. So reift in ihm ein verwegener Entschluss: Er will sowohl seiner Familie – er hat drei Kinder – wie auch dem ultraorthodoxen Judentum entfliehen. 2014 verlässt er tatsächlich Israel und reist nach Berlin. Dort fällt er zunächst in ein Loch, denn plötzlich wird ihm seine Heimatlosigkeit bewusst und sogar Suizidgedanken steigen in ihm hoch, wie man es von vielen Menschen kennt, die einer exklusiven Gruppe den Rücken gekehrt haben und plötzlich auf sich allein gestellt sind. Doch Akiva spricht jiddisch und findet schnell Zugang zur deutschen Sprache und Gesellschaft. Verschiedene Begegnungen mit wohlwollenden Menschen helfen ihm, in seiner neuen Welt Fuß zu fassen. Er beginnt ein Studium der Judaistik an der Universität Potsdam und wird schließlich Rabbiner in Basel und Dresden. Seine Aufgabe sieht er heute vor allem darin, Aussteigern aus dem ultraorthodoxen Judentum zu helfen, sich in der säkularen Gesellschaft zurecht zu finden und gleichzeitig an den Traditionen des Judentums festzuhalten.

Weingarten, Akiva: Ultraorthodox. Mein Weg. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2022. 256 S. Hardcover: 20 €. ISBN: 978-3-579-06218-1

Weingarten hat ein lesenswertes Buch geschrieben. Es erklärt die Welt der jüdischen Ultraorthodoxen, die, so könnte man mit Paulus sagen, wirklich „Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht“ (Römer 10,2). Eindrücklich zeigt der Autor, dass der Weg der völligen Absonderung von der Mehrheits­gesell­schaft problematisch ist. Statt sich strikt abzukapseln und in sektenhafte Zustände zu verfallen, muss man die Menschen anleiten, mit den Versuchungen der „unreinen Welt“ umzugehen und das Böse zu meiden. Zugleich machen Weingartens Ausführungen und sein Lebensweg deutlich, dass das ultraorthodoxe Judentum mit seinen Hunderten zusätzlichen Regeln das Urteil Jesu über die Rabbiner bestätigt: „Ihr schließt das Himmelreich vor den Menschen zu; ihr selbst findet nicht den Weg hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen.“ (Matthäus 23,13) Tragisch ist, dass Weingarten vom Regen in die Traufe fällt, indem er von einem ultraorthodoxen zu einem liberalen Juden mutiert. Die historisch-kritische Theologie scheint ihn – das klingt an manchen Stellen seines Buches an – zu einem Agnostiker gemacht zu haben, der – in kantscher Tradition – objektive Gotteserkenntnis für unmöglich hält und keinen persönlichen Gott kennt (S. 227), sondern dessen geistlicher Dienst sich im Einhalten verschiedener jüdischer Überlieferungen und Bräuche erschöpft.