ThemenGlaube und Wissen(schaft)

Die unbedingte Zuverlässigkeit der Bibel auf geschichtlichem und naturwissenschaftlichem Gebiet

Im Jahr des 125jährigen Jubiläums des Bibelbundes blicken wir auch auf verschiedene Autoren der vergangenen Jahre und ihre Beiträge zurück. Diesmal erinnern wir an Heinrich Cornelius, der von 1918 bis 1937 die Schriftleitung der Vorgängerzeitschrift von Bibel und Gemeinde „Nach dem Gesetz und Zeugnis“ inne hatte. Er wurde damit prägend für die Zeit nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches bis zur zwangsweisen Einstellung der Veröffentlichungen durch die Nationalsozialisten 1939. In seinem Pfarrhaus in Lütjenburg war der Verlag des Bibelbundes beheimatet. Der folgende Artikel geht auf einen Vortrag zurück, den er 1927 auf einer Bibelbundtagung hielt. Die erste Hälfte ist in Auszügen gedruckt.

Die meisten von Ihnen werden sich gewiß über das von mir gewählte Thema wundern. Etlichen wird es selbstverständlich erscheinen, daß die Bibel, die ja Gottes Wort ist, in allen Dingen, also auch in geschichtlichen und naturwissenschaftlichen, unbedingt zuverlässig sein muß. Und es wird manchem der Liedervers einfallen, den der fromme Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf gedichtet hat:

„Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten,

Worauf soll der Glaube ruh’n?

Mir ist nicht um tausend Welten,

aber um dein Wort zu tun!“

Andere werden es höchst bedenklich finden, daß ich dies Thema, das so verschieden von den Schriftgelehrten unserer Tage beantwortet wird, hier in breitester Öffentlichkeit behandle. Aber die christliche Gemeinde hat heute mehr als je das gute Recht, von ihren Pastoren zu verlangen, daß sie ihr sagen, wie sie über diese so tief in unser Christenleben eindringenden Dinge denken. Dazu tritt, daß gerade dies Thema tief einschneidet in die praktischen Angelegenheiten unsers Bibelbundes.

Junge und Alte wenden sich ab vom Wort Gottes

Ein altes treues Mitglied unsers Bundes war heimgegangen. Sein ältester Sohn, ein in gläubigen Kreisen sehr hochgeschätzter Schulmann, wird von mir gebeten, an die Stelle seines Vaters in unsern Bibelbund einzutreten; er antwortet, daß er dazu nicht in der Lage sei.

„Die Hl. Schrift“, so schreibt er, „ist mir durchaus das Wort Gottes, aber aus den Satzungen des Bibelbundes scheint mir hervorzugehen, daß der Bund die Irrtumslosigkeit der Hl. Schrift auch auf historischem und naturwissenschaftlichem Gebiet vertritt, und diese Stellung scheint mir eine menschliche Theorie über die Schrift zu sein und nie der menschlich-geschichtlichen Form zu entsprechen, in der uns Menschen Sein Wort zu überliefern Gott gefallen hat. … Aus diesem Grunde kann ich zu meinem Bedauern nicht als Mitglied des Bibelbundes an die Stelle meines Vaters treten“.

Ein anderer antwortet, er stehe nicht auf demselben Standpunkte wie sein entschlafener Vater, sondern sei ein Anhänger Karl Girgensohns1 und könne deshalb nicht in unsern Bund eintreten. Ein dritter, noch stud. theol., antwortete:

„Seit meiner Schülerzeit ist die Frage nach der Hl. Schrift für mich von allen theologischen Fragen die wichtigste gewesen. Die Schule lehrte einen mageren Kulturprotestantismus, der zu dem, was ich zu Hause hörte, in schroffem Gegensatz stand. Dieser Gegensatz ist für mich ungelöst stehengeblieben, bis mir durch die neueste Theologie (Heim, Barth) klar geworden ist, daß für uns heute die Alternative Kulturprotestantismus gegen Verbalinspiration gar nicht mehr bestehen kann. Die Unterwerfung der Bibel unter das Prinzip der materialistischen Geschichtsauffas­sung ist ebensowenig zutreffend wie z. B. die Behauptung von Lic. Möller (Die Entwertung des Alten Testaments), daß das Göttliche in den Worten der Schrift gegenständlich vorliege, bzw. die Schrift einer Eigengesetzlichkeit unterliege. Beide Auffassungen sind eine Verkennung des historischen, psychologischen und religiösen Vorgangs, da beide gleicherweise das Göttliche und das Menschliche, das Absolute und das Relative auf eine Ebene projizieren …“.

Wir sehen durchweg eine Überschätzung des Menschlichen und eine Unterschätzung des Göttlichen, das dem Menschlichen sogar unterstellt wird.

Durchweg, so sehen wir eine Über­schätzung des Menschlichen, Relativen und Unterschätzung des Göttlichen, das dem Menschlichen unterstellt wird. Da kann von einer rechten Würdigung der Hl. Schrift als dem Worte Gottes keine Rede sein. Diesen Worten der jüngeren und jungen Generation, die jetzt oder später Führerstellung in unserer Kirche beansprucht, fügen wir zwei Äußerungen aus gläubigen Kreisen unserer „Alten“ hinzu, die es uns nicht mehr wundernehmen lassen, daß unsere junge Generation Irrwege eingeschlagen hat. Denn „wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen“.

Der eine, ein Emeritus, ist nach seiner Amtszeit irregeworden am Alten Testament, das ihm nicht mehr Gottes Wort ist und einen andern Geist habe als das neue. Selbst mein Hinweis auf das Bekenntnis unsers Herrn Jesu Christi zu diesem nutzte bei ihm nichts. Er antwortete:

„Daß unser Herr und Heiland in seiner menschlichen Daseinsweise, die eine Kenosis (d. h. eine Entäußerung aller göttlichen Eigenschaften im Stande der Erniedrigung, ein Nichtbesitz) seiner göttlichen Eigenschaften notwendig mit sich führte, über Verfasser und Abfassungszeit die damals hergebrachten Anschauungen hegte, bildet für mich keine Schwierigkeit, ihn dennoch als meinen gott-menschlichen Heiland anzuerkennen und anzubeten“.

Ich könnte aber die Anbetung eines irrenden Menschen, der dann auch nicht wahrer Gott sein könnte, nur mit Götzendienst bezeichnen! Denn Gott kann nicht irren!

Zu diesem Standpunkt behauptet der alte Pastor nicht durch das Lesen kritischer Bücher gekommen zu sein, sondern infolge

„der Erkenntnis, daß alle die furchtbaren Tatsachen, die leider die Geschichte des Christentums beflecken und seinen Namen stinkend gemacht haben, (z.B. die Judenpogrome, die Verbrennung der Hexen, die Inquisitionen, die Ketzerverfolgungen und -hinrichtungen, die Ver­trei­bung der Hugenotten und Salzburger, die Doppelehe des Landgrafen Philipps von Hessen, die die Reformatoren billigten, die Religionskriege, die Verfolgung der Altlutheraner in Nassau, Baden und Preußen), für die Ungläubige (vgl. Bebels Buch über die Frau) in keinem Worte des Neuen Testaments eine Entschuldigung finden können, die aber wohl verständlich werden durch so manche Erzählung und Vorkommnisse im Alten Testament. Für mich hat diese Erkenntnis, ich kann es nicht anders sagen, als wahrhaft befreiend gewirkt“.

Was können wir darüber urteilen? Mir erscheint dieser Standpunkt gerade so unrichtig und töricht, als wenn ein junger Mann die „Bekenntnisse des Augustin“ oder eines andern Großen im Reiche Gottes liest, und er käme zu der Überzeugung, er müsse nun alle die verschiedenen Irrungen und Fehltritte jener durchmachen, um recht bekehrt und ein überzeugungstreuer Christ werden zu können.

Wer das NT als Licht für das AT versteht, der wird in der Bibel keine Stütze für irgendein Unrecht entdecken können.

Wer damit wahrhaft ernst macht, daß das Neue Testament das Licht für das Alte ist, und, daß das Alte gar nie ohne das Neue verstanden werden kann, der wird auch keine Stütze für irgendein Unrecht, irgendeine Sünde im Alten Testament entdecken. Ein ernster Christ wird weder in Davids Vielweiberei, noch in Petri Verleugnung irgendetwas für ihn Nachahmungswertes oder Erlaubtes finden. Wer das Alte Testament nicht im Lichte des Neuen betrachtet, des „Sinne sind verstockt“ (2Kor 3,14). Denn wie bei den Juden bleibt die Decke Mosis auch für ihn unaufgedeckt über dem Alten Testament, die aber in Christo aufhöret. Ohne Altes Testament fehlt wiederum dem Neuen die Grundlage, die kein Gebäude, es seien denn eitle Luftschlösser, entbehren kann.

Denken wir nur daran, wie oft der Herr Christus selbst Zeugnis ablegt für das Alte Testament. Das Bekenntnis dessen, der „die Wahrheit“ ist, und der nach seinem eignen Ausspruch vor Pilatus gekommen ist, für die Wahrheit zu zeugen, darf nicht bei Seite gesetzt werden unter dem Vorwande, daß der Herr geirrt habe und die unrichtigen Ansichten seiner Zeitgenossen geteilt habe, sondern: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört seine Stimme, dem ist Christus unter allen Umständen maßgebend! Abusus non tollit usum!“ (Der Mißbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf), sagt schon ein altes lateinisches Sprichwort, und dies ist wahr!

Vergessen wir auch nicht, wie oft im Neuen Testament mit den Worten: „Es steht geschrieben“, oder „das geschah aber, damit erfüllt würde, was geschrieben ist“ auf das Alte Testament Bezug genommen wird. Besonders der „Hebräerbrief“ ist voller Hinweise auf das Alte Testament.

Es war mir besonders lehrreich, in dem Schreiber des vorliegenden Briefes einen Anhänger der jetzt so beliebten und verbreiteten „Personalinspiration“ der Heiligen Schrift zu sehen. Als ich betonte, weder Maria im Neuen Testament habe ihren Lobgesang (Luk. 1, 46) im Gegensatz zu Zacharias (Luk. 1, 67) und Elisabeth (Luk. 1, 41) noch Deborah im Alten Testament (cf. Richter 5,1ff.) ihr Triumphlied, „im Heiligen Geist“ gesungen, bekam ich zur Antwort: „… bitte, nicht übersehen zu wollen, daß Deborah ausdrücklich als „Prophetin“ bezeichnet wird, und ihre Worte ein Gebet zum Gott Israels darstellen. Wenn irgendwann und wo, muß doch in diesem Falle bei einer Prophetin die Inspiration sich zeigen“.

Die Irrwege weg von der Verbalinspiration

Da haben wir also die moderne Personal­inspiration in Reinkultur! Aber es ist durchaus irrig und nicht schriftgemäß, zu behaupten, daß alle Worte, die ein Prophet oder eine Prophetin oder ein Apostel in ihrem Leben geredet haben, inspirierte, d. h. vom Heiligen Geist eingegebene Worte gewesen seien. Diese Anschauung widerlegt am allerdeutlichsten das Beispiel Bileams im Alten Testament. Wir haben da sehr wohl zu unterscheiden die Worte, die Gott ihm, als in seinem Auftrag redend, in den Mund legt, von denen, die aus seinem eignen, habsüchtigen Geiste stammen, mit denen er Israel zur Unzuchtsünde reizen und ins Verderben bringen läßt, weshalb er auch dem gerechten Zorngericht Gottes verfällt (cf. 4. Mose 22, 20. 35. 38; 23, 12; 24, 13; 31, 16; 2. Petri 2, 15). Daß aber einer die Verbalinspiration zu vertreten und trotzdem die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift preiszugeben im Stande ist, davon ist der liebe, betagte Professor D. Siegfried Goebel [1844-1928] ein trauriges und warnendes Beispiel.

Treffliche Worte weiß er gegen die unrichtige Personal- und die ebenso verkehrte sogenannte Realinspiration zu finden und bekennt sich dann offen und frei zur Verbalinspiration. Doch lassen wir ihn selbst zu Worte kommen. Er schreibt2:

„Ich habe hier nur zu reden von denjenigen, welche die Tatsache der Bibelinspiration festhalten, ihr aber eine neue Fassung geben wollen. Ich gehe auf einzelne Namen nicht ein; nur so viel: Zu einem befriedigenden Ergebnis sind auch diese bisher nicht gekommen. Die neueren Inspirationstheorien, übrigens zum Teil nur eine Wiederaufnahme der Gedanken viel älterer Theologen, leiden meines Erachtens an dem entgegengesetzten Fehler, wie die altprotestantischen Dogmatiker. Jene wollten zu viel beweisen, sie wollten die göttliche Autorität der Bibel in allen Stücken, auch in äußerlichsten und gleichgültigsten Dingen bis auf jeden Buchstaben behaupten. Die neueren dagegen sind zu kurz geraten. Die reichen nie weit genug, um das zu ergründen und zu erklären, was ergründet und erklärt werden soll, nämlich die göttliche Autoritätskraft der Heiligen Schrift als einige und vollkommene Richtschnur für Glaube, Lehre und Leben. Es sind hauptsächlich zwei Richtungen, in denen fast alle neueren Versuche sich mehr oder minder bewegen. Die einen führen die Inspiration der Bibel zurück auf das persönliche Vom-Geist-Erleuchtetsein der biblischen Autoren. Man sagt: Die biblischen Schriften sind inspiriert, weil sie geschrieben sind und indem sie geschrieben wurden von geisterfüllten und geisterleuchteten Gottesmännern. Das würde nun freilich die Schriften der Bibel noch nicht hinausheben über die zahllosen von anderen frommen Gottesmännern verfaßten Schriften. Man sagt weiter: Die Bibel ist auch, im Unterschied von andern Schriften erleuchteter Gottesmänner, spezifisch inspiriert, weil die biblischen Schriften von Männern verfaßt sind, die berufsmäßig in sonderlicher und einzigartiger Weise vom Geist Gottes erleuchtet waren, von den Propheten des Alten und von den Aposteln des Neuen Bundes als den berufenen Trägern und Vermittlern des göttlichen Offenbarungswortes. Das scheint soweit einleuchtend, und viele haben sich dabei beruhigt. Aber mit Unrecht!

Die Bibel übt ihre Autoritätskraft aus, wie sie ist, durch sich selbst, durch die inhaltliche Macht ihres Zeugnisses, und nicht durch das äußere Ansehen der Verfasser.

Zunächst stellt sich ja nun sofort eine höchst bedenkliche Erwägung ein, die für mich von vornherein gegen diese ganze Auffassung entscheidet. Es würde nämlich der autoritative Charakter des Bibelwortes abhängig von der geschichtlichen Tatsächlichkeit seines apostolischen oder prophetischen Ursprungs, also von der literarkritischen Frage nach der Autorschaft der einzelnen Schriften, und damit von den mehr oder minder sicheren Ergebnissen literargeschichtlicher Untersuchungen. Das kann nimmermehr zugegeben werden. Die Bibel übt ihre Autoritätskraft aus, wie sie ist, durch sich selbst, durch die inhaltliche Macht ihres Zeugnisses, und nicht durch das äußere Ansehen, welches der Name dieses oder jenes Verfassers gerade diesem oder jenem Buche verleiht. Am wenigsten wartet sie mit ihrer Wirkung darauf, bis erst die literargeschichtliche Untersuchung über die Verfasserschaft ins Reine gebracht ist. Nur soviel ist von vornherein sicher, daß unsere Bibel keineswegs nur aus prophetischen und apostolischen Schriften besteht. Damit wird diese Auffassung vollends unmöglich. Sie deckt sich nicht von ferne mit dem wirklichen Umfang und Charakter der biblischen Schriftensammlung. Was das Neue Testament angeht, so ist es zusammengesetzt aus apostolischen und nichtapostolischen Schriften. Drei der wichtigsten geschichtlichen Schriften des NTs, Markus, Lukas und Apostelgeschichte des Lukas, deren kanonische Geltung auch in der alten Kirche niemals angezweifelt worden ist, sind nicht apostolisch und haben nie für apostolisch gegolten. Eine Anzahl anderer neutestamentlicher Schriften, z. B. Jak., Jud., Hebr. und in gewissem Sinn auch sämtliche johanneische Schriften geben sich selbst nicht ausdrücklich für apostolisch. Ob sie es dennoch sind oder nicht, wird immer Sache gelehrter und für die Gemeinde unmaßgeblicher Beurteilung bleiben. […] Das wird auch nicht besser, wenn man, wie Schleiermacher, Rothe u.a. es tun, das Autoritative der neutestamentlichen Schriften nicht sowohl in dem speziellen Apostelamt und der apostolischen Amtsgnade ihrer Verfasser finden will, als vielmehr darin, daß sie von unmittelbaren Herrnjüngern der ersten Generation stammen. Diese haben uns hier, so sagen Schleiermacher und Rothe, das Bild der Erscheinung Jesu Christi und der Offenbarung Gottes in Christus schriftlich fixiert, so wie es sich in reiner Ursprünglichkeit in ihrem Geistesleben gespiegelt hat. Aber wir bleiben dann in derselben Abhängigkeit von den unsicheren Ergebnissen der Literarkritik und würden auch dann genötigt sein, einer Anzahl der wichtigsten Schriften, wie denen des Lukas, der doch kein unmittelbarer Herrnjünger war, die kanonische Dignität abzusprechen. […] Diese ganze Theorie, welche die Schriftinspiration der Bibel nur mit einer Personalinspiration ihrer Verfasser begründen will, führt also nie zum Ziele, obgleich eine Reihe der hervorragendsten Dogmatiker der Neuzeit diesen Weg zu gehen versucht hat und immer wieder versucht.

Näher zum Ziel scheint ein anderer Weg zu führen, den viele Neuere eingeschlagen haben, allerdings in der Regel so, daß er mit der eben besprochenen Theorie der Personalinspiration verbunden wird. Ich meine die sachliche Einschränkung des Inspirationsbegriffes, der Rückzug von der Verbalinspiration, die abgelehnt wird, auf die bloße Realinspiration, von der suggestio rerum et verborum, „Eingebung der Sachen und Worte“, wie die alten Dogmatiker es nannten, auf die bloße suggestio rerum, „Eingebung der Sachen“. Näher wird die Inspiration nun beschränkt auf das sachliche Gebiet der Heilswahrheit und dessen, was mit ihr in wesentlichem Zusammenhang steht. Die Form und das Unwesentliche des Inhalts wird preisgegeben als außerhalb des göttlichen Einflusses stehend und darum der Möglichkeit des Irrtums unterworfen. […] Im 19. Jahrhundert wurde diese Unterscheidung mit Nachdruck erneut von Tholuck, Dieckhoff u. a. vertreten, und hat weitgehende Anerkennung gefunden. Nur daß die Grenze zwischen dem Wesentlichen und Unwesentlichen von Ver­schie­de­nen sehr verschieden gedacht wird. Wenn z.B. auch so feste Bibeltheologen wie der süddeutsche Tobias Beck und der norddeutsche Rudolf Stier diese Unterscheidung in gewisser Weise anerkennen, so bleibt ihre Stellung zu dem geschriebenen Bibelwort doch eine ganz andere, als z.B. die von Richard Rothe, der das Wesentliche und Offenbarungs­mäßige im Zeugnis der Schrift erst durch die kritische Arbeit der historischen Theologie herausgestellt sehen wollte. […]

Es ist mir unerfindlich, wie ich mir den göttlichen Einfluss bei der Inspiration beschränkt auf den Inhalt vorstellen soll, ohne Beeinflussung der mitteilenden Worte.

Für jetzt stelle ich nur fest, daß diese ganze Unterscheidung in keiner Weise ausreicht, um die göttliche Autoritätskraft der Bibel in ihrem Wortlaut zu erklären; sie bringt vielmehr alles in Unsicherheit. Ja der grundlegende Gedanke dieser Theorie ist geradezu falsch und verkehrt, nämlich die Entgegensetzung von Verbalinspiration und Realinspiration und die Ablehnung der ersten bei Anerkennung der zweiten. Was hier erkannt und näher bestimmt sein will, ist doch der bestimmende göttliche Einfluß auf die menschlichen Schriftsteller bei Abfassung ihrer Schriften, also auf die schriftliche Wiedergabe ihres Stoffes und die schriftliche Fassung ihrer Gedanken. Wie ich mir diesen göttlichen Einfluß beschränkt denken soll nur auf den mitzuteilenden Inhalt, ohne Beeinflussung auch der mitteilenden Worte, ist schlechthin unerfindlich. Sobald die Wortfassung beliebig der Irrung ausgesetzt ist, sobald gilt dasselbe auch vom Inhalt. Und wo die Wortfassung tatsächlich irreführend würde, da würde das von selbst auch eine Irreleitung in der Sache. Darum gibt es hier nur ein Entweder – Oder. Entweder war die schriftliche Mitteilung überhaupt nie göttlich beeinflußt, dann wäre der Begriff der Inspiration gänzlich aufgehoben in jedem Sinn, auch in dem, in welchem selbst ein Richard Rothe ihn tatsächlich noch festhält. Oder aber, die schriftliche Mitteilung war irgendwie göttlich beeinflußt, dann mußte dieser göttliche Einfluß von selbst auch das Wort und die Worte umfassen, durch die allein die Mitteilung geschieht. Wenn die Bibel in irgendwelchem Sinn Gottes Wort ist, dann muß auch ihr Wort von Gott sein, nicht bloß ihr Inhalt, der für uns nur existiert im Worte.“ […]

Die Erweiterung der Inspiration auf den Zweck des Wortes Gottes

Ist es ein sinnvoller Gedanke, menschliche Fehler in der Schrift als göttlichen Einfluss anzusehen, soweit sie dem Zweck der Heilsvermittlung dienen?

Der Verfasser findet den Fehler der beiden Theorien in einer Einschränkung des Ins­pira­tionsgedankens in seiner Bezie­hung. Er meint, nicht eine Ein­schrän­kung und Einengung des Inspirationsgedankens kann hier helfen, sondern eine Aus­weitung. Und in dieser Aus­weitung des Inspirationsbegriffes sehe ich den verhängnisvollen Fehler Goebels. Der Schlesier hat eben recht, wenn er sagt: „Zu viel und zu wing‘ is een Ding!“ Mittelbar, meint Goebel, weise Richard Rothe3 bereits auf diesen Weg, wenn er ihn auch selbst nie gegangen sei und die Konsequenz seiner eignen Auffassung nie gezogen habe. Die göttliche Einwirkung müsse aus dem Rotheschen Standpunkt so umfassend gedacht werden, daß selbst die menschlichen Fehler und Irrtümer nie außerhalb, sondern innerhalb des göttlichen Einflusses fallen. Auch sie müssen durch göttliche Einwirkung auf die menschlichen Schriftsteller und Schriftensammler dahin bestimmt sein, daß sie der Qualität des Schriftganzen als Instrument zu einem irrtumslosen Verständnis der Offenbarung keinen Eintrag tun dürfen. […]

„Worin“, fährt Goebel fort, „die das menschliche Tun beeinflussende Gotteswirkung ihr Ziel hat, darin hat sie auch ihr Maß und ihre Grenze. Nun wäre ja an sich denkbar, daß unter den Händen fehlsamer menschlicher Schriftsteller durch göttliche Beeinflussung dennoch ein allseitig fehlloses Schriftstück entstände, wenn diese Fehllosigkeit einem göttlichen Zwecke dienen soll. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Im vorliegenden Falle aber wäre ein Zweck, dem diese Art von Inspiration entspräche, gar nie vorhanden, sie wäre etwas Zweckloses. [?! ] Es ist vielmehr zu sagen: In dem Maße, in welchem das Stoffliche in der Bibel, die Angabe von Zahlen, Namen, Daten oder sonst Profangeschichtliches und Geographisches, aber auch irgendwelche menschlichen Ge­dan­kenverknüpfungen, Gefühls­äuße­run­gen und Darstellungs­formen keine Bedeutung haben für die Bestimmung der Bibel als Denkmal und Schlüssel der Offen­barung Gottes in Christus und somit als Richtschnur für christliches Glauben und Leben, in dem Maße hat unter der spezifisch inspirierenden Gotteswirkung die allgemeine Fehlsamkeit menschlichen Schriftstellertums Spiel­raum behalten auch bei den biblischen Schrift­stellern und Schriftsammlern. Wenn sich also in der Bibel Ungenauigkeiten, Unstimmigkeiten usw. finden, so sind wir weit entfernt, uns daran zu stoßen, als stände ein solcher Befund in Widerspruch mit dem Inspirationscharakter der Bibel. Nur freilich bleibt hier auch die menschliche Fehlsamkeit bis auf den Wortlaut hin und bis auf das Schwanken des Wortlautes göttlich überwacht und dahin gelenkt, daß sie nicht irreführend werden durfte in Sachen des Glaubens, der Lehre und des Lebens. Was von dem allgemeinen göttlichen concursus in der alten Dogmatik gesagt wurde, er wirke in Anpassung an die eigentümliche Natur der Individuen, „in dem Starken stark, in dem Schwachen schwach“ usw., das gilt genau so auch von der Einwirkung des Heiligen Geistes auf die biblischen Schriftsteller: der Geist Gottes wirkte auf die Starken in Form ihrer Stärke, auf die Schwachen in Form ihrer Schwäche, und so füge ich hinzu, auf die Fehlsamen in Form ihrer Fehlsamkeit, aber durch alle menschliche Schwachheit, Fehlsamkeit und Unvollkommenheit hindurch schlechthin unbeirrt in der Richtung auf das eine Ziel, der Gemeinde Jesu Christi ein festes, richtschnurliches Schriftwort zu geben, auf das sie in Glauben, Lehre und Leben sich erbauen könne bis zur Wiederkunft ihres Herrn. […]

Es kommt vielmehr darauf an, unter welchem Gesichtspunkt und in welcher Richtung der Bibelinhalt verwertet werden soll. Sofern die biblischen Schriften benutzt werden als Quellen für profangeschichtliche, archäologische, genealogische, geographische, vielleicht gar naturgeschichtliche Kenntnisse und Forschungen, dann sind sie, wie alles andere menschliche Schrifttum, nie nur zu einem Teil, sondern in ihrem ganzen Umfange der Möglichkeit menschlichen Irrtums unterliegend. Und wenn bei unbefangen kritischer Prüfung sich in immer wachsendem Grade herausstellt, daß sie auch für die profangeschichtliche Forschung einen überaus großen Wert und einen besonders hohen Grad von Glaubwürdigkeit besitzen, so ändert das nichts an dem Grundsatz, daß sie an sich der Möglichkeit des Irrtums unterworfen sind“.

Was ist dazu zu sagen? Es ist mir unbegreiflich, wie man in einem Atemzuge betonen kann, der Heilige Geist habe jedes Wort, das die heiligen Männer Gottes geschrieben haben, überwacht und geleitet und doch behaupten kann, dabei sei die Möglichkeit des Irrtums nie ausgeschlossen! Das heißt doch den Geist der Wahrheit, der in alle Wahrheit leitet, zu einem „Irrgeist“ machen! Wir brauchen uns die Verbalinspiration auch nicht als Diktat des Heiligen Geistes zu denken, bleiben doch die persönlichen Eigenheiten jedes heiligen Verfassers in Stil und Ausdrucksweise derart gewahrt, daß man mit Recht von einem Paulinischen, Petrinischen, Johanneischen Stil reden kann, und wiederum kann man doch nicht aus diesem allein da, wo der Name des Verfassers nicht überliefert ist, mit Bestimmtheit sagen, wie dies der schier nie ermüdende Streit über die Verfasserschaft des Hebräerbriefes beweist, ob der oder der Apostel oder Prophet der Verfasser gewesen ist. Wir kommen bei allen noch so glänzend scheinenden gelehrten Beweisversuchen nicht über Vermutungen hinweg.

Zwar ist die Verbalinspi­ration auch nur eine menschliche Theorie, aber sie erscheint mir von allen Theorien zur Eingebung der Heiligen Schrift die annehmbarste.

Zwar ist die Verbalinspiration nur eine menschliche Theorie und alle Theorien sind grau, aber bis jetzt erscheint sie mir von allen anderen Erklärungen des geheimnisvollen Vorgangs, der göttlichen Eingebung der Heiligen Schrift die annehmbarste zu sein, obwohl auch bei ihr durchaus nicht alle Rätsel gelöst erscheinen.

Die Art, wie einmal Rudolf Rocholl es ausgedrückt hat in seinem Buch Der christliche Gottesbegriff4 ist mir am einleuchtendsten gewesen. Er schreibt:

„Das Schriftganze ist ein gottmenschlicher Organismus. Der Geist Gottes verband sich mit dem menschlichen Geist zum Gotteswort. Das menschliche Selbst findet sich in den Geist Gottes gehoben und ist damit zu seinem eigensten Leben, dem Leben in Gott zurückgeführt. Die Entzückung, in der es getragen aufwärts steigt, ist ein Stand klaren Selbstbewußtseins. Der Geist ist nun zum Gefäß für die Einsprache Gottes geworden, ohne daß die menschliche lndividualität unterdrückt wäre. Gott verwendet die verschiedenen lndividualitäten für den großen Akkord des Ganzen, in welchem auch dieser Ton nicht fehlen sollte, wenn auch wir seine Notwendigkeit für das Ganze nicht begreifen. Alles in der Schrift ist menschlich und göttlich zugleich. Nirgends auch nur im Geringsten, können wir die Naturen sehen, also behaupten, hier sei nur Menschliches und nichts Göttliches. Darum ist die lnspiration selbst eine solche auch der Worte. Wer könnte die Erscheinung von seinem Inhalt und Form vom Wesen lösen! Die Inspiration ist eine vielartige, eingegeben aber das Ganze. Dieses ist widerspruchs- und irrtumslos an sich“.

„Die Schrift“, sagt sein Biograph Heinrich Hübner, „ist ihm also auch da Autorität, wo sie kosmologische, psychologische, ethnologische und metaphysische Aussagen macht. Darauf baut ja seine spekulative Theologie“.

Lassen wir die Irrtums­losig­keit der Heiligen Schrift fallen, dann wird der Ewigkeits­charakter des Buches der Bücher als des Wortes Gottes preisgegeben.

Lassen wir die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift fallen, dann wird damit der Ewigkeitscharakter des Buches der Bücher als des Wortes Gottes preisgegeben. Die dunklen Stellen, bekennen wir mit Augustinus, kommen von den dunklen Stellen des Menschenherzens.

Freilich, lassen Sie mich das gleich hier hervorheben, weiß ich sehr wohl, daß es mir nach meinem menschlichen Unvermögen heut und zu anderer Zeit nicht gelingen wird, mit noch so viel augenfälligen Beweisgründen der Wahrheit auch nur eine einzige Seele aus der Verirrung, in die sie sich mutwillig begeben hat, herauszuholen. Man hängt gar zu sehr an allerhand Vorurteilen und Voreingenommenheiten besonders an sogenannten „wissenschaftlichen“, und darauf sind die meisten Menschen am schlimmsten versessen. Aber ein Zeugnis darf und will ich hier heute ablegen von der ewigen Wahrheit des heiligen Wortes Gottes, daß nämlich Gottes Wort absolute, alles menschliche Wissen und Erkennen nur relative Wahrheit ist und sein kann. Darum ist Gottes Wort irrtumslos, der sündigen Menschen Wort aber dem Irrtum unterworfen.

Möge es dem allbarmherzigen und heiligen Gott in seiner Gnade gefallen, im Irrtum und Dunkel befangene Seelen durch dies Zeugnis aus der Finsternis der Sünde zur Klarheit seines ewigen Lichtes zu retten, daß sie in seinem Licht das Licht sehen. Denn Er, unser Gott, ist allein die lebendige Quelle des Lichtes. (Ps 36,10.)

Gottes Wort – auch in den geschichtlichen Aussagen

Die Bibel ist uns also das Wort Gottes auch in den geschichtlichen und in den naturwissenschaftlichen Berichten, und wir meinen, daß es der Wahrhaftigkeit nicht entspricht, wenn jemand erklärt, die Bibel sei ihm Gottes Wort, aber in geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Dingen sei sie nicht irrtumslos und maßgebend; denn ihre Weltanschauung und ihre Geschichtsauffassung sei eine andere als die unserer Zeit. Man sei dann doch auch so ehrlich, offen zu sagen: „Die Bibel ist nicht Gottes Wort, sondern sie enthält es nur!“ Aber man weiß recht gut, wie ganz unhaltbar diese Behauptung ist, wie man sofort in die Verlegenheit kommt, wenn dann die berechtigte Frage aufgeworfen wird: „Was ist denn in der Bibel Gottes Wort, und was nicht?“

Daß das Studium der Geschichte oder der Naturwissenschaft dem Bibelglauben abträglich sein müsse, wird aufs glänzendste widerlegt durch die Tatsache, daß eine große Anzahl hervorragender Gelehrter, besonders auch Naturforscher, gläubige Christen gewesen sind. Ich nenne nur etliche Namen, wie Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton, Huyghens, Euler, Herschel, von HalIer, Linné, Ampere, Cuvier, G. H. v. Schubart, Faraday, R. v. Maier, v. Baer, Martius, Wigand, Bettex und Hoppe.5

Der große Natio­nal­ökonom Roscher hat also recht, wenn er in seinem Aufsatz „Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides“ schreibt:

„Es ist die Aufgabe des Historikers, menschliche Dinge, welche der gemeine Blick nur als isoliert und zufällig auffaßt, in ihren tausendfachen Verknüpfungen und Bedingungen darzustellen. Auch der Naturforscher strebt dahin, und schon Anaxagoras war bemüht, möglichst Vieles in der Welt aus seinen Wirbelbewegungen herzuleiten, möglichst weniges unmittelbar auf den Nous (Verstand, Geist) zu beziehen. Nur halte niemand ein solches Verfahren für irreligiös! Je zahlreicher in einem Heere die Truppenmassen, je verschiedenartiger die Waffengattungen, je bunter und einflußreicher das Terrain, je verwickelter das Verpflegungswesen, je mächtiger eingreifend die Volkscharaktere und Staatsverhältnisse sind, desto größer des Feldherrn Geist, der all diese Mittel zum Siege führt. So muß auch in der Welt jede erweiterte Kenntnis des natürlichen Zusammenhangs der Dinge, wenn man die übernatürliche Regierung nicht leugnen will, die Ehrfurcht vor derselben tiefer machen“.6

[…]

Unser lieber, kürzlich heimgegangener Professor Theodor Beyer schreibt in seiner 1904 erschienenen Antwort „Bibel und Religionsunterricht“ auf die Schrift von Professor Kautzsch „Bibelwissenschaft und Religionswissenschaft“:

Die modernen Theologen „meinen, es schade nichts, wenn man auf die Irrtümer, die Widersprüche in der Schrift hinweise, im Gegenteil, so würde der echte Offenbarungsgehalt der Schrift in das rechte Licht gestellt. Aber wir fragen, wie steht es im Leben mit einem Menschen, den man in wichtigen, amtlichen und anderen Dingen für einen durchaus wahren, glaubwürdigen Menschen hält, der sich aber nicht scheut, bei scheinbar geringen Anlässen es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, z. B. sich verleugnen läßt, wenn er keinen Besuch annehmen will, oder das Alter seines Kindes auf der Eisenbahn falsch angibt? Werden wir einem solchen Menschen unbedingt trauen, werden wir uns ihm, wenn es sich um besondere Nöte und Aufgaben handelt, rückhaltslos anvertrauen? Wir armen, elenden Menschenkinder aber, die wir in die schwerste Seelennot kommen können, müssen einen Freund haben, dem wir unbedingt vertrauen können, dem wir jedes Wort, das er zu uns redet, glauben können. So hat aber der treue Gott zu uns geredet! Wir können ihm überall trauen. Wie sollten wir es auch machen, wenn es nicht so wäre? Wer sollte entscheiden, auf welches Wort wir uns verlassen dürfen?7

Aber, sagt man uns, das ist doch klar, daß wir einen Unterschied machen müssen zwischen den Heilswahrheiten, die uns die Schrift bietet, und anderen Mitteilungen. Die Schrift will kein Lehrbuch der Naturkunde, der Geschichte, der Geographie oder anderer Wissenschaften sein. Was sie aus diesen Gebieten anführt, unterliegt den Anschauungen der Zeit. Was man zu der Zeit, als die biblischen Bücher geschrieben wurden, für wahr hielt, ist heute als Irrtum erwiesen.

Wir fragen zunächst wieder: „Wer sollte bestimmen, was Heilswahrheit ist, was nicht, wo die Schrift Wasser des ewigen Lebens bietet, wo nur schlechtes Wasser? Es hat wohl schon mancher Bibelleser gefragt, warum das Geschlechtsregister in 1. Mose Kap. 5 in der Bibel steht, es wohl für entbehrlich gehalten, da es abgesehen von V. 1-3, V. 24 und V. 29, für unser Heil nichts biete, und doch hat dieses Kapitel mit seinem achtmaligem „und starb“, das die Seele erschütterte, einen Gottlosen zu einem Gotteskinde gemacht. Das 14. Kapitel des dritten Buches Mose mag auch mancher für überflüssig halten, da die levitischen Bestimmungen über den Aussatz für unsere Selig­keit doch keine Bedeutung hätten, und doch hat von diesem Kapitel aus ein jüdischer Arzt, der über den Aussatz ein Werk schrieb, nicht nur den verlorenen Glauben seiner Väter wiedergefunden, sondern auch den gefunden, von dem Moses geschrieben hat, Jesum Christum, den Sohn Gottes.

Wir müssen bestreiten, dass die Schrift nur da die Wahrheit redet, wo sie uns offenbart, was zum Heil nötig ist. Sie muss auch in den anderen Dingen, die sie uns nach Gottes Rat zu sagen hat, die Wahrheit reden, damit wir nicht irrewerden, sondern uns felsenfest auf sie verlassen können.

Ferner müssen wir es bestreiten, daß die Schrift nur da die Wahrheit redet, wo sie uns offenbart, was zum Heil unserer Seelen nötig ist. Sie muß – das ergibt sich aus dem Wesen der Inspiration – auch in anderen Dingen, die sie uns nach Gottes Rat und Weisheit zu sagen hat, die Wahrheit reden, sie muß überall wahr sein, sonst würden wir an ihr irrewerden, sonst könnten wir uns nicht felsenfest auf sie verlassen.

Wie steht es mit der Geschichte?

Schon längst hat man bei der Unterscheidung der kanonischen und apokryphischen Schriften des Alten Bundes mit Recht unter anderen das Kennzeichen aufgestellt, das letztere nicht zuverlässig sind in der Mitteilung geschichtlicher Ereignisse, während die kanonischen Bücher von diesem Fehler frei sind: im Buch Judith macht Holofernes einen Zug so verkehrt, wie – nach Eichhorns Ausdruck – ein Fieberkranker in seiner Fantasie reist, ebenso wimmelt das Buch Tobiä von historischen Irrtümern. Auch die Bücher der Makkabäer bieten eine große Menge der gröbsten Verstöße gegen die geschichtliche Wahrheit.

Die geschichtliche Zuverlässigkeit der biblischen Bücher wird immer mehr anerkannt, weil sie mit einer Objektivität wie kein Profan­schriftsteller wahr und klar geschichtliche Ereignisse berichten.

Dagegen ist die geschichtliche Zuverlässigkeit der kanonischen Bücher immer mehr anerkannt. Schon im Jahre 1857 wies Markus von Niebuhr in seinem Werke Assur und Babel nach, wie die Heilige Schrift von allen Orten der assyrischen und babylonischen Geschichte die zuverlässig­ste ist. Er hat deshalb auch zu dem Titel des Buches die Worte „aus der Konkordanz des Alten Testaments, des Berossos usw.“ hinzugefügt. Besonders stellt er die Glaubwürdigkeit des Buches Jona in Bezug auf die Größe und Bevölkerung der Stadt Ninive und die des Buches Daniel in das rechte Licht. Und was ist nun erst seit jener Zeit entdeckt worden und hat gezeigt, daß die Schrift mit einer Objektivität wie kein Profan­schriftsteller wahr und klar geschichtliche Ereignisse berichtet!

„Darum wird es Zeit“, schreibt der bekannte Alttestamentler D. Dr. Eduard König8 in Bonn,

„daß die positiven Glaub­wür­dig­keitsspuren, für welche die neueren Bekämpfer der hebräischen Geschichts­schrei­bung keinen Blick besessen haben, zur Be­ach­tung gebracht werden.

Zu diesen Glaubwürdigkeitsspuren gehört zunächst der Umstand, daß das alte Israel nach nicht wenigen Anzeichen einen lebendigen Sinn für Pflege der Tradition besessen hat. Nur vier Belege mögen jetzt diesen Satz erhärten. Diese vier sind der Ebenezer des Samuel und das Monument des Absalom, die Erzählung vom Ursprung der Sitte, daß auch die Marodeure (plündernde Nachzügler) an der Kriegsbeute teilnahmen, und endlich die Feier von Jonathans Gedächtnis auf den Schießplätzen der hebräischen Jünglinge. […]

Ein zweites Zeugnis für die Vertrauens­würdigkeit der israelitischen Geschichts­schrei­bung ist die Tatsache, daß in den Annalen Israels viele Verirrungen der ganzen Nation, sowie auch Fehler der ausgezeichnetsten Volkshelden erwähnt werden, und daß beim Tadel der Ungesetzlichkeit mannigfaltige Grade unterschieden sind. Denn in der Charakteristik der gesamten Volksentwicklung fehlt neben dem hellen Licht auch nicht der tiefste Schatten. Ferner hat auch in dem Bilde z.B. eines Jakob, Mose, David, Hiskia die religiös-sittliche Strenge Israels manchen dunkeln Zug angebracht. Sodann ist gar wohl ein Unterschied zwischen Verletzungen des Zeremonialgesetzes und der Verleugnung der religiös-ethischen Prärogativen (Vorrechte) Israels gemacht.

Die dritte Basis der Glaubwürdigkeit der hebräischen Geschichtsschreibung ist das Faktum, daß die Israeliten nicht die Anfänge aller Eigentümlichkeiten ihres nationalen Lebens auf einen Helden der ältesten Zeit zurückgeführt, und daß sie selbst von einer mannigfaltigen Vorwärtsbewegung ihrer religiösen Anschauungen und Kulturpraxis Zeugnis abgelegt haben. Denn z. B. daß in der Benennung der Propheten ein Wandel eingetreten sei, wird ausdrücklich in 1. Sam. 9, 9 bemerkt. Ferner die Bezeichnung Gottes als des Allmächtigen, sowie die Beschneidung sind aus der Periode Abrahams, aber der Gottesname Jahweh ist aus der Periode Moses datiert (Exod. 3, 13; 6,2.3), während „Jahweh Zebaoth“ zuerst 1. Sam. 1, 3 auftritt und die Abschaffung der Gottesbezeichnung „Baal“ ausdrücklich in Hosea 2, 18 angekündigt wird. […]

Zu diesen Elementen der Tradition Israels gehört auch die Aussage, daß im legitimen Kultus Israels von Anfang an die Versinnlichung des Gottesgeistes als eine Entwürdigung der Gottheit angesehen wurde“.

König behandelt die biblische Ge­schichts­schreibung in Bezug auf ihre Glaub­würdigkeit abgesehen von der göttlichen Eingebung, der Inspiration. Aber die Zuverlässigkeit der biblischen Geschichte ruht uns in erster Linie nicht auf gewissen, das Volk Israel vor anderen Völkern auszeichnenden Eigenschaften, sondern darauf, daß „alle Schrift von Gott eingegeben ist“!

Der katholische Alttestamentler Allgeier9 sagt:

Die Inspiration legt nicht positiv fest, wie die Bibel beschaffen sein muss. Dem Schriftsteller ist Spielraum gelassen. Sie hat aber die Beschränkung zur Folge, dass dem Buch Wahrheit ohne Irrtum gewährleistet wird.

„Wie eine inspirierte Schrift positiv näher beschaffen sein müsse besagt der Umstand nie, daß sie inspiriert ist. Dem Schriftsteller ist nach der positiven Seite ein weiter Spielraum gelassen, seine Individualität und Kunst zur Geltung zu bringen. […] Um also die positive Textgestalt eines inspirierten Buches zu ermitteln, ist das Inspirationsdogma nicht zu verwenden. Bedeutsam aber wird es nach der negativen Seite hin. Die Inspiration hat eine Beschränkung zur Folge.

Diejenige Schrift, welche unter dem Einfluß der Inspiration zu Stande kommt, kann solche Eigenschaften, die mit der Inspiration innerlich unvereinbar sind, nicht annehmen oder besitzen. Eine Wirkung der Inspiration besteht darin, daß dem inspirierten Buch Wahrheit ohne Irrtum gewährleistet wird. So kann die Inspiration auch äußerlich kon­statierbar werden, und der Dog­matiker erhält umgekehrt einen Maßstab zur Beurteilung darüber, was nicht inspiriert sein kann. Auf diesem indirekten Wege gewinnt auch die Tatsache der Inspiration für die Feststellung der Gestalt eines biblischen Buches Bedeutung, und von dieser Seite entsteht daher auch an den Doppelberichten der Heiligen Schrift ein dogmatisches Interesse“.

„Was ist Wahrheit in der Heiligen Schrift“? so fährt Allgeier an anderer Stelle (S. 122ff)fort, wo er über Doppelberichte und die Wahrheit der Heiligen Schrift redet.

„Wahrheit“, antwortet er auf diese von ihm aufgeworfene Frage, „in diesem Zusammenhang ist ein noetischer Begriff. Er enthält immer eine Beziehung auf ein erkennendes und ein urteilendes Subjekt. […] Ein Urteil über Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage ist also wesentlich abhängig von der Absicht, welche zur Aussage leitete.

In den fraglichen biblischen Abschnitten handelt es sich um Erzählungen. Die Absicht des Verfassers aber offenbart sich in der von ihm beliebten literarischen Art. Die literarischen Arten der Erzählung sind mannigfaltig. Sie lassen sich aber auf zwei wesentlich von einander verschiedene Gruppen zurückführen: 1. Erzählungen, welche die Hauptabsicht haben, Tatsachen zu berichten; 2. Berichte, für welche es gleichgültig ist, ob die berichteten Ereignisse sich wirklich zugetragen, deren Hauptabsicht darauf geht, in die Form einer Geschichte eine Lehre einzukleiden. Die letzteren können ganz oder teilweise erfunden sein. Geschichtlich im engeren Sinn sind nur die Erzählungen der ersten Gruppe.

Die Wahrheit der Genesis besteht darin, daß den Angaben, welche sie über die Vergangenheit macht, die Tatsachen entsprechen.

Zu ihnen gehören die Erzählungen der Genesis. Wäre die Hauptabsicht darin die konkrete Darstellung einer bestimmten sittlichen Wahrheit, so würde sie sich bei der einzelnen Geschichte in ebenso unterschiedener Eigentümlichkeit verraten. […] Die Wahrheit der Genesis besteht also darin, daß den Angaben, welche sie über die Vergangenheit macht, die Tatsachen entsprechen.

Nicht ist aber zur Wahrheit der geschichtlichen Darstellung erforderlich, daß über das betreffende Ereignis alle Aussagen gemacht werden, die darüber gemacht werden können. […]

Auch eine unvollkommene geschichtliche Darstellung kann wahr sein: in den Angaben nämlich, welche sie macht. Auch die biblische Geschichtsschreibung teilt die Grenzen historischer Erkenntnis. Sie hat diese Grenzen selbst gezogen. Der Erzähler der Genesis will nicht Universalgeschichte, nicht Kulturgeschichte, nicht politische Geschichte, nicht die Geschichte des jüdischen Volkes, auch nicht die Geschichte des Geschlechtes Abrahams, sondern die Geschichte der Offenbarung schreiben, wie sie in verschiedenen Stufen fortschreitend die Familie Jakobs zu ihrem besonderen Werkzeug auserwählt hat. Diese Absicht bedingt natürlich eine Begrenzung des Stoffes […]. In den Augen des modernen Historikers, der seine Aufgabe darin erblickt, die Vergangenheit um ihrer selbst willen zu erforschen, verliert jede Geschichts­schreibung an ge­schicht­lichem Wert, welche von einer Tendenz beeinflußt ist. Aber auch eine ausgesprochene Tendenz bewirkt nicht notwendig, daß die historischen Angaben unwahr sind. Das historische Gesamtbild kann unter dem Einfluß der Tendenz verzeichnet sein, ohne daß die Elemente der Erzählung unwahr sind. […]

Man darf nicht darauf hinweisen, daß auch die Überlieferungen anderer Völker über ihren Ursprung ungeschichtlich und sagenhaft ausgeschmückt sind. Denn es sollte dann ja eben zuvor gezeigt werden, daß die biblische Urgeschichte nicht höher gewertet werden darf. Aber die unvergleichliche Reinheit und Erhabenheit der israelitischen Traditionen ist immer zugestanden worden. Wenn jedoch die Darstellung im allgemeinen als wahr verbürgt ist, so müssen positive Gründe aufgezeigt werden, welche die Gewähr für die Einzelheiten aufheben. Für eine Untersuchung von Kern und Schale in diesem Sinne läßt sich aber keine Berechtigung nachweisen, geschweige denn, daß sich Kriterien aufstellen ließen, nach welchen die Scheidung zuversichtlich vollzogen werden könnte“.

Die Wahrheit der biblischen Geschichte ist uns gewiß durch die von der Heiligen Schrift selbst bezeugte göttliche Inspiration und darin soll und kann uns auch keine sog. Unstimmigkeit, die Menschen gefunden haben wollen, oder irgend eine uns selbst beim Bibellesen auffallende Differenz irre machen. Löst sich das Rätsel nicht bald von selbst durch eifriges Forschen in der Schrift, durch eine genaue Prüfung des Urtextes und den Vergleich mit ähnlichen Ausdrücken im Urtext, sowie eine Vergleichung mit den Varianten in den verschiedenen Handschriften, vor allem mit der genauesten Berücksichtigung des Gesamt­zusammenhangs der in Frage stehenden Stelle, so wollen wir es geduldig Gott dem Herrn anheimstellen, wann und wie er uns in das rechte Verständnis einführen will. Aber es ist doch glaubensstärkend für uns, wenn wir sehen, wie die Profangeschichte trotz ihrer Mangelhaftigkeit und Unzuverlässigkeit die Angaben der Heiligen Schrift als wahr bezeugt.

„In geschichtlichen Fragen“, schreibt der erwähnte Dr. Allgeier (a.a.O. S. 127), „bedarf es einmal nicht der Sprache des Augenscheins und der Sprache in der Ausdrucksweise naiver Erklärung, sondern lediglich der Feststellung des Geschehenen, die jedem Menschen, der die Fähigkeit objektiver Wahrnehmungen besitzt, möglich ist. Wie die Feststellung sprachlich geformt wird, ist von untergeordneter Bedeutung. Ein Gelehrter wird sich anders ausdrücken als ein Erzähler ohne wissenschaftliche Bildung, und auch jener wird den Ausdruck ändern, je nachdem es ihm um rein wissenschaftliche Zwecke oder um volkstümliche Belehrung zu tun ist. Die Bibel hat volkstümliche Ziele.“ […].

Darum bedurfte der Verfasser, um irrtumslos und durchaus zuverlässig jene so weit zurückliegenden Ereignisse schildern zu können, füge ich hier hinzu, der göttlichen Inspiration, besonders in Ansehung des Umstandes, daß die Heilsgeschichte nie von menschlichem Irrtum durchsetzt sein durfte, wenn sie uns das ewige Heil des wahrhaftigen Gottes vermitteln sollte. So nur konnte der heilige Sänger auch von der Heilsgeschichte des Alten Bundes bezeugen: „Dein Wort ist nichts als Wahrheit!“ (Psalm 119, 160.)

„Die Offenbarung Gottes in der Welt“, fährt Allgeier fort, „hat sich als Geschichte vollzogen. Ihre Vorbereitung, ihren Verlauf darzustellen, ist gerade die Aufgabe des Schriftstellers. […] Die biblische Erzählung kann also nur dann Anspruch auf Wahrheit machen, wenn nicht bloß die berichteten Tatsachen sich ereignet, sondern wenn auch die einzelnen Umstände, welche angeführt werden, wirklich das Ereignis begleitet haben.

[…] Es ist nun nicht möglich, im Rahmen eines Vortrages alle biblischen Geschichten vorzunehmen und zu zeigen, daß sie durch die Weltgeschichte in ihrer Glaubwürdigkeit gestützt werden. […] Es sind aber mit den Geschichten der Bibel so viele große Gotteswunder verbunden, die der Unglaube auch weiterhin als Mythen und Sagen beiseitestellen wird.


  1. [1875-1925; lutherischer Theologe, der sich Schleiermacher zuwandte und eine subjektiv-mystische Glaubensvorstellung vertrat] 

  2. Die Inspiration der Bibel, Leipzig 1927, S. 63 ff. 

  3. [1799-1867; liberaler evangelischer Theologe, der als Ziel sah, dass die Kirche in einem protestantischen Kulturstaat aufgeht] 

  4. Ich zitiere nach Heinrich Hübner, „Rudolf RochoII“ S. 352 f. Luth. Bücherverein Breslau 1910. 

  5. vgl. Dennert, E. Die Religion der Naturforscher, Berlin 1901, S. 14ff. 

  6. Geistliche Gedanken eines National-Ökonomen, Dresden 1895, S. 121f. 

  7. S. 11 ff. Braunschweig 1904. 

  8. Die Bildlosigkeit des legitimen Jahwekultus, Leipzig 1886 S. 4 ff. 

  9. Über Doppelberichte in der Genesis, Freiburg 1911. S. 117 f.