LiteraturBuchbesprechungen, Themen der Bibel

Großer Himmel – kleine Hölle? Wie das Gericht Gottes uns Hoffnung macht

Wie ist der Glaube an einen Gott, „der barmherzig, versöhnend, liebevoll, nicht nachtragend, geduldig und gerecht ist“, mit der Lehre vereinbar, dass dieser „viele Menschen in die Hölle wirft und dort ewig leiden lässt“ (S. 14)?

Der Autor beschreibt eingangs, wie er selbst jahrelang mit dieser Frage gerungen hat, und legt nun seine Antwort vor. Das Buch nähert sich dieser in drei Etappen. Im ersten und ausführlichsten Teil wird der „Richter und das Gericht“ untersucht, anschließend folgen zwei kürzere Teile über die „kleine Hölle“ und den „großen Himmel“. Die Antwort besteht zusammengefasst aus zwei Teilen.

1. Inklusivismus

Im Himmel (genauer: im Neuen Jerusalem) werden jene sein, die in diesem Leben zum Glauben an Jesus Christus kamen; die Bibel beschreibt sie als die „Erwählten“. Doch darüber hinaus wird es auf der neuen Erde (zwar außerhalb des Neuen Jerusalems, jedoch mit Zugang zu diesem) eine weitere, wohl überraschend große Gruppe geben, die „Nationen“. Sie sind Errettete, jedoch nicht Teil der Gemeinde Jesu (vgl. S. 325). Es handelt sich um Menschen, die in diesem Leben aus unterschiedlichen Gründen keine Christen wurden, „doch tief im Herzen haben sie etwas von Gott erfasst und dienen ihm, ohne es zu wissen“ (S. 178). „Ich sehe die Möglichkeit, dass alle diese Menschen […] mit Werken, die in Gott gewirkt sind, mit positiven Reaktionen auf die Stimme ihres Gewissens, von Gott auf die neue Erde geholt werden, weil er ihnen aufgrund eines verborgenen oder potenziellen Glaubens die Gerechtigkeit seines Sohnes zurechnet“ (S. 337–338). Dies sei keineswegs Werkgerechtigkeit, sondern eine Erlösung aus Gnade, schließlich werde ihnen Jesu Werk zugerechnet, auch wenn sie Jesus aufgrund ihrer Lebensumstände nie kennenlernten (S. 344) oder nichts dafür können, dass sie ihn ablehnten (S. 179). Allerdings: „Wie genau Gott das tut, ist letztlich nicht so wichtig, ob durch Allversöhnung, Werkgerechtigkeit oder bewusste Bekehrung … Er tut es und es gelingt ihm. Wer sind wir, Gott in den Arm zu fallen und zu sagen: ‚Allmächtiger, halte dich gefälligst an unsere evangelikale Theologie! …‘“ (S. 331).

Gott als gerechter und barmherziger Richter berücksichtigt in der Beurteilung der Menschen neben der Bekehrung eine Reihe weiterer Faktoren: Reue, die wir über unser Fehlverhalten empfunden haben; ein Leben nach Gottes Geboten, allen voran in der Liebe; das Üben von Barmherzigkeit (auch wenn jemand Jesus nicht kennt, ist Jesus „dort, wo ein Mensch echte Barmherzigkeit praktiziert, schon längst anwesend“; S. 97); das Maß unserer Erkenntnis von Gottes Offenbarung; unsere Frucht (selbst die allerkleinste zählt); die Absichten unseres Herzens bei unserem Tun (und sei es nur „gut gemeint“); das Maß an Leid und Härte, das wir in diesem Leben zu tragen hatten – Gott wird für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen. Daher wird der Himmel wohl stärker bevölkert sein als viele das jetzt meinen.

2. Annihilation

Dennoch gibt es eine Hölle. Sie ist jenen bestimmt, die sich bewusst gegen Gott stellten, ihn ablehnten. „Es gibt die Menschen, die sich beständig an anderen vergriffen und zeit ihres Lebens eine Spur von Gift hinter sich ausgestreut haben … im Tiefsten verdorben, entstellt, dem Bösen verfallen“ (S. 275). Doch auch dann gehe es Gott nicht um Vergeltung oder Rache: „Es ist der betroffene Mensch selbst, der Gott nicht mehr erträgt“ (S. 210), die Hölle liege im Grunde im Menschen selbst. Sie ist der Ort für „(nur) die wirklich Bösen“ (S. 259).

Jens Kaldewey: Großer Himmel – kleine Hölle? Wie das Gericht Gottes uns Hoffnung macht. Holzgerlingen: SCM R. Brockhaus, 2021. ISBN 978-3-417-24171-6. 363 S. 24,99 Euro

Der Autor verwirft die Allversöhnung als biblisch nicht haltbar, andererseits sei die Vorstellung einer ewig andauernden Höllenqual u. a. nicht mit dem Wesen des barmherzigen und liebenden Gottes vereinbar. Kaldewey plädiert für die Annihilation als Alternative: Die Menschen erleben keine unaufhörliche Qual, sondern ihre Existenz wird „nach einer Zeit der gerechten und angemessenen Strafe in der Hölle“ ausgelöscht (S. 225).

Biblisch begründete Hoffnung?

Ein großer Himmel, in dem Gott all die guten Ansätze im Menschen honoriert. Eine kleine Hölle, die zudem „nur“ Vernichtung statt anhaltender Qual bedeutet. Diese Hoffnung möchte das Buch wecken. Vieles ließe sich dazu sagen und hinterfragen. Beispielsweise, ob die Bibel diese optimistische Sicht auf den Menschen wirklich teilt, der – solange er sich nicht gegen Gott verhärtet – doch auch so viel Gutes vorzuweisen hat, das Gott gewiss nicht übersehen wird. Es ist auch schwer nachzuvollziehen, weshalb der zweite Weg in den Himmel keine Werkgerechtigkeit sein soll – schenkt Gott doch dem, der entsprechend gute Ansätze zeigt, seine Gnade, wohingegen er dem, der ein bestimmtes Maß an Bosheit überschreitet, diese Gnade nicht gibt. Und es ist noch schwerer nachzuvollziehen, weshalb es „nicht so wichtig“ sein soll, ob es sich vielleicht doch um Werkgerechtigkeit handelt – eine Begründung wird auch nicht geliefert. Die Frage eines hypothetischen, dem „Glaubenden“ selbst „verborgenen“ Glaubens hat Calvin mit dem ähnlich gelagerten „eingewickelten“ bzw. „ungestalteten“ Glauben bereits in seiner Institutio diskutiert (III,2).

Vor allem aber steht und fällt das ganze Problem mit der Frage nach dem Wesen Gottes. Wegweisend ist immer wieder die Überlegung, was denn dem Wesen Gottes entspreche oder nicht entspreche (vgl. S. 179, 196 u. ö.). Dabei wird Gottes Wesen im Großen und Ganzen auf seine Barmherzigkeit reduziert (ausführlich erläutert anhand von 2Mose 34,6 auf S. 36–47), in deren Licht seine weiteren, biblisch bezeugten Eigenschaften zu verstehen sind bzw. zu verblassen scheinen (z. B ist das „innerste Wesen des Gerichts“ Barmherzigkeit, S. 38; der Zorn des Lammes ist ein „liebevoller, wohlwollender und selbstloser Zorn“, S. 43). Aber: Wer sind wir, Gott in den Arm zu fallen und zu sagen: „Allmächtiger, halte dich gefälligst an unser schönes Gottesbild!“?

Erstaunliche Argumentation

Einerseits legt der Autor häufig große Bescheidenheit an den Tag: „Einige Indizien in der Bibel weisen in diese Richtung. Ich überlasse es dem Leser, diese auf seine Weise zu deuten und lege hier nur meine persönlichen Schlussfolgerungen vor“ (S. 141). „Die ‚Beweisführung‘ für eine ausgleichende Gerechtigkeit im Gericht Gottes, die ich hier führe, ist zwar nicht lückenlos. … Mir genügen jedoch die entdeckten Hinweise“ (S. 151). Er könne die klassische Höllenlehre nicht „im Sinne eines Gegenbeweises hieb- und stichfest widerlegen“ (S. 196). So gehe es ihm lediglich „darum, die Selbstverständlichkeit, mit der diese Lehre von vielen als die allein richtige propagiert wird, infrage zu stellen“ (S. 236). In dieser Frage sei wohl einfach nicht die eine Wahrheit zu finden (vgl. S. 279–282), man dürfe das nicht gegeneinander ausspielen (S. 358).

Diese Rhetorik des Nicht-wissen-Könnens ist insofern erstaunlich, als das Buch andererseits sehr wohl kräftig urteilt. Die Allversöhnung sei gut gemeint, aber wohl „Wunschdenken“ (S. 71, vgl. S. 239 ff.), die klassische Sicht des Feuersees aus der Offenbarung sei „ein Gift, das nach meiner Meinung die Gottesbeziehung vieler verseuchte als auch unzählige Predigten und Botschaften im Namen Gottes“ (S. 205). Solche lehrmäßigen Fehlgriffe geschehen, „wenn ich mit einem schon vorher gefassten Vorverständnis an die Texte herangehe. Wenn man ein wenig an den Worten ‚herumschraubt‘, kann man sie durchaus als Ausdruck einer endlosen Strafe verstehen. Eine zwingende Auslegung ist das aber keineswegs. Ganz im Gegenteil, es ist ‚hergeholt‘, wird in den Text hineingelesen, anstatt es aus ihm herauszulesen“ (S. 228).

Angesichts solcher Vorwürfe ist wiederum erstaunlich, dass Kaldewey sich selbst ausdrücklich „den Rahmen einer vorsichtigen Spekulation“ (S. 331) erlaubt. Er argumentiert beständig mit Formulierungen wie: „Ich kann mir schwer vorstellen …“, „Dürfen wir nicht vermuten, dass …“, „Ich lese hier zwischen den Zeilen …“ (S. 104, 145 u. 171; womit er sich allerdings in guter Gesellschaft zu befinden scheint, denn auch „Paulus stellt sich vor, dass …“; S. 311). Nur: Warum sollte das, was Kaldewey „tief in [s]einem Inneren … gehört zu haben“ meint (S. 279), richtig oder maßgeblich sein?

Insgesamt liefert Großer Himmel – kleine Hölle? eine Lehre, die hervorragend auf das Gottesbild, Sündenverständnis, Selbstbild und Gerechtigkeitsempfinden des modernen Menschen abgestimmt ist (vgl. S. 206, 222 u. 224). Es ist eine Frage der Perspektive, ob das als Gewinn zu werten ist (vgl. 2Tim 4,3).