LiteraturBibelverständnis

Darf die Bibel heute Richter sein? Ein Kommentar zum Grundlagentext der EKD zur Bibel

Die EKD besinnt sich in einer Grundlagenschrift von 2021 auf die Notwendigkeit, dass die Bibel Richtschnur und Richter für alle Entscheidungen in Kirche und Gemeinde sein muss. Obwohl die Theologen die Probleme erkennen, entscheidet man sich statt für eine schriftgemäße Entscheidungshilfe für den unbestimmten Weg eines „Überlegensgleichgewichtes“.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) legt einen Grundlagentext vor, der den Gebrauch der Bibel für ihre Entscheidungen erklären und rechtfertigen soll. Dazu hat sie ihre Theologische Kammer mit dem Verfassen des vorliegenden Textes beauftragt, die mit zahlreichen Theolo­ginnen und Theo­logen unter der Leitung von Christoph Markschies besetzt ist. Auch den Evan­gelikalen nahestehende Personen wie Thorsten Dietz zählen dazu1.

Man mag sich fragen, wie es zur Erkenntnis der Notwendigkeit eines solchen Textes gekommen ist, denn seit der Reformation ist doch evangelische Kirche nicht ohne das Fundament des Wortes Gottes aus der Bibel denkbar:

„Zum Selbstverständnis evangelischer Kirchen gehört es, dass sie der Heiligen Schrift für die Begründung kirchlicher Lehre und Urteilsbildung eine hervorgehobene Bedeutung zuerkennen. Die Schrift in der Einheit von Altem und Neuem Testament soll als ‚Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einzigen Prüfstein alle Lehren erwogen und beurteilt werden‘ (UG 675), dienen, wie es die lutherischen Bekenntnisschriften formulieren und darin einen gemeinreformatorischen Grund­satz zum Ausdruck bringen.“ (11)

Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen: ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2021. 116 Seiten. Online auf ekd.de

Offenbar hat die Bibel trotzdem ihren Rang in den evangelischen Kirchen weithin eingebüßt. Zwar gibt es weiterhin viel gelehrsame Erforschung der Bibel, aber in den konkreten Entscheidungen spielen dann die Aussagen der Bibel oft nur eine untergeordnete Rolle. Davon zeugen auch zahlreiche andere Texte, die die EKD in den vergangenen Jahren herausgegeben hat2. Darin werden zwar fast immer die Aussagen der Bibel gut wiedergegeben. Dann aber wird begründet, warum man doch Entscheidungen getroffen hat, die sich kaum mit Prinzipien und Geboten der Bibel vereinbaren lassen. Das folgende Zitat deutet die Spannung an, die durchgängig zum zweiten Teil hin aufgelöst wird:

„Der evangelische Anspruch an kirchenleitende Ent­schei­dun­gen ist der, dass sie dem Evangelium entsprechen, wie es die biblischen Schrif­ten bezeugen und wie es in den Bekenntnisschriften als Richtschnur kirchlicher Lehre zum Aus­druck gebracht ist, und dass sie dabei dem gegenwärtigen Stand von wissenschaftlicher Forschung sowie den gesellschaftsöffentlichen Debatten und kulturellen Entwicklungen angemessen Rechnung tragen.“ (18)

Das Zeugnis der Bibel kann sich nicht einmal gemeinsam mit den evangelischen Bekenntnis­schriften gegen Wissenschaft, veröffentlichte gesellschaftliche Meinung und kulturellen Entwicklungen behaupten. Immer scheint der gesellschaftliche Mainstream Recht zu haben, während die Bibel höchstens noch einen Akzent dazu beisteuern darf, aber nicht in einen echten Widerspruch treten.

Immer scheint der gesellschaftliche Mainstream Recht zu haben, während die Bibel höchstens noch einen Akzent dazu beisteuern darf, aber nicht in einen echten Widerspruch treten.

Warum das so ist, lässt sich aus dem Grundlagentext meines Erachtens gut erkennen. Denn darin wird vor allem problematisiert, warum es so schwierig ist, aus der Bibel überhaupt Wegweisung für konkretes Handeln und Entscheidungen zu erhalten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob die Autoren davon ausgehen, dass der evangelische Christ, der eigentlich in der Lage sein sollte, mit der Bibel moralische oder lehrmäßige Entscheidungen zu treffen oder sie zu beurteilen, die Bibel gar nicht kennt und auch keine „geübten Sinne“ hat, wie es das Neue Testament für jeden Christen erwartet. Die Bibel und das Leben scheinen vor allem kompliziert:

„Die komplizierte Debattenlage in der Exegese macht es für Nicht-Exegeten schwierig, ein Urteil über eine angemessene Auslegung einzelner Bibeltexte zu fällen. Ebenso herausfordernd ist es, über ethische Fragen zu entscheiden und nur begrenzt Fachwissen über die jeweilige Sachmaterie zu haben und sich in den wissenschaftlichen Debatten zu orientieren. Das gleiche gilt für Fragen der Dogmatik, für kirchengeschichtliche Zusammenhänge, für praktisch-theologische und für juristische Perspektiven“ (19).

Ist dann die Bibel so „kompliziert“, dass der normale Christ in der Kompliziertheit des Lebens gar keine Schlüsse daraus ziehen kann? Und gibt es nicht einmal in den Synoden und Kirchenleitungen geeignete bibelfeste Personen, so dass alles nur noch von „Experten“ entschieden werden kann? Eigentlich gibt man damit wichtige evangelische Prinzipien, wie die Lehre von der Klarheit der Schrift und das Priestertum aller Glaubenden, auf. Das Problem ist jedoch offensichtlich mit einem theologischen „Expertengremium“ nicht gelöst, weil die Experten die „Debattenlage“ erst recht „kompliziert“ gemacht haben. Ein anderes Problem des Grundlagentextes korrespondiert damit. Man hat bei vielen Formulierungen den Eindruck, als ob es in den letzten 2000 Jahren keine bibelgeleitete Kirchenleitung gegeben hätte und man sie heute neu erfinden müsste. Dieser Ton modernen Hochmuts über die Christen früherer Jahrhunderte erscheint mir unangebracht und passt auch nicht zu der später im Text sehr positiv entfalteten Bibelhaltung der Reformationszeit.

Ein Problem mit Wörtern?

Dann weitet sich die Problematisierung auch direkt auf die biblischen „Satzwahr­heiten“ aus, die gegenüber irgendeinem scheinbar von biblischen Sätzen unabhängigen Glauben des Menschen an Jesus Christus und das Evangelium zurückstehen.

„Das Evangelium ist ihm wiederum nicht in bloßen Satzwahrheiten gegeben, sondern erschließt sich im Glauben an Jesus Christus und wird im Glauben zur existenzbestimmenden Wahrheit für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft der Glaubenden. Glaubende Menschen drücken ihre Frage nach dem, was dem Evangelium gemäß ist …, auch noch in anderen Begriffen aus: als Suche nach der wahrhaft christlichen Existenz, nach dem Weg der Nachfolge Jesu, nach dem Leben als Kinder Gottes oder als Weg der radikalen Liebe.“ (22)

Die Bibel ist nun einmal ein Buch, in dem Sätze stehen und Wahrheit mit Wörtern vermittelt wird. Will man sich nach ihr richten, kommt man an „Satzwahrheiten“ nicht vorbei. Richtig ist, dass die Botschaft des Evangeliums geglaubt und gelebt werden will und nicht in philosophischen Denkbewegungen besteht. Wenn anstelle der Wörter der Bibel eine „existenzbestimmende“ Glaubenserfahrung des Einzelnen zur leitenden Wahrheit wird und diese dann zum legitimen Inhalt eines christlichen Lebens wird, ist die Normgebung durch die Heilige Schrift praktisch aufgegeben.

Dass das nicht eigentlich evangelisch ist, wird im starken Teil über die Entwicklungen und Entscheidungen der Reformationszeit deutlich. Eine Besinnung auf die Theologie der Reformatoren und das Reden der Bibel kann offenbar wegweisend sein:

„Dieses Versöhnungshandeln Gottes ist nicht zu trennen vom „Wort von der Versöhnung“ (2Kor 5,19). In diesem Wort kommt Gott selbst zur Sprache und so zum Menschen. Das Christusgeschehen und das Zeugnis davon bilden das eine Handeln Gottes, durch das Gott dem sündigen Menschen Gemeinschaft mit sich gewährt. Versöhnungstat und Versöhnungswort gehören zusammen. Das Wort von der Versöhnung bezeichnet Paulus auch als das Wort vom Kreuz (1Kor 1,18), als Evangelium Christi (2Kor 2,12) bzw. Evangelium Gottes (2Kor 11,7) oder eben auch als Wort Gottes (2Kor 2,17; 4,2). Gottes Handeln in Jesus Christus ist der Inhalt des Evangeliums, und zugleich ist das Evangelium das Wort, durch das Gott selbst sich mitteilt. Darum kann das Evangelium bzw. das Wort vom Kreuz genauso wie Jesus Christus als Kraft Gottes bezeichnet werden, die selig macht (vgl. 1Kor 1,18 und Röm 1,17 mit 1Kor 1,24). Das Evangelium in Persona Jesu Christi ist von der apostolischen Verkündigung unterschieden, ohne davon getrennt werden zu können. Das Evangelium Gottes ist der christlichen Verkündigung vor- und aufgegeben als Dienst, der die Versöhnung predigt (2Kor 5,18-20). Jede Verkündigung muss sich an diesem Maßstab messen lassen (Gal 1,6-9).“ (32-33)

Aber warum will man den Weg dann nicht gehen? Er scheint – trotz Zustimmung – für die Gegenwart nur noch als schöne Erinnerung geeignet. Nachdem gut dargelegt wurde, wie die Reformatoren den Zusammenhang von Heiliger Schrift und Wirken des Heiligen Geistes beschrieben haben, versuchen die Autoren die Sache doch wieder in Richtung eines modernen Pluralismus zu öffnen. Oder wie man soll man diesen Schluss verstehen?:

„Solche Rede von Inspiration steht für die Einsicht, die Schrift als Gabe von Gott her zu empfangen, wie für das Bewusstsein der Unverfügbarkeit ihrer angemessenen Auslegung wie ihrer seligmachenden und verwandelnden Kraft. Nur im Horizont einer solchen Auslegungsgemeinschaft kann von den biblischen Texten angemessen als Heiliger Schrift bzw. Gottes Wort die Rede sein.“ (40)

Gerade war noch klar, wie die Schrift sich selber als Wort Gottes qualifiziert und dass das auch unzweifelhaft von Jesus und den Aposteln bestätigt ist, nun aber braucht es erst die jeweilige „Auslegungsgemeinschaft“, die den biblischen Text zum Wort Gottes macht, indem sie ihre eigene Auslegung als Weisung Gottes interpretiert.

Bei den Konsequenzen aus den Erkenntnissen der Refor­matoren stößt man auf ähnliche Doppeldeutigkeiten. Da wird einerseits die Vorgegebenheit der Texte betont, die „bleibender Bezugspunkt und Korrektiv“ für den Ausleger sind, und andererseits sollen eben diese Texte weniger reden, sondern mehr durch „dialogische Auslegung“ neue religiöse Erfahrungen hervorrufen. Und dann können auch die eigentlichen Aussagen und die Aussageabsichten der Texte und ihrer Autoren zur Disposition stehen und sich „neue Bedeutungsaspekte“ und „neue Sinnhorizonte“ ergeben (41-42).

Damit das auch richtig verstanden wird, fügen die Autoren beispielhaft ein, dass wir Galater 3,28, „dass in Christus weder Jude noch Grieche, Sklave noch Freier, männlich noch weiblich seien“, so verstehen müssen, dass Menschen nicht abgewertet werden, „die sich in der dualen Unterscheidung von Mann und Frau nicht wiederfinden.“ Nun ist erstens Diskriminierung von Menschen, aus welchen Gründen auch immer, schon durch das allgemeine christliche Liebesgebot ausgeschlossen. Das fordert – genau betrachtet – sogar viel mehr als der gesellschaftliche Ruf nach Akzeptanz jeglicher Lebensweise. Christen lieben nämlich sogar Menschen, deren Verhalten sie wegen einer biblischen Ethik ablehnen. Zweitens aber hat Galater 3,28 mit diesem Thema kaum etwas zu tun, weil es hier, wie auch alle umliegende Verse betonen, darum geht, dass die Kindschaft bei Gott durch den Glauben an Jesus Christus das entscheidende Maß für die christliche Gemeinschaft geworden ist und andere trennende Kategorien ihre Autorität verloren haben, auch wenn sie weiter zur Wirklichkeit gehören.

Ein Loblied auf die historisch-kritische Methode

Ein weiterer Grund für das Dilemma, um das sich der Grundlagentext dreht, scheint mir die fehlende kritische Distanz zur historisch-kritischen Methode (HKM) der Bibelauslegung zu sein. Bei der Verteidigungsrede und dem Loblied für die historisch-kritische Methode möchte man an fast jeden Satz Fragen stellen, weil vieles schlicht nicht wahr ist. So hat nicht erst die historisch-kritische Methode das Bewusstsein mit sich gebracht, dass die Bibel durch einen langen Prozess entstanden und überliefert wurde. Das hat die Kirche immer gewusst und auch meistens in ihrer Auslegung beachtet. Die HKM hat aber z.B. ohne einen Beleg behauptet, dass kaum ein Satz in den Evangelien wirklich von Jesus gesagt wurde, sondern alles spätere „Gemeindebildungen“ gewesen seien, die erst im Überlieferungsprozess entstanden. Nicht „die Historizität der Ereig­nisse der Vor- und Frühgeschichte“ wurde durch die Natur- und Geschichtswissenschaften „fragwürdig“, sondern sie wurden von der Theologie massiv in Frage gestellt und als religiöse Märchengeschichten eingestuft. Weder die Überwindung der Sklaverei, die Hinterfragung der Monarchie als gottgegeben oder die Bekämpfung einer ungerechten Unterdrückung von Frauen geht auf die historisch-kritische Methode zurück.

Nicht erst die historisch-kritische Methode hat den Textsinn freigelegt. Sie hat ihn durch ihre komplizierten Konstruktionen teilweise völlig unklar werden lassen und sogar ins Gegenteil verkehrt.

Das sind Mythen, die sich leicht widerlegen lassen. Es ist auch nicht die HKM gewesen, die uns erst „den historischen Textsinn freigelegt“ hätte. Sie hat ihn sogar durch ihre komplizierten Konstruktionen teilweise völlig unklar werden lassen und gelegentlich sogar ins Gegenteil verkehrt. Ist es wirklich die HKM, die den wahren Textsinn „gegen eine autoritative, interessengeleitete Textauslegung zum Zuge gebracht“ hat? (43) Ist es nicht vielmehr all zu oft so, dass die Methoden dieser Schriftauslegung erst recht Tür und Tor für eine beliebig „interessengeleitete Textauslegung“ geöffnet haben? Ohne Zweifel findet sich unter der Überschrift „historisch-kritische Methode“ viel wissenschaftliche Gelehrsamkeit, ein Interesse an den biblischen Sprachen und dem, was wirklich da steht und von den Autoren der Bibel ausgesagt wurde. Das aber war keine Innovation der HKM, sondern hat es auch in den Jahrhunderten zuvor gegeben. Die HKM wollte als Neuerung alles Forschen an der Bibel einem Wissenschaftsbegriff ohne Gott unterstellen, was z.B. dazu führte, dass die offenbarten Wunderberichte so analysiert werden, als ob es keinen Gott gäbe. Dann ist es nicht verwunderlich, dass im Ergebnis bei der Geburt von Jesus durch die Jungfrau Maria kein Ereignis in Raum und Zeit vorliegen soll, sondern nur eine nebensächliche antike Glaubensüberzeugung.

Man reibt sich die Augen, wenn die Autoren die HKM direkt aus der reformatorischen Schriftauslegung ableiten:

„Von Anfang an wohnten dem reformatorischen Schrift­um­gang Tendenzen inne, die in Richtung historisch-kritischer Exegese führten. Insofern ist die historisch-kritische Methode nichts Fremdes, dem sich die Theologie notgedrungen beugen musste. Sie setzt vielmehr eine Grundintention reformatorischen Schriftverständnisses um, indem sie den Literalsinn der Schrift nach allen Regeln der Kunst freilegt und sich so zur Anwältin des historischen Textsinns und der Vielfalt des biblischen Zeugnisses macht.“ (44)

Tatsächlich ist es so, dass der historische Textsinn unter den Methoden der historischen Kritik häufig zu leiden hat, weil der offensichtliche Literalsinn unter die Räder spekulativer Rekonstruktionen vermuteter Textgeschichte kommt. Es geschieht eben meistens nicht, was die Autoren zu recht fordern:

„Dabei hat sich – und darin liegt die gemeinreformatorische Grundüberzeugung – jede vom Text freigesetzte Auslegung an diesem zu bewähren.“ (44).

Die Autoren können die Rede der Bibel und der Bekenntnis­schriften von der Bibel als Richter nicht verstehen, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass das lebendige Wort Gottes durch den Heiligen Geist selbst tätig ist.

Es ist bezeichnend, dass die Autoren die Rede der evangelischen Bekenntnisschriften von der Heiligen Schrift als „einzigem Richter“ nicht im Sinne der Reformatoren verstehen können. Sie meinten nicht nur, dass man sich an den in der Bibel bezeugten Urteilen als „Ausgangspunkt der Rechts- und Wahrheitsfindung“ orientieren soll (48), sondern sahen mit der Heiligen Schrift Gott selbst am Werk, der handelt, wenn die Schrift als „zweischneidiges Schwert“ unsere Gedanken und Sinne richtet. Für die Autoren des Grundlagentextes gibt es immer nur den Menschen, der der Bibel Streitfragen vorlegt, sie benutzt als Prüfstein, sie irgendwie anwendet und verwendet. Für die Reformatoren hatte das Wort Gottes, weil eben Gott selber dahintersteht, eine eigene Tätigkeit, der wir unterworfen sind. Das Scriptura sui interpres verstanden sie nicht nur als Handeln des geschulten Auslegers, der Verse miteinander in Beziehung setzt und auf Sachverhalte anwendet, sondern in Übereinstimmung mit der Bibel als Handeln Gottes mit seinem Wort an uns und insofern auch als Tätigkeit der Heiligen Schrift.

Es ist erfreulich, dass die Autoren des Grundlagentextes immer wieder betonen, dass das Evangelium, wie es das Alte und Neue Testament bezeugen, der Maßstab für das rechte Verständnis der Schrift sind. Auch muss das Evangelium für alle Ableitungen für die kirchliche Praxis bestimmend sein. So steht es in allen Bekenntnisschriften und so wird es im Text dutzende Male wiederholt.

„Denn die reformatorischen Bekenntnisse erheben den Anspruch, das Evangelium von Jesus Christus zu bezeugen und für die Lehre, Verkündigung und Sozialgestalt der Kirche zur Geltung zu bringen. Sie tun dies, indem sie das Ganze der Schrift und die Vielfalt ihrer Aussagen in der Perspektive des Evangeliums von Jesus Christus lesen“ (52).

Wenn man nun aber im Text sucht, was das vielfach beschworene Evangelium eigentlich ist, dann bleibt eine Leerstelle. Dass die Autoren es nicht wissen, ist kaum anzunehmen. Entweder halten sie das Evangelium für so selbstverständlich klar, dass darüber nicht mehr gesprochen werden muss, oder sie umgehen das Thema, weil ihnen bewusst ist, dass es für diese entscheidende Richtschnur des Bibelverständnisses keine Einigkeit gibt. Das Letztere scheint mir gegeben zu sein, was sich auch daran zeigt, wie gern man Luthers Formel „was Christum treibet“ benutzt, statt zu sagen, was das eigentlich heißen soll.

Wie stellt man ein „Überlegensgleichgewicht“ her?

Mit der Diskussion um die konkrete Ent­scheidungsfindung in ethischen Fragen wird von den Autoren der neue gebildete Begriff „Überlegungsgleichgewicht“ gebildet. Sie stellen treffend heraus, dass die Bibel nur in wenigen Fragen eine einfache Antwort auf ethische Herausforderungen bietet. Sie fordert vielmehr heraus, so mit dem Wort Gottes zu leben, dass es in uns lebt. Dann lernen wir auch, Gebote und Prinzipien auf die jeweilige eigene Situation anzuwenden. Dass die Autoren darauf aufmerksam machen, dass es dabei oft viele Aspekte zu beachten gilt, ist angemessen. Oft sind ethische Entscheidungen mit kultureller Prägung, unter Beachtung rechtlicher Fragen, humanwissenschaftlicher Erkenntnisse und eben auch biblischen Maßgaben zu treffen.

„Für Entscheidungen in komplexen Ab­wägungs­prozessen braucht es die Bereit­schaft, zuzuhören, selbstkritisch eigene Vorannahmen weiterzuentwickeln und mutig Verantwortung zu übernehmen. Durch das Hören auf das Evangelium können Menschen sowohl in der hörbereiten Offenheit gestärkt werden als auch im Mut, schwierige Entscheidungen zu treffen und für diese einzutreten“ (59).

Die Autoren wollen nun mit dem Einbeziehen all dieser Aspekte das „Über­legungs­gleichgewicht“ herstellen. Dazu werden diese irgendwie ausbalanciert, wobei das Evangelium entscheidender Faktor sein soll. Das wird nachvollziehbar dargelegt an der Diskussion im 1. Korintherbrief um das Essen von Fleisch, das einem Götzen geopfert worden war. Auch wenn sich zuerst der Eindruck aufdrängt, als ob alle Entscheidungen in einem dauernden Schwebeakt gehalten werden sollen, so klärt sich doch im Weiteren realitätsgerecht, dass so etwas zu allermeist nicht möglich ist, sondern bestimmte Entscheidungen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt getroffen werden müssen. Im Lebensalltag des Christen sind die Fristen sogar oft noch viel kürzer als in kirchlichen Entscheidungsprozessen. Es ist erfreulich, dass hier auch das einzige Mal Erwähnung findet, dass die Bibel bestimmtes Verhalten, Denken und Glauben auch als falsch verwirft und dass das folglich auch in der Kirche nicht anders sein kann:

„In bestimmten Situationen aber ist es nicht nur sinnvoll, sondern erforderlich, einzelne Positionen als unvereinbar mit Schrift und christlichem Glauben zu markieren. Kirchenleitende Schriftauslegung ist auch ein Akt des Mutes, angesichts einer konkreten Herausforderung einen begründeten Entscheid zu treffen … Sie wird auch Entscheidungen treffen, mit denen sie sich inhaltlich festlegt und denen verbindlicher Charakter zukommt. Dazu ist kirchenleitendes Handeln herausgefordert, um Lehre, Leben und Sozialgestalt der Kirche für die Fragen der Gegenwart am Evangelium zu orientieren und zu gestalten“ (73-74).

Die Füllung des großen Wortes „Überlegen­s­gleichgewicht“ bleibt farblos. Es ist unklar, wie dabei Gottes Wort und Evangelium den Vorrang hat und Richtschnur bleibt.

Trotz allem bleibt aber die Füllung des großen Wortes „Überlegensgleichgewicht“ farblos. Es versucht irgendwie, den Prozess der Ent­schei­dungsfindung (das Überlegen) und das Ergebnis (alles im Gleichgewicht) zusammenzufassen. Aber erstens ist der Weg eben nicht das Ziel. Es bleibt unklar, wie denn nun dabei Gottes Wort und Evangelium den Vorrang hat und Richtschnur bleibt. Und zweitens geht es in der Bibel meistens nicht darum, dass alles irgendwie in eine Harmonie kommt, sondern dass wir zu Gottes Ehre leben, indem wir den Ernst und die Güte Gottes beachten (Röm 11,22). Das wird nach dem Neuen Testament auch ziemlich regelmäßig dazu führen, dass wir in einem Gegensatz zur Welt um uns herum stehen, weil sich die Botschaft Gottes mit dem Geist dieser Welt nicht harmonisieren lässt.

Eine entlarvende Probe

Die dann folgenden drei „Etüden“ sollen zeigen, wie die Herstellung eines „Überlegens­gleich­gewichts“ bei der Anwendung der Botschaft der Bibel auf konkrete Ent­scheidungen zum Tragen gekommen ist. Interessant ist besonders das zweite Beispiel, weil die Autoren zugeben, dass die biblischen Aussagen eine Ordination von Frauen zu einem Leitungsamt in der Gemeinde ausschließen. Trotzdem sehen sie eine „Notwendigkeit der Ordination von Frauen“, weil sie sich „in Anspruch genommen sehen“ „vom Willen Gottes, wie er durch das Heilsgeschehen in Jesus Christus erkennbar geworden ist“ (86). Das Evangelium gebiete den Dienst von Frauen in der Gemeindeleitung, während es die biblische „Einzelanweisung“ klar verbiete. Das sahen zwar die evangelischen Landeskirchen bis vor 60 Jahren noch anders, aber heute gelte das nur noch in „manchen konservativ-evangelikalen Gemeinden, in denen diese Stellen als ‚klares Wort der Schrift‘ und zeitlos gültiger Wille Gottes verstanden werden“. Dort dürften und wollten Frauen wegen „dieser vermeintlichen Schriftbeweise“ keine gemeindlichen Lehr- und Leitungsämter übernehmen (87). Um die Spannung aufzulösen, die entsteht, weil doch eigentlich die Bibel die Leitung der Kirche bestimmen sollte, wird trotz der Erkenntnis, dass das Neue Testament von der Schöpfungstheologie her argumentiert, das Kulturargument favorisiert: Die Unterordnung der Frau müsse in den „antiken Entstehungskontext eingeordnet werden“ und dürfe „nicht als zeitlos gültige soziale Normen innerhalb der Kirche Jesu Christi verstanden werden“ (88). Warum nun „der Heilswille Gottes“ sämtliche neutestamentlichen Aussagen zu Fragen des Zusammenlebens in Familie und Gemeinde überbietet, wird wieder mit Galater 3,26-28 begründet. Alle sozialen Grenzziehungen verlören durch die Taufe „innerhalb der Gemeinde Jesu Christi ihre bestimmende Kraft“ (88). Es bleibt unverständlich, wie die Autoren die Aufforderung an Frauen zur Unterordnung mit der Berufung auf das Evangelium ablehnen können, wo z.B. in Epheser 5,22-24 beides eng verbunden ist.

Es bleibt unverständlich, wie die Autoren die Aufforderung an Frauen zur Unterordnung mit der Berufung auf das Evangelium ablehnen können, wo z.B. in Epheser 5,22-24 beides eng verbunden ist.

Nachdem im Vorfeld das „Überlegungs­gleichgewicht“ derart beschworen wurde, mag es erstaunen, dass bei dieser Frage ein „Gleichgewicht“ keine Rolle spielt. Schon im NT ist die klare Beschränkung des Dienstes von Frauen keineswegs ein Ausschluss von Frauen vom Dienst in der Gemeinde. Wie sehr sich schon Jesus und dann die junge Christenheit damit gegen die antike Kultur stellte, machen auch die Konflikte in Korinth deutlich. Einzelne Bestimmungen sind wohl auch als Rücksichtnahme auf das kulturelle Umfeld erkennbar, die grundlegende Ordnung ist es aber, wenn man der Bibel folgt. Bei allen Überlegungen ist aber im Grundlagentext kein Bemühen sichtbar, die Möglichkeiten und Grenzen, die aus den biblischen Texten abzuleiten sind, mit den gegenwärtigen kulturellen Gegebenheiten ins Gespräch zu bringen. Dabei könnte doch auch herauskommen, dass die Kirche im Gehorsam gegenüber Gottes Wort, jedoch ohne jede Diskriminierung von Frauen, einen eigenen Weg geht, der sich von der Gesellschaft unterscheidet. Das aber leuchtet an keiner Stelle auf.

Wo man dann doch angesichts fehlender Einigkeit der Kirchen in dieser Frage ins Nachdenken kommt, soll das mit der allgemeinen Berufung aller Christen zum „Amt der Versöhnung“ beantwortet werden. Allerdings könnte auch hier ein Blick ins NT zeigen, dass das christlich-missionarische Zeugnis von Frauen nie in Konkurrenz zur Beschränkung des kirchenleitenden Lehrens stand. Frauen sind selbstverständlich ebenso Zeugen für das Evangelium wie Männer. Das „Überlegensgleichgewicht“ führt aber überhaupt nicht zu einem Hinterfragen der eigenen Position, sondern nur dazu, dass man sich berufen sieht, alle anderen Kirchen zu überzeugen. Voller Selbstgewissheit heißt es:

„Das wissenschaftlich-theologische Gespräch … muss biblische Texte und die aus und an ihnen für die Gegenwart abzuleitende Wahrheit des Evangeliums mit Traditionen, Prägungen, gemeindlichen wie kirchlichen Erfahrungen in einen kritischen, gleichwohl plausiblen und tragfähigen Gesamtzusammenhang bringen, der für die eigene Kirche die dem Evangelium entsprechende und daher als richtig erkannte Überzeugung wahrt und dafür im ökumenischen Gespräch dann auch wirbt“ (96).

Das im Text vielfach beschworene Evangelium kann schließlich sogar zu einem Instrument für den Umweltschutz gemacht werden.

Bei der abschließenden Diskussion einer Umweltethik in der „ökologischen Krise“ hindert die Erkenntnis, dass die Bibel direkt keine Gebote oder Prinzipien für den Umweltschutz bietet, die Autoren nicht daran, doch so etwas wie neue christliche Gebote zu formulieren. Statt etwa deutlich zu machen, dass die Kirche natürlich immer auch Teil großer gesellschaftlicher Herausforderungen ist, aber doch ihren eigenen Auftrag hat, kommt es – wie das Papier selbstkritisch erkennt – weithin nur zu einer „religiösen Verdoppelung“ von Umweltschutzappellen. Wie wäre es, wenn die Kirche gemäß ihrem Auftrag an den Gott erinnert, der die Welt erhält und zum Gebet zu dem gnädigen Gott aufruft. Dabei könnte das Anliegen auch sein, dass Menschen erkennen, wie sie sinnvoll schädliches Verhalten ändern können und es nicht nur durch ein anderes ebenso schädliches Verhalten ersetzen.

„Dafür wird es nötig sein, dass sie ihr eigenes im Glauben an das Evangelium gewonnene Weltverständnis sowohl biblisch fundiert formulieren als auch nachvollziehbar kommunizieren können.“ (109)

Einer solchen Forderung mag man gern zustimmen, erhält aber dafür kaum Hilfe aus dem Grundlagentext. Stattdessen wollen die Autoren Räume „für solche spirituellen Erfahrungen öffnen, die zum Engagement für Gottes gute Schöpfung, für Klimagerechtigkeit und eine nachhaltige Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftsweise sensibilisieren und befähigen.“ Damit wird das im Grundlagentext vielfach beschworene Evangelium am Ende zum Instrument für den Umweltschutz gemacht, statt es selber sagen zu lassen, was es will und das auf den Leuchter zu stellen.

Fazit

Ohne Zweifel finden sich in dem vorliegenden Grundlagentext viele gute Überlegungen dazu, welche Bedeutung die Bibel für die Leitung von Gemeinden und für gemeindeübergreifenden Entscheidungen haben kann. Stark ist der Text dort, wo er an die reformatorischen Grundsätze der Schriftauslegung erinnert, schwach, wo er letzlich doch freihändig mit der biblischen Wahrheit jonglieren will.

Wenn „das Evangelium“ oder „der Heilswille Gottes“ zum Kriterium für die Anwendung der Bibel gemacht werden, ist das im Grundsatz richtig. Tatsächlich hat die Bibel immer auch Christus zum Thema. Sie ist nie zuerst ein Buch der Ethik oder Moral. Auch geht es ihr nicht primär um Erkenntnisse über die Welt oder Gott, sondern alles steht im Zusammenhang mit Christus und seinem Werk zur Vergebung der Sünden und Rettung der Welt. Aber gerade deswegen muss klar gesagt werden, was das Evangelium nach der Bibel ist. Weil das aber im Grundlagentext umgegangen wird, bleiben die Abwägungsprozesse, die zur Klarheit führen sollen, schwebend.

Ein wirkliches Umdenken kann es meines Erachtens nur geben, wenn der eigene Weg auch kritisch beurteilt würde. Aber es wird durchweg die Botschaft vermittelt, dass die Kirchen der EKD im Umgang mit dem Wort Gottes immer alles richtig gemacht haben. Die Anwendung der historisch-kritischen Methode hat allzu oft nicht zur Klarheit über den Textsinn geführt, sondern diesen verstellt. Die Behauptung der Widersprüchlichkeit der Bibel hat oft zur Beliebigkeit mit ihren Aussagen geführt. Ohne das demütige Beugen unter Gottes Wort kann es aber auch keine gesunde Leitung mit dem Wort geben.


  1. Der im Buch genannte Hans-Joachim Eckstein hat nach eigener Mitteilung nicht am Text mitgearbeitet und war auch nicht mehr Mitglied der Theologischen Kammer, obwohl sein Name weiter genannt wird 

  2. Zum Beispiel die Orientierungs­hilfe „Für uns gestorben“ (vgl. https://bibelbund.de/2015/04/kirche-ohne-evangelium/ ) oder der Text „Rechtfertigung und Freiheit“, der ebenfalls von der Theologischen Kammer zum Reformationsjubiläum verfasst wurde (vgl. https://bibelbund.de/2014/08/lieber-freiheit-statt-rechtfertigung/) oder auch „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ (vgl. https://bibelbund.de/2014/05/wie-sollen-wir-denn-antworten-beobachtungen-in-der-diskussion-um-ehe-familie-und-homosexualitaet/ )