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Calvinismus. Die Stone Lectures von 1898

Die „Stone Lectures“, die der Niederländer Abraham Kuyper (1837–1920) 1898 in Princeton gehalten hat, gehören zu den Kernpublikationen des neuzeitlichen Calvinismus. Kuypers Anliegen war nicht die Reproduktion oder Wiederherstellung der alt-reformierten Lehre, sondern die Fortschreibung der calvinistischen Lehre im Kontext der Moderne. Der Einfluss des Kirchenfunktionärs, Journalisten und Politikers war so groß, dass er zu Recht als Vater des Neo-Calvinismus bezeichnet wird. Stark von ihm beeinflusst sind etwa der Dogmatiker Herman Bavinck, der Kunsthistoriker Hans Rookmaaker, der Rechtsphilosoph Herman Dooyeweerd, der Evangelist und Apologet Francis Schaeffer sowie der Religionsphilosoph Alvin Plantinga.

Dr. Hans-Georg Ulrichs, Privatdozent für Kirchen­geschichte an der Universität Osnabrück, folgt einer von Martin Jaeger 1904 angefertigten Übersetzung, hat allerdings zahlreiche notwendige Revisionen vorgenommen (vgl. S. 16–17). Damit liegt nun eine aktuelle und gut lesbare Edition der „Stone Lectures“ in Antiqua-Schriftsatz vor (die Ausgabe von 1904 ist in Frakturschrift gedruckt).

Die ersten beiden Vorlesungen informieren über die Geschichte des Calvinismus und seine Positionierung gegenüber der Religion. Die anderen vier Vorlesungen sind der Politik, Wissenschaft, Kunst und Zukunft gewidmet. Schon diese Schwerpunkte zeigen, dass Kuyper den Calvinismus als umfassende Weltanschauung versteht. Ausgangspunkt für Kuyper ist das Bekenntnis zur absoluten Souveränität Gottes: „Es gibt auf dem ganzen Hof unseres menschlichen Lebens nicht eine winzige Ecke, wo nicht der Ruf Christi, der der Souverän aller Menschen ist, erschallt: Mein.‘“ Dieser Glaube an die allumfassende Königsherrschaft von Jesus Christus (engl. „Lordship Principle“) bedeutet für ihn konsequenterweise, dass der Calvinismus als eine Lebensanschauung anzusehen ist, die jeden Bereich der Wirklichkeit berührt. Diese Herrschaft von Jesus Christus über die gesamte Wirklichkeit konkretisiert sich in drei abgeleiteten Ordnungen, nämlich Staat, Gesellschaft und Kirche. Kuyper betonte stark, dass „die Familie, das Gewerbe, die Wissenschaft, die Kunst und vieles mehr gesellschaftliche Kreise bilden, die ihr Dasein nicht dem Staat verdanken noch ihr Lebensgesetz der Staatshoheit entlehnen, sondern einer hohen Autorität im eigenen Busen gehorchen, die, ebenso wie die Staatssouveränität, ‚von Gottes Gnaden‘ herrscht“ (S. 89).

Kuyper, Abraham: Calvinismus. Die Stone Lectures von 1898. Hrsg. v. Hans-Georg Ulrichs. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 189 S. Gebunden: 39,00 €

Kuyper wollte den kraftlos gewordenen Calvinismus mit seinen starken Absonderungstendenzen aus seiner Enge herausführen und für einen lebendigen Dialog mit der Gegenwartskultur zurüsten. Nicht alle Kirchgänger in den Niederlanden waren von dieser Zielsetzung begeistert. Kuyper wurde vorgeworfen, er habe die Kirche von der überlieferten Theologie entfremdet. Tatsächlich veränderte sich unter seiner Wirkung das calvinistische Selbstverständnis in vielen niederländischen Kirchengemeinden. Während zuvor die kirchliche Erbauung und biblische Themen wie Buße, Glaube, Rechtfertigung, Heiligung usw. im Vordergrund standen, kam es unter Kuyper zu einer stärkeren Gewichtung von Kultur und Gesellschaft. Da ist es nur verständlich, dass er selbst eine politische Partei gründete und von 1901 bis 1905 niederländischer Ministerpräsident war. Der Politiker Kuyper wandte sich nicht nur gegen die Sklaverei oder das Kastenwesen, sondern auch gegen die Unterdrückung von Frauen und Armen.

Die neue Ausgabe der „Stone Lectures“ wird es vielen deutschsprachigen Lesern erleichtern, einen Zugang zu Kuypers Denken zu finden. Auch jene, die ein reserviertes Verhältnis zum reformierten Glauben haben, können sich anhand eines Schlüsselwerkes über den Neo-Calvinismus informieren. Freilich ist die Lektüre trotz modernisierter Sprache und hilfreicher Kommentierung nicht ganz einfach. Es handelt sich eben nicht um journalistische Texte, sondern Vorlesungen.