Karl Jaroš ist einer von wenigen Professoren im Bereich der Theologie, die in der akademischen Welt für die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der Evangelien eintreten und dabei historisch-kritische Positionen hinterfragen. Zusammen mit dem Texthistoriker Ulrich Victor untersucht er die Entstehung der drei synoptischen Evangelien (Mt, Mk, Lk) und wendet sich dabei insbesondere gegen die „Zwei-Quellen-Hypothese“.
Das Ergebnis der Untersuchung ist lässt aufhorchen: „Durch die vorliegende Untersuchung ist die Zwei-Quellen-Hypothese in allen ihren Teilen widerlegt: Weder ist das Markusevangelium die Vorlage der beiden anderen Synoptiker, auch nicht in der Form eines Proto- oder Deuteromarkus, noch gibt es eine Quelle Q. Die synoptischen Evangelien erweisen sich als voneinander unabhängige Zeugnisse der Ereignisse, von denen sie berichten“ (13). Mit anderen Worten: Es gab keine schriftliche Abhängigkeit der drei ersten Evangelien, sondern diese sind früh und unabhängig voneinander durch Rückgriff auf mündliche Quellen (die Worte Jesu) entstanden (14). Damit wird zugleich aus rein historischen Gründen die in der historisch-kritischen Forschung vorherrschende Spätdatierung nach dem Jahr 70 n.Chr. zurückgewiesen: „Die synoptischen Evangelien sind zwischen 40 und 62 entstanden, und es gibt keinerlei Grund mehr, gegen alle Regeln der Geschichtswissenschaft auf einer Entstehung der Texte nach 70 zu beharren“ (14). Die frühe Datierung wiederum „lässt keinen Raum für irgendeine Form oder Redaktionsgeschichte“ (14) – diese bezeichnen die Autoren als „Schreibtischerfindung“ (17) –, vielmehr entspricht der Grad von Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit der Synoptiker genau dem, was für unabhängige und widerspruchsfreie historische Zeugnisse zu erwarten ist (13).
Jaroš, Karl; Victor, Ulrich: Die synoptische Tradition. Die literarischen Beziehungen der drei ersten Evangelien und ihre Quellen. Köln: Böhlau 2010. 415 S. Gebunden 60,00 €. ISBN: 978-3-412-20549-2
Diese Ergebnisse sind beachtlich und gehen auf über 400 großformatige Seiten mit detaillierten Untersuchungen etlicher synoptischer Passagen zurück, die detailliert anhand des griechischen Wortlautes auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin untersucht werden. Durch eine interlineare Übersetzung können auch Leser ohne Griechischkenntnisse die Untersuchung nachvollziehen. Eine besondere Ironie besteht darin, dass die Autoren mit der Lachmannschen (oder stemmatischen) Methode genau die Methode zur Widerlegung der Zwei-Quellen-Theorie verwenden, auf die diese vor fast 200 Jahren gegründet wurde und auf die sich Vertreter bis heute berufen. Damit ist jedoch zugleich die größte Schwäche der Untersuchung benannt: Die Methode bleibt – genau wie für angebliche ‚Beweise‘ der Zwei-Quellen-Theorie – auch im Dienst ihrer Zurückweisung letztlich hypothetisch. So kommen die Autoren in ihrer Untersuchung auf 28 (!) verschiedene Quellen der drei synoptischen Evangelien (341f.). Auch wenn anschließend der Versuch unternommen wird, diese Quellen auf die authentische Erinnerung der Apostel zurückzuführen, bleiben Fragen offen. Es ist offensichtlich, dass mit der Existenz von 28 Quellen die Zwei-Quellen-Theorie widerlegt wäre, doch bleibt auch die von den Autoren vorgenommene Rekonstruktion und Unterscheidung dieser Vielzahl an Quellen letztlich selbst hypothetisch und überzeugt den Rezensenten auch in den detaillierten Einzeluntersuchungen nicht. Das Verdienst des Buches besteht somit vor allem darin, die mangelnde Fundierung der Zwei-Quellen-Theorie auf eine neue Weise aufgezeigt zu haben: Mit derselben Methode kann man auch zu ganz anderen Ergebnissen kommen. Allerdings sind die Ergebnisse der Untersuchung letztlich genauso hypothetisch wie die Zwei-Quellen-Theorie selbst.
Fazit: Die ausführliche Auseinandersetzung mit dem synoptischen Problem verdeutlicht, dass die Zwei-Quellen-Theorie auf hypothetischen Annahmen beruht und alles andere als bewiesen ist. Ein überzeugenden Gegenentwurf vermag die Untersuchung jedoch auch nicht zu bieten.