ThemenZeitgeist und Bibel

Gibt es ein „Recht auf Verletztsein“? – Teil 1

Empfindlichkeit ist auch unter Christen weit verbreitet. Und wem Böses angetan wurde, der nimmt sich oft für lange Zeit das Recht auf Verletzt- und Beleidigtsein. Der erste Teil der biblischen Betrachtung stellt heraus, dass es eine solche Haltung in der Bibel nicht gibt und sie für Christen deswegen auch kein sinnvoller Umgang mit dem eigenen Verletztsein werden darf. Vielmehr kann der Christ eine Widerstandskraft und einen geheiligten Umgang mit schmerzhafter Kritik oder Verleumdung aus seiner Identität als Nachfolger Christi gewinnen. Der zweite Teil betrachtet dann Kritikfähigkeit und rechte Ermahnung.

Kürzlich fragte mich eine Glaubensschwester treuherzig, als ich im Anschluss an eine Meinungs­verschiedenheit offenbar etwas betroffen wirkte: „Habe ich dich jetzt beleidigt?“

Im Nachdenken über ihre Frage entstand diese Abhandlung. Natürlich hatte sie mich nicht beleidigt, denn „Beleidigtsein“ ist ganz und gar keine Kategorie für einen Nachfolger Christi.

„Darf“ man als Person, als Christ, „beleidigt“ sein, wenn man gekränkt worden ist? Dies aus biblischer Sicht genauer zu untersuchen, scheint mir eine Notwendigkeit in der Behandlung und Lösung zwischenmenschlicher Konflikte zu sein. Dabei soll nicht die Person betrachtet werden, die jemanden schmäht, herabsetzt, kränkt, verleumdet oder auf sonstige fühlbare Weise übel behandelt, sondern die betroffene Person, der solches angetan wird.

Aus einem seelsorgerlichen Anliegen heraus und biblisch vertiefend betrachtet stellt sich eine lösungsorientierte Fragestellung der in der Überschrift zugespitzten Formulierung folgendermaßen dar:

Wie kann eine auch noch so erniedrigende Behandlung auf geistliche Weise verarbeitet werden?

Selbstprüfung

Zu allererst sollte überprüft werden, ob in dem, was als Be­leidigung aufgefasst wird, eine Kritik steckt. Handelt es sich um eine Zurechtweisung? Ist ein allfälliger Tadel gerechtfertigt, und sei es nur teilweise, ungeachtet des Tonfalls und der Wortwahl? Dann ist Selbstprüfung angesagt:

„Ein Mensch prüfe sich selbst“ (1Kor 11,28).

„Prüft euch, ob ihr im Glauben seid. Stellt euch selbst unter Beweis.“ (2Kor 13,5).

Als Nachfolger Christi geschieht dies mittels eines aufrichtigen Gebets im Angesicht des lebendigen Gottes:

„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz.
Prüfe mich und erkenne meine unruhigen Gedanken.
Und sieh, ob ein Weg der Schmerzen* bei mir ist,
und leite mich auf ewigem Wege.“ (Ps 139,23-24)

[*d.h. ein Weg, der dir Schmerzen verursacht o. der bei mir Schmerzen zur Folge hat.]

Die Versuchung liegt nahe, angesichts eines persönlichen „Angriffs“ nach einem „Haar in der Suppe“ zu suchen, um dann pauschal Nichtigkeit zu reklamieren. In der Bibel steht es jedoch umgekehrt: Ein Vorwurf sollte von dem Betroffenen zunächst nicht auf „Schwachstellen“ oder Mängel abgecheckt werden wie ein Gerichtsentscheid, der wegen eines Formal- oder Verfahrensfehlers zurückgewiesen wird – das wäre fataler Selbstbetrug. Das Prüfkriterium ist umgekehrt: Ist irgendetwas Wahres an der „Kritik“ dran? Dann gälte es, dies anzunehmen und sich demütig darunter zu beugen – und dies ungeachtet eines allenfalls rüden Tonfalls des Kritikers!

Die Duldung konkreter Tatsünden und eine Selbstberuhigung ist fatal und widerspricht der Heiligkeit Gottes für sein Volk.

Die Duldung konkreter Tatsünden unter der Beruhigungspille, „im Großen und Ganzen“ ein „Gott gefälliges“ Leben zu führen (womöglich im Vergleich zu anderen, die den Weg des Glaubens nicht gehen), ist fatal und widerspricht dem Anspruch der Heiligkeit Gottes für sein Volk1.

Der Apostel Paulus war von per­sönlichen Gegnern in der Korinther Gemeinde schwer angegriffen worden. Wie ging er damit um?

Er wies die Angriffe nicht zurück, weil er über sich selbst kein Urteil fällen wollte.

Obzwar er sich selbst keiner Schuld bewusst war, räumte er ein, deswegen noch nicht gerechtfertigt zu sein.

Vielmehr stellte er das Urteil über sich dem Herrn anheim. (1Kor 4,3-4)

Im Fall eines „Angriffs“ auf die eigene Person geziemt sich daher zunächst eine aufrichtige und schonungslose Selbstprüfung anstatt einer reflexartigen empörten Zurückweisung, mit dem Finger auf andere zu zeigen (womöglich unter Hinweis auf Matth 7,3-5) und sich gekränkt im Selbstmitleid zu ergehen.

Genau dazu zeigte sich der Apostel Paulus bereit, nämlich sich den Anklagen gegen ihn ergebnisoffen zu stellen und – innerlich gelöst und von seinem Ego befreit – sich von seinem Herrn selbst prüfen zu lassen, ohne sofort in eine wehleidige Abwehrhaltung zu verfallen.

Aber nicht erst Paulus, sondern schon zu allererst der Sohn Gottes selbst hat diese Prüfung an sich gefallen lassen und seine Ankläger sogar dazu herausgefordert:

„Wer von euch weist mir Sünde nach? Wenn ich aber Wahrheit rede, warum glaubt ihr mir nicht?“ (Joh 8,46)

Indem er ihnen vorhalten musste, dass sie „nach dem Fleisch urteilten“ (Joh 8,15), forderte er sie zu einem geistlichen, auf dem Wort Gottes (bzw. auf Moses Gesetz) gegründeten Urteil auf:

„Richtet nicht nach Augenschein, sondern richtet das gerechte Urteil!“ (Joh 7,24)

Unschuldig verklagt, gedemütigt, verleumdet und gemobbt – Fallbeispiele

Aber was ist, wenn sich die geschmähte oder angeklagte Person auch nach reiflicher Prüfung keiner Schuld bewusst ist (siehe oben: 1Kor 4,3-4)? Damit kommen wir zur eigent­lichen Frage­stellung:

Steht es dem Christen, der zu Unrecht verklagt worden ist, zu, sich zu bemitleiden und eine feindliche Haltung einzunehmen?

Steht es jemandem, der geschmäht oder zu Unrecht verklagt worden ist, zu, dem Schmähenden oder Verkläger gegenüber eine feindliche, ablehnende Gesinnung einzunehmen, sich selbst zu bemitleiden und seine erlittene seelische Verletzung zu beklagen? Anders gefragt: Gibt es in einem solchen Fall ein biblisch reklamierbares „Recht auf Verletztsein“? Dazu folgende zwei Testfragen an drei biblische Vorbilder:

Der Herr Jesus

(1) Wurde unser Meister, der Sohn Gottes in seinen irdischen Tagen, geschmäht, herabgesetzt und zu Unrecht beschuldigt? Die Antwort lautet zweifellos: Ja.

(2) Reagierte er ob dieser Schmä­hun­gen, so zynisch, perfide und rufschädigend sie auch gewesen waren, in seinem Innersten „beleidigt“? Hat er, der sich durch seine Menschwerdung zum Diener und Knecht aller gemacht hatte (Mk 10,45), gegen diejenigen, die ihm übelwollten, einer aus Selbstliebe entsprungenen Gesinnung Groll gehegt? Die Antwort kann nur lauten: Nein. Denn sein Gebet, als sie ihn ans Kreuz nagelten, hinterlässt keinen Zweifel:

„Jesus aber sagte*: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!‘“ (Lk 23,34)

Diese altbekannte, unüberbietbar barmherzige Fürbitte des Gepeinigten, dessen Name abgrundtief geschändet worden war, lässt im altgriechischen Grundtext erkennen, dass es kein beiläufiges Gebet, sondern eine wiederholte, flehentlich zum Vater gerichtete Fürbitte während der Kreuzigung war. Die Fußnote zu dieser Bibelstelle in der Übersetzung von Herbert Jantzen und Thomas Jettel2 bietet folgende Erläuterung des Wortsinns:

*oder: „sagte <wiederholt>“; oder: „sagte <nachdrücklich>“,
griech. Imperfekt, intensivierte Handlung bzw. Nachdrücklichkeit andeutend.

Wie aber war es mit seinen Nachfolgern, denen ihr Herr und Meister dieselbe Ablehnung um seines Namens willen voraussagen hatte müssen?3 Sie zeigten dieselbe Gesinnung wie ihr Meister!

Stefanus

Stefanus, der von der Elite der jüdischen Obrigkeit – seinen Volksgenossen! – aufgrund seines Bekenntnisses zu dem „Gerechten, dessen Verräter und Mörder“ sie geworden waren (Apg 7,53), gesteinigt wurde, richtete seine letzten Worte „mit lauter Stimme“ an den erhöhten und verherrlichten Messias:

„Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apg 7,60).

Jemand, der so für seine hasserfüllten Mörder betet, ist innerlich frei; er kennt weder Groll noch Rachegelüste, er überwindet selbst angesichts seiner Steinigung das Böse mit dem Guten4. Was befähigt ihn dazu?

Paulus

Paulus von Tarsus, ursprünglich selbst ein maßgeblicher Vertreter der Jerusalemer Elite, hatte als solcher Drohung und Mord gegen die Nachfolger des Herrn Jesus geschnaubt und sie bis über Damaskus hinaus verfolgt, ins Gefängnis überliefert und ihre Gemeinden zerstört5. Doch nach seiner Errettung und Bekehrung wurde er selbst zum bekanntesten und wohl überzeu­gendsten Vorbild eines Jüngers, der zwar Unrecht um Unrecht durch seine Brüder dem Fleisch nach erlitt, die ihn ob seiner Bezeugung Jesu als auferstandenen Messias hassten, sie jedoch segnete und denen Gutes und Errettung wünschte, die ihn verfolgten, mehrfach geißelten, auspeitschten, steinigten6 und ihn mittels Todesschwur verwünschten7. An mehreren Stellen in seinen Schriften gab er Zeugnis von sich und seinen Mitgesandten wie dieses:

„Wir werden mit Fäusten geschlagen und sind Heimatlose und arbeiten, wirken mit den eigenen Händen. Geschmäht segnen wir. Verfolgt ertragen wir es. Gelästert geben wir Zuspruch.“ (1Kor 4,11-13).

Haben ihn Ungerechtigkeit oder Undankbarkeit empört, wenn sie ihm selbst widerfuhr? Erfüllten ihn die ständigen Erfahrungen der Ablehnung und Verleumdung seiner Volksgenossen, denen er dienen wollte, mit Bitterkeit? Trafen ihn Angriffe auf seine Person und Unterstellungen hinter seinem Rücken persönlich im Innersten? Nein! Nur dann, wenn ein falsches Licht auf seine Evangeliumsverkündigung zu fallen drohte, kämpfte er um eine wahrheitsgetreue Sachverhaltsdarstellung gegenüber Angriffen auf seine Person, nicht aber, um nur sich selbst zu rechtfertigen.

Als er mit einer Liebesgabe, mit unterstützenden Spendengeldern für die verarmte jüdisch-messianische Gemeinde, die er unter Heidenchristen in Mazedonien gesammelt hatte, nach Jerusalem zurückkehrte, wurde er von den Gemeindeältesten über die wütenden Anschuldigungen und Unterstellungen seiner jüdischen Volksgenossen aus der Provinz Asia konfrontiert: Paulus habe „alle Juden unter den Völkern den Abfall von Mose gelehrt“8. Sie rieten ihm daher, diese Behauptungen dadurch zu entkräften, dass er vier Glaubensbrüder, die ein Gelübde gemäß der Torah abgelegt hatten9, durch seinen persönlichen und finanziellen Beistand im Tempel unterstützte. Aber statt sein öffentliches Zeugnis anzunehmen, suchten ihn die Juden aus Asia durch Lynchjustiz zu töten10, unterbrachen sie seine Rechtfertigungsrede (ein Angeklagter hätte jedoch nach der Bibel das Recht zur Verteidigung und Stellungnahme; vgl. Joh 7,51) und forderten seine sofortige Ausrottung: „Hinweg von dieser Erde mit einem solchen!“ (Apg 22,22).

Paulus wurde in seinem Inneren durch nichts davon abgebracht, seine Verfolger zu lieben und für sie zu beten.

Machten sich Groll oder gar Rache­gefühle in seinem Herzen breit? Regte sich Selbstmitleid, oder forderte er Genug­tuung? Begann er mit Gott zu hadern, von dem er wusste, dass er ihn so schwer prüfte11? – Nein, all dies konnte ihn nicht von seiner unbeirrbaren Retterliebe und Vergebungsbereitschaft abbringen. Nichts, weder Tod noch Leben, weder Hohes noch Tiefes würde ihn trennen können von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, seinem Herrn12. Es konnte ihm nichts widerfahren, was sein Innerstes davon abbrachte, seine Verfolger zu lieben und für sie zu beten. Was er lehrte13, lebte er auch:

„Die Liebe sucht nicht das Ihre, ist nicht schnell gereizt, rechnet das Böse nicht an,
[…] Sie deckt alles zu, glaubt alles, hofft alles, erduldet [erträgt] alles“14.

Das Böse nicht anrechnen, aber für Frieden, Gerechtigkeit und Wahrheit einstehen

Aber bedeutet, „das Böse nicht anzurechnen“ (1Kor 13,5) und „alles zu erdulden“ (V. 7), eine untätige, passive Dulderhaltung, in der man jegliches Unrecht über sich und andere ergehen lässt, oder mittels welcher man sich aus Streitschlichtungen heraushält? Nein, im Gegenteil! Deshalb heißt es gerade zwischen Vers 5 und Vers 7:

„Die Liebe freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, freut sich aber mit der Wahrheit.“ (V. 6)

Nachfolger Christi „hungern und dürsten“15 nicht nur nach jener Gerechtigkeit, die ihnen durch glaubende Annahme der Gerechtigkeit Christi zugesprochen wird16; sie treten vielmehr auch aktiv gegen Ungerechtigkeiten in ihrem Umfeld auf:

„Selig sind die Friedensstifter! Sie werden nämlich Söhne Gottes genannt werden.“ (Matth 5,9)

Diese Spannung zwischen der scheinbar ambivalenten17, tatsächlich aber komplementären18 Beschreibung des neutestamentlichen Begriffs der (Agape-) Liebe bedeuten also im kontextuellen Zusammenhang (1) sowohl den Mut zum aktiven, unbeirrbaren Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Wahrheit19 ungeachtet entgegenstehender Interessen und allfälliger persönlicher Nachteile, (2) als auch zugleich die völlige innere Freiheit von Animositäten20 und heimlichem Groll21.

Wer meint, die Ablehnung seiner Hasser unter Verweis auf das Alte Testament rechtfertigen zu können, der sei an das siebente Gerechtigkeitsgebot der Torah erinnert. Darin wird die Beistandspflicht für einen in Not Befindlichen auch gegenüber seinem Hasser durch folgendes, für den damaligen Alltag sehr lebensnahe Beispiel illustriert:

„Wenn du den Esel deines Hassers unter seiner Last zusammengebrochen siehst, dann lass ihn nicht ohne Beistand: Du sollst ihn mit ihm zusammen aufrichten.“ (2Mose 23,5)

Im Neuen Testament wird dieses Gebot der Beistandspflicht durch Negation noch überhöht:

„Wer also um Gutes22, das es zu tun gilt, weiß und es nicht tut, dem ist es Sünde.“ (Jak 4,17)

Die Identität eines Nachfolgers Christi

Der frühere Ruhm des Paulus erwies sich nach seiner Umkehr mit einem Schlag als wertlos und nichtig.

Wie wichtig war Paulus die eigene Anerkennung, Ehre, Ruhm und Lob von Menschen? Die Begegnung mit dem Auferstande­nen vor Damaskus, die Demütigung der Erfahrung, buchstäblich „vom hohen Ross“ zu Boden gestürzt zu werden und zu erblin­den – er, der zu Füßen Gamaliels I., des angesehensten23 Rabbiners der damaligen Zeit, studiert24 und sich für einen „Leiter der Blinden, ein Licht derer, die in Finsternis sind“25, gehalten hatte –, ließen sein gesamtes religiöses und völkisches Selbst­verständnis wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Er musste erkennen, dass seine Identität als gesetzestreuer Jude mit untadeliger Herkunft, gleich­sam als ein Pa­rade­vertreter des damaligen Juden­tums26, keine Gerechtigkeit war, die vor Gott gelten würde, weil er – ungeachtet all der fleischlichen Vorzüge, deren er sich gerühmt hatte27 –, ein Sünder, „ein Lästerer, Verfolger und überheblicher Gewalttätiger“ war28. Dieser sein Ruhm, auf Fleisch gegründet, erwies sich mit einem Schlag als wertlos und nichtig, und was ihm bis dahin als Gewinn erschienen war, erachtete er von nun an als Schaden „wegen des unübertreffenden Vorzuges, Jesus als seinen Messias, seinen Herrn, zu kennen“29. Nicht mehr sein eigenes Tun und seine Bemühung, um Gottes Gerechtigkeit und Ruhm zu erlangen, beherrschten von nun an sein Leben30. Vielmehr erachtete er all dies als Verlust,

„damit ich Christus gewinne und in ihm erfunden werde, ‹in welchem Falle› ich nicht meine Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz wäre, sondern die, die durch den Glauben an Christus ist, die Gerechtigkeit aus Gott aufgrund des Glaubens.“31

So ging der Verlust seiner jüdischen Identität mit dem Gewinn einer neuen Identität einher. Durch seine Neuschöpfung in Chris­tus32, dem Sohn Gottes, wurde seine alte Identität zu „Kehricht“33. Fortan galt für ihn nicht mehr sein eigener Ruhm aufgrund äußerer Vorzüge (und er warnte vor jenen Widersachern, die eben dies propagierten34), sondern betrachtete einzig und allein seinen Herrn und Erretter als seine einzige Ehre. Eine von ihm mehrfach zitierte Schriftstelle stammt aus dem Buch Jeremia:

„Wer sich rühmen will, rühme sich im Herrn!“35

Noch radikaler formulierte er dies folgendermaßen:

„Zu leben ist für mich Christus, und zu sterben Gewinn.“ (Gal 1,21)

Dieses Verständnis des neuen Menschen illustrierte er auf metaphorische Weise (Gal 2,19-20):

„Durch das Gesetz starb ich dem Gesetz, damit ich ‹für› Gott lebe. Mit Christus zusammen bin ich gekreuzigt worden. Aber ich lebe – nicht mehr ich: Christus lebt in mir. Was ich nun im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben, ‹im Vertrauen› auf den Sohn Gottes, der mich liebte und sich selbst für mich hingab.“

Darum hat sich Paulus fortan nicht mehr mit der fleischlich-jüdischen Volks­gemeinschaft identifiziert. Seine „Mutter“ war nicht mehr „Hagar, die Magd“, denn sie hatte ihn „nach dem Fleisch geboren“, sodass er als „Kind der Versklavung“ in der Gefangen­schaft des „gegenwärtigen Jerusalems“ aufgewachsen war. Nun aber konnte er sich seines Heimatrechts im „obigen Jerusa­lem“ rühmen, als Kind der „Freien durch die Verheißung“, denn „das obige Jerusalem ist frei, welches unser aller Mutter ist“36. Der Gesalbte Gottes, Jesus, hatte für ihn eine völlig neue Identität, Volkszu­gehörigkeit und „Staats­bür­ger­schaft“ er­worben.

Dies erklärt, warum er von den Juden wie von einem anderen Volk und daher grundsätzlich nicht anders als von den Heiden redete, nämlich von beiden als von zwei Ethnien, denen er selber nicht angehörte. Nichtsdestoweniger war er ohne Zögern stets bereit, sowohl den Juden ein Jude als auch den Heiden (Griechen) ein Heide zu werden37 (!), um auf jeden Fall beide für Christus zu gewinnen, damit sie – nunmehr weder als Juden noch als Heiden – ebenso wie er selbst mit neuer Identität in Gottes erlöstes Volk des neuen Bundes einverleibt würden38.

Irgendeine Stärkung des Selbstwert­gefühls ist nur eine Krücke gegenüber dem, dass Christus unser Leben und Ruhm wird.

Man spricht heutzutage von der Wichtigkeit des „Selbstwertgefühls“ und dessen Mangel bei psychisch kranken Menschen. Darin liegt tatsächlich eine biblische Wahrheit: Der Mensch ist nicht wert-los, aber auf die Begründung kommt es an: Was Gott geschaffen hat, ist wert-voll. Wer sich wertlos fühlt, dem mag die psychologische Krücke eines „Gefühls“ über die Zeit helfen: die „Stärkung“ seines „Selbstwertgefühls“.

Aber nur an demjenigen, der den auferstandenen und zur Allherrschaft erhöhten Sohn Gottes in unverbrüchlichem Vertrauen als seinen Herrn annimmt, kann die radikale und totale Konversion seiner irdischen, vergänglichen Identität durch den Geist Gottes in eine himmlische, unvergängliche vollzogen werden. Anstatt seines bisherigen, selbstgefälligen, selbstgerechten oder selbstgenügsamen Lebens, in der Gefangenschaft seiner selbst und seiner Religion oder Weltanschauung, wird buchstäblich Christus selbst „sein Leben“, sein einziger, aber allgenügsamer Ruhm.

Teil 2 Gibt es ein „Recht auf Verletztsein“? Teil 2


  1. Es ist Gottes erklärter Wille, dass sein erlöstes Volk „heilig sei, wie er heilig ist“ (3Mose 11,44). Das bedeutet nichts weniger als dies: Die durch Umkehr, Vergebung und Versöhnung mit dem dreimal heiligen Gott dank der erlösenden Stellvertretung durch das Lamm Gottes zu seiner Eigentumsgemeinde Erkauften (1Kor 6,18-20) sind aufgerufen, „dem Frieden mit allen und der Heiligung nachzujagen, ohne die niemand den Herrn sehen wird“ (Hbr 12,14), das bedeutet, jede erkannte Sünde und fleischliche Gesinnung so bald wie möglich auszurotten, damit diese nicht wie eine giftige Wurzel der Bitterkeit emporwachse (Hbr 12,14ff). Solch ein „giftiger Wurzelschoß“ kann in einer Gemeinde jahrelang unterirdisch schlummern, aber aufgrund eines einzigen Anlasses plötzlich aufschießen und sein Gift verbreiten. 

  2. „Das Neue Testament – Die Psalmen – Die Sprüche. Unter Berücksichtigung vieler anderer Übersetzungen“, 3. Auflage 2016. 

  3. Mat 10,25: „Es ist dem Jünger genug, dass er werde wie sein Lehrer und der leibeigene Knecht wie sein Herr.
    Wenn sie den Hausherrn Beelzebul nannten, wie viel mehr seine Hausgenossen!“ Vgl. Joh 16,1-4; Apg 9,16. 

  4. Röm 12,21; vgl. 1Pt 2,15. 

  5. Apg 8,3; 9,1-2. 

  6. 2Kor 11,24-25. 

  7. Apg 22,22f; 23,12-14.21. 

  8. Apg 21,20. 

  9. 4Mose 6. 

  10. Apg 21,30-31. 

  11. 2Kor 12,7-10. 

  12. Röm 8,38-39. 

  13. Röm 12,14. 

  14. 1Kor 13,5.7. 

  15. Vgl. Bergpredigt, Mat 5,6. 

  16. Röm 3,22-26. 

  17. ambivalent: zwiespältig, doppelwertig. 

  18. komplementär: gegensätzlich, aber einander ergänzend. 

  19. Das bedeutet auch den Kampf für die Histo­ri­zität der biblischen Geschichte und gegen Versuche, biblische Wahrheiten zu verfälschen, vgl. 2Pt 3,15-17. In Jud 3 wird das Wort für den Ringkampf verwendet: agonizomai. Darin steckt das Wort agon, in der übertragenen Bedeutung für Wettkampf und Anspannung unter größter Mühe (vgl. Lk 13,25; 1Kor 9,25; Kol 1,29; 1Tim 4,10). Laut Wikipedia-Begriffserklärung bezeichnen wir mit „Agonie“ sogar einen länger andauernden Todeskampf. 

  20. Synonyme für „Animosität“: Feindseligkeit, Erbitterung, Hass, Gereiztheit. 

  21. An dieser Stelle sei nachdrücklich darauf hingewiesen, dass der, welcher bemerkt hat und sich beim Gebet erinnert, dass „sein Bruder etwas gegen ihn hat“ (vgl. Matth 5,23-24), verpflichtet ist, diesen sobald wie möglich aufzusuchen und alles zu unternehmen, um eine Aussprache und Versöhnung zu erreichen. Dies gilt insbesondere dann, wenn er von den Vorbehalten gegen seine Person, sei es Kritik, Groll oder Bitterkeit, nur indirekt, über Dritte, erfährt, weil es jener unterlassen hat, sich direkt an ihn zu wenden und sich mit ihm offen und brüderlich auszusprechen. Dem dies zu Ohren kommt, ist dieser Dienst nicht freigestellt, sondern ist ihm als eine womöglich lebensrettende Verpflichtung auferlegt (vgl. Gal 6,1-2; Jak 5,19-20; 2Tim 2,24-26). Nichts ist ungeistlicher und unter Glaubensgeschwistern in einer örtlichen Gemeinde mittelfristig zerstörerischer (vgl. Hld 2,15; Klgl 5,18), als Vorbehalte und Vorurteile zu schüren und unhinterfragt einander fleischliche Motive anzudichten und womöglich sogar hinterrücks zu verbreiten – die Bibel nennt dies „Ränkesucht“, „Ohrenbläserei“ und „Doppelzüngigkeit“ durch „Hetzer“ und „Intriganten“ (Spr 16,28; 18,8; 26,20.22; Ps 12,3; 1Tim 3,8). Solcherlei ist kompromisslos ans Licht zu bringen (Eph 5,8-14; 1Tim 5,19-21) und auf direktem Wege zu klären, zunächst unter vier Augen und, falls erforderlich, unter Beiziehung von Zeugen (Matth 18,15). 

  22. Griech. kalos hier im Sinne von: das sittlich Gute, Schickliche, Gott Wohlgefällige, zum Heil Nützliche. (Walter Bauer: „Wörterbuch zum Neuen Testament“, 5. Auflage 1971). 

  23. Sota 9:15. 

  24. Apg 22,3. 

  25. Vgl. Röm 2,19. 

  26. Gal 1,14. 

  27. Phil 3,3-9. 

  28. 1Tim 1,13. 

  29. Phil 3,7-8. 

  30. Dies wäre „Ruhm, aber nicht bei Gott“, erklärte Paulus im Zusammenhang mit Abrahams Rechtfertigung (Röm 4,2). „Wo bleibt also das Rühmen? Es ist ausgeschlossen!“ (3,27). 

  31. Phil 3,8-11. 

  32. 2Kor 5,17; Gal 6,15. 

  33. Phil 3,8; griech. skubalon laut Walter Bauer (vgl. Fußnote 22): „Abfall, Überbleibsel, Kehricht, Unrat, Mist, Kot, Dreck, menschliche Ausscheidungen“. 

  34. Vgl. 2Kor 11,18. 

  35. Jer 9,23, zitiert in 1Kor 1,31; 2Kor 10,17. 

  36. Gal 4,22-31. 

  37. 1Kor 9,20-23. 

  38. Eph 2,11-22; 1Kor 12,13; Gal 3,26-29; Kol 3,11.