Reimer, Johannes. Die Welt umarmen: Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus, Transformationsstudien, Bd. 1, Marburg an der Lahn: Verlag der Francke-Buchhandlung 2009, 378 S. ISBN-Nr.: 978-3-86827-085-3, Preis: 17.95 €
Das neue Werk von Johannes Reimer ist durchaus bahnbrechend: ein Buch für Gemeindebau im Zeichen der Postmoderne. Es soll Missiologie vermitteln und will zum praktischen Handeln ermutigen. Durch die in dieser Arbeit gestellten Weichen möchte der Autor ganz im Sinne von M. Frost „aus der Box des Christentums heraustreten“ (vgl. S. 23.27).
Schon im ersten Teil bringt Reimer sein Anliegen auf den Punkt: „Der Gemeindebau steht vor einer grundsätzlichen paradigmatischen Wende, die eine gründliche theologische Neuorientierung verlangt“ (S. 17). Es geht um „Gesellschaftsrelevanz als Kategorie der Gemeindeakzeptanz“ (S. 24). Im zweiten Teil sucht er nach dem Fundament für sein Gemeindeverständnis im Neuen Testament. Der dritte Teil besteht aus einem Vergleich der historischen Gemeindemodelle. Teil 4 möchte die theologische Grundlegung eines gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus vermitteln. Im fünften Teil beschäftigt der Verfasser sich mit missiologischen und im sechsten Teil mit ekklesiologischen Grundvoraussetzungen für seine Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus.
Vieles in diesem Buch ist klar biblisch formuliert und erfasst ziemlich genau den Sinn und die Bestimmung der Gemeinde des Neuen Bundes. Und doch bleiben Fragen.
Es geht dem Autor um den Gemeindebau in einem postmodernen Zeitalter. Dafür gibt er als Grundprämisse die Kultur- bzw. Gesellschaftsrelevanz aus (S. 10). Damit wird auch eines seiner wesentlichen Ziele deutlich, nämlich der Erfolg im Gemeindeaufbau (siehe u.a. S. 24). „Was richtig und wichtig ist, kann weniger unserer guten systematischen Theologie entnommen werden, sondern einem ehrlichen Nachfragen im Horizont der Geschichte der ganzen Gemeinde Jesu“. (S. 23). Doch wo finden wir in der Bibel, dass uns der Erfolg als Notwendigkeit im Gemeindeaufbau geboten wird? Es ist doch vielmehr so, dass der Herr in einer Stadt ein „großes Volk“ haben wird (vgl. Apg 18,10) und in der anderen werden sich nur „einige“ Menschen dem Missionar anschließen (vgl. Apg 17,34). Der richtungweisende Anfang macht deutlich, warum für Reimer „dogmatische Abgrenzungen fehl am Platz“ sind (S. 11). Er möchte aus dem gewohnten Rahmen, „aus der Box des Christentums“ heraus. Die Richtung seiner Lehre lässt sich unschwer erahnen, denn er bindet seine Vorstellungen vom Gemeindebau deutlich an McLarens Konzept (S. 22-23). Brian McLaren gehört zu den einflussreichsten Denkern der Emerging Church. Ganz im Sinne der neu aufkommenden Kirche möchte der Autor die Unklarheit über Gemeinde und Gemeindebau, die nach seiner Meinung seit der Reformation herrsche, beheben (S. 30).
Eine der „Unklarheiten“ scheint die bisher gängige Erklärung des Missionsbefehls zu sein. Es geht nach Meinung des Autors um Weltveränderung durch die Gemeinde und somit um ein ganz neues Verständnis von Mt 28,19-20. Der Auftrag der Gemeinde sei, „nicht nur, einzelne Menschen zur Nachfolge Jesu zu bewegen, sondern die Völker zu Jüngern zu machen“ (S. 41). Wenn aber diese Stelle im Kontext des NT verstanden wird, so geht es dem Herrn offensichtlich darum, dass alle Völker von der Lehre des Evangeliums und der daraus resultierenden christlichen Ethik erfasst werden („lehret sie halten…“). Die Botschaft von Jesus soll die Welt durchdringen; gewonnen aber wird nur „ein Volk von den Völkern auf seinen Namen“ (Apg 15,14. vgl. auch V. 17).
Es erscheint seltsam, wenn der Autor meint, die Jerusalemer Gemeinde sei mit der Übernahme der Leitung „durch den streng gesetzesorientierten Jakobus“ in eine geistliche Krise geraten (S. 57). Interessanterweise aber gibt gerade dieser „gesetzliche“ Jakobus einen recht toleranten Vorschlag zur Regelung der auf dem Apostelkonzil diskutierten Frage (Apg 15,13- 20), was allen Brüdern und dem Heiligen Geist gefällt (Apg 15,28). Weiterhin vermutet Reimer, bei Paulus sei in der Zeit seines späteren Wirkens „ein neues Denken aufgezogen“ (S. 81). Dies meint er darin zu erkennen, dass der Apostel seine Einstellung zum Dienst der Frauen wie auch sein Verständnis von der Leitungsstruktur der Gemeinde geändert hätte, eine Sicht, die für bibeltreue Christen inakzeptabel ist.
Einer der Hauptgedanken des Buches ist die neue Gewichtung im Missionsbefehl auf das soziale Engagement. Immer wieder versucht der Autor den sozialen bzw. „sozio-politischen“ Aspekt im Leben der ersten Gemeinden herauszufinden. Manchmal scheint es, er muss ihn „vermutend behaupten“. Hier fehlt die Ausgewogenheit. Selbstverständlich soll in der Gemeinde eine Harmonie zwischen Wortverkündigung und sozialer Arbeit herrschen. Der wahre Glaube kann sich nicht nur in Evangelisation und Lehre äußern, sondern er wird auch immer wieder durch karitatives Wirken zum Ausdruck kommen (vgl. 1Joh 3,18; Jak 2,15-17). Wenn aber jemand den Schwerpunkt von der Verkündigung des Heils in Christus allzu deutlich auf die Wichtigkeit der sozialen Arbeit verschiebt, dann fragt man sich, ob er nicht zu einem „anderen Evangeliums“ (Gal 1,6) abrutscht.
Was bewegt den Verfasser, wenn er für eine gesellschaftlich-kulturelle Relevanz der Gemeinde plädiert? Es geht ihm wie der „Emerging Church“ um die Anpassung der Gemeinde an den Paradigmenwechsel in der Gesellschaft (S. 125ff), also um die Anpassung an den postmodernen Menschen. Natürlich müssen wir die gesellschaftlichen Veränderungen vor Augen haben und angemessen darauf reagieren. Reimer sieht jedoch die Voraussetzungen für die Tauglichkeit eines Gemeindekonzepts mit der Kulturrelevanz verbunden, die mit dem Paradigmenwechsel in der Gesellschaft einhergeht. Daraus folgt die Forderung nach einer neuen „kontextuellen Theologie“ (S. 194-203). Es verwundert deshalb nicht, wenn der Autor beim Thema „Reich Gottes und Gemeindebau“ (S. 144ff) zu zeigen versucht, dass die von Jesus proklamierte Gottesherrschaft in Luk 4,18-19 „zutiefst politische Konsequenzen“ habe (S. 145). Hier muss die Soteriologie einer modernen sozialpolitischen Theologie Platz machen. Wenn Reimer von Israel auf die Königsherrschaft Gottes in der ganzen Welt überleitet, dann erklärt er: „Gott will die Welt so transformieren, dass sie seiner Vorstellung entspricht“ (ebd.). Wie Gott diese mit sich versöhnte Welt sieht, veranschaulicht Reimer mit einem Bibelzitat aus Jes 65,17-25 und sagt: „Diese Welt ist Gottes erklärtes Missionsziel“ (S. 146). Daher versteht sich von selbst, dass die Gemeinde „nicht das Ziel der Mission Gottes“ sei (S. 147).
Es sind dies Tendenzen einer emergenten Theologie, die wir nicht ohne gründliche Überprüfung stehen lassen dürfen. Trotzdem spürt man das Verlangen des Autors, auf dem Boden der Schrift zu bleiben. Deswegen wäre es gut, wenn er seine richtigen Gedanken konsequent zu Ende denken und von der Utopie einer Welttransformation durch die Gemeinde ablassen würde.