1. Viele Fragen – unterschiedliche Antworten
Als die Tsunami-Welle in Südostasien beim drittstärksten aufgezeichneten Erdbeben am Zweiten Weihnachtstag des Jahres 2004 über 230 Tausend Menschen in den Tod riss, erhob sich die große Frage: „Wie kann Gott zulassen, dass so viele unschuldige Menschen sterben?“ Ein besonderer Grund war zweifellos, dass sich auch viele westliche Touristen unter den Toten befanden.
Nun ist die Frage nach Gottes Zulassung nicht neu. Insbesondere bei großen Unfällen und Katastrophen, die von den Massenmedien bis in unsere Wohnzimmer hinein anschaulich präsentiert werden, wird auch in einer ansonsten gegen Gott gleichgültigen Öffentlichkeit die Frage nach Gottes Handeln laut. Auffallend war nun allerdings bei der von der Tsunami-Welle ausgelösten Diskussion, dass viele Kirchenführer und andere Theologen sich beeilten zu versichern, solche Katastrophen hätten mit Gott ganz und gar nichts zu tun. Naturabläufe seien eben von den Naturgesetzen abhängige Ereignisse. Die Bedeutsamkeit Gottes wurde auf drei Gebiete reduziert: Trostspendung für die Betroffenen; Aufforderung zur Hilfeleistung für die in Not Geratenen; Anstoß zum Krisenmanagement zwecks Vorsorge gegen Katastrophen durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt, z.B. durch die Installierung von Frühwarnsystemen. – Solche Antworten sind gewiss nicht falsch; allerdings können sie auch ohne Gott gegeben werden. Wer als Theologe so redet, reduziert Gottes Bedeutung auf von Menschen zu leistende Mitmenschlichkeit und Moral. Solch ein Gott hat mit Natur und Geschichte nichts zu tun; ja, er ist letztlich belanglos, da menschliches Krisenmanagement das Entscheidende ist und bleibt. So merkten diese Theologen nicht, dass sie Gott und sich selbst für überflüssig erklärten.
Grund für diese Antworten ist das Ausweichen vor der Theodizeefrage, der Frage, wie Gottes Allmacht und Liebe angesichts von Unglück und Leid miteinander vereinbar sind. – Der Begriff „Theodizee“ wurde von dem Juristen und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) aufgrund von Römer 3,4 f. geprägt: Das Wort setzt sich zusammen aus dem griechischen theos = „Gott“ und dike = „Gerechtigkeit“. Leibniz war von der Gerechtigkeit Gottes überzeugt. – Nicht der Begriff, aber die Frage selbst ist viel älter. Sie wurde erstmals im kritischen Sinn präzise formuliert von dem atheistischen griechischen Philosophen Epikur (ca. 341–270 v.Chr.): „Will Gott Übel beseitigen, kann es aber nicht, so ist er nicht allmächtig; kann er, aber will er nicht, so ist er nicht gut; wenn er jedoch kann und will, warum gibt es Übel?“
Epikurs Fragestellung hat mehrere Voraussetzungen: Sie geht von der allgemein menschlichen Erfahrung des Unglücks und Leides aus, richtet die Anfrage an eine vom menschlichen Einfluss verschiedene Instanz und bringt die moralischen Kategorien „gut“ und „böse“ ins Spiel, wobei Unglück und Leid dem Bösen zugerechnet werden, während von Gott erwartet wird, dass er gut ist und sein Handeln verstehbar bleibt.
Im Islam stellt die Theodizeefrage letztlich kein Problem dar, denn der Mensch hat sich den Ratschlüssen Allahs fraglos zu unterwerfen.
Die Theodizeefrage in der kritischen Form, wie Epikur sie formuliert hat, ist typisch für das abendländische Denken geworden. Sie wird heutzutage vom Neuen Atheismus freudig aufgegriffen (vgl. z.B. das Buch des Bestsellerautors Richard Dawkins „Der Gotteswahn“). – Zunächst sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich die Theodizeefrage in dieser Art gar nicht stellt, wenn eine oder mehrere der genannten Voraussetzungen fehlen: Denn im Dämonenglauben und in polytheistischen Religionen lassen sich Unglück und Leid aus dem Kampf guter und böser Geister oder Götter gegeneinander erklären. Unglück und Leid rühren dann von jenen negativen Mächten her, die bei der Auseinandersetzung die Oberhand gewonnen haben. – Es gibt auch dumpfen Schicksalsglauben. Nach altem griechischen Mythos, wie wir z.B. beim Dichter Homer lesen können, sind selbst die Götter dem undurchsichtigen, willkürlichen Schicksal unterworfen, das griechisch moira, lateinisch fatum genannt wird (vgl. das deutsche Lehnwort „fatal“). – In hinduistischen und buddhistischen Wiederverkörperungslehren können Unglück und Leid mit der Schuld erklärt werden, die in früheren Lebensläufen vom Einzelnen angesammelt wurde, und die nun abzutragen ist (Karma-Lehre). – Im Islam schließlich wird Allah zwar prinzipiell als gnädig angesehen, doch er steht so hoch über allem menschlichen Erkennen und Verstehen, dass die Theodizeefrage letztlich kein Problem darstellt. Denn der Mensch hat sich den unergründlich hohen Ratschlüssen Allahs fraglos zu unterwerfen (so auch die Grundbedeutung des Wortes „Islam“). In islamischer Tradition wird oft noch ein Schicksalsglaube damit verknüpft. „Das ist Kismet“, heißt es dann.
Auf biblisch-christlichem Hintergrund aber gewinnt die Theodizeefrage große Schärfe. Wird nicht in der Bibel bezeugt, dass Gott allmächtig ist und gleichfalls, dass sein Handeln durch Güte und Liebe geleitet wird?
2. Antwortversuche in Kirchen- und Theologiegeschichte
Dass Unglück und Leid stets auf persönliche Schuld zurückgeht, lehnt Jesus ausdrücklich ab.
Einige der dargestellten Antwortversuche auf die Theodizeefrage tauchen auch in der Kirchengeschichte auf: Man kann verbieten, die Frage überhaupt zu stellen, weil es dem Menschen nicht ansteht, Gottes Weisheit zu bezweifeln. Dies Verbot ist aber nur dann berechtigt, wenn die Frage hochmütig und nicht aus der Anfechtung heraus gestellt wird (vgl. Jesaja 45,9; Römer 9,20 f.). – Oder man nimmt zwei Götter an. So geschah es in der frühkirchlichen Richtung der Gnosis. Ein hervorragender Vertreter dieser Auffassung war Marcion. Der reiche Reeder und Kaufmann Marcion hatte eine eigene Gemeinde gegründet, die sich rasch ausbreitete. Marcion lehrte, der Gott des Alten Testamentes sei nicht der Gott und Vater Jesu Christi. Alles Böse sei auf den Gott des Alten Testamentes, den Erschaffer der Materie, zurückzuführen, während der Gott Jesu ein Gott des Lichtes und der Liebe sei. Marcion wurde im Jahr 144 in Rom exkommuniziert. – Andere, darunter der Kirchenvater Augustinus (354–430), lehrten im Anschluss an die griechisch-philosophische Richtung des Neuplatonismus, das Böse sei im Grunde das Nichtseiende, lediglich Mangel an Gutem. Auch das Böse steht demnach im Dienst des Guten, wenn man Gottes gesamten Heilsplan betrachtet. – Die mittelalterliche Schultheologie folgte den Grundgedanken Augustins. Vom vordergründig sichtbaren Leid wird das „Wesentliche“ unterschieden. Das „Wesentliche“ aber ist Gottes Wirklichkeit ohne Leid und Schmerz. – Die Reformatoren lehnten diese starre Seinslehre ab. Außerdem muss sich nicht Gott vor den Menschen rechtfertigen, sondern der Mensch muss von Gott gerechtfertigt werden. – Die Antwort schließlich, dass Unglück und Leid stets auf persönliche Schuld des Betroffenen zurückzuführen sind, wie es einige Fromme schon zur Zeit Jesu lehrten, wird von Jesus ausdrücklich zurückgewiesen (vgl. Lukas 13, 1-5). Jesus ruft statt dessen alle Menschen zur Umkehr angesichts des kommenden Gerichts.
3. Gegensätze im abendländischen Denken
Die Theodizeefrage bekam, jetzt in Gestalt der Frage nach dem Zusammenhang von Gottes Allmacht und Güte, neues Gewicht in der abendländischen Epoche der Aufklärung seit dem 17. Jahrhundert. Die Entdeckung der Mathematisierbarkeit der Naturgesetze, verbunden mit Vernunftglauben und Fortschrittsoptimismus führten zu der Auffassung, dass Gottes Güte und das Weltgeschehen nicht in Gegensatz zu einander stehen können. So lehrte der erwähnte Gottfried Wilhelm Leibniz, dass diese Welt die beste aller Welten ist. Da diese Welt eine geschaffene Welt ist, kann sie allerdings nicht ganz vollkommen sein, sonst wäre sie Gott; denn nur Gott selbst ist uneingeschränkt vollkommen. Unter den gegebenen Bedingungen der Schöpfung ist diese Welt folglich trotz allen Unglücks und Leides die beste aller denkbaren Welten. Denn Gott will stets das Beste.
Dem entsprach in der Theologie eine breite Bewegung, die sich „Physikotheologie“ nannte. Sie entstand aus der Begeisterung für die von der Naturwissenschaft aufgewiesene Harmonie der schöpfungsgemäßen Naturgesetze. Ziel dieser Theologie war zu zeigen, wie wunderbar die Natur zum Nutzen des sie erforschenden Menschen erschaffen ist. Jedes Einzelne ist in das harmonische Zusammenspiel des Gesamten einbezogen. Physik wird zur „Sabbatbeschäftigung“. Denn die Wunder der Natur führen den staunenden Betrachter, gerade auch den Naturwissenschaftler, zum Lob des Schöpfers.
Das Erdbeben von Lissabon hatte genügt, um die Einheit von Naturwissenschaft und Gottesglauben zu sprengen.
Seine Lehre hatte Leibniz im Jahre 1710 veröffentlicht und damit diesem Zeitgeist Ausdruck verliehen. Dann aber geschah am 1. November 1755 ein die damalige Welt im wörtlichen und übertragenen Sinn erschütterndes Ereignis: Das Erdbeben von Lissabon. Dem Beben und der folgenden Tsunami-Welle fielen etwa 90 Tausend Einwohner Lissabons und weitere Zehntausend Menschen, auch an den Mittelmeerküsten, zum Opfer. 85 Prozent aller Gebäude Lissabons wurden zerstört, darunter die berühmten königlichen Paläste. Bibliotheken von unschätzbarem Wert fielen der Feuersbrunst und dem Wasser zum Opfer. Ebenso wurden alle Kirchen Lissabons zerstört. Aber das Rotlichtviertel der Stadt blieb verschont! – Und all das geschah am Allerheiligentag! Voltaire (1694–1778) schrieb ein Gedicht über die Katastrophe von Lissabon und überschüttete die Philosophie von Leibniz mit bissigem Spott. – Das Erdbeben von Lissabon hatte genügt, um den Optimismus der Aufklärung zu zerschlagen und die Einheit von Naturwissenschaft und Gottesglauben zu sprengen. Noch in unserer Zeit stellte der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno (1903–1969) eine Analogie zwischen dem Erdbeben von Lissabon und dem Holocaust her: Beide Katastrophen seien so groß gewesen, dass sie die europäische Kultur und Philosophie grundlegend verändert hätten.
Bereits zur Physikotheologie parallel war eine Bewegung verlaufen, die Naturwissenschaft allein auf der Basis eines materialistischen Atheismus betreiben wollte. Ihr Exponent war der französische Philosoph Julien de Lamettrie (1709–1751). Er bezeichnete den Menschen als bloße physikalisch-chemische Maschine. Diese Richtung triumphierte nun. Durch den in popularisierter Form vereinfachten Darwinismus (Darwin lebte 1809–1882) gewann die materialistisch-atheistische Weltanschauung verstärkt Einfluss in der Naturwissenschaft. Durch die Wende von der klassischen zur modernen Physik (seit etwa 1900) trat sie zurück. Doch heutzutage kehrt sie in Form des Neuen Atheismus wieder. Nach ihrer Auffassung ist die Theodizeefrage von Anfang an dadurch erledigt, dass „es Gott gar nicht gibt“.
Statt dessen gewann die Theodizeefrage in dem ganz anderen Zusammenhang des Holocaust Bedeutung. Der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel erzählt in seinem autobiographischen Roman „Die Nacht“, wie sein Glaube an Gott zerbrach. Elie, damals 15 Jahre alt, war mit seiner Familie in Viehwaggons verladen und ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht worden. Wegen angeblicher Sabotage wurde ein 13-jähriger Mithäftling zusammen mit zwei Erwachsenen zum Tode verurteilt. Alle Häftlinge mussten antreten und der Hinrichtung zusehen. Wiesel erzählt über den Jungen: Er lebte noch, als ich vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich einen Mann fragen: „Wo ist Gott?“ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: „Wo er ist? Dort – dort hängt er am Galgen…“ In Elie Wiesel brach damals die Glaubenswelt seiner Kindheit endgültig zusammen. Er konnte nicht mehr beten. Er schreibt: „Ich war der Ankläger. Und Gott war der Angeklagte.“ Ein gütiger, allmächtiger Gott kann doch nicht zusehen, wie unschuldige Menschen grausam gequält und ermordet werden! Und sind die Juden nicht Gottes auserwähltes Volk? – Wiesel wollte später dennoch am Gottesbegriff festhalten und machte verschiedene Lösungsvorschläge, die allerdings nahe an den Atheismus reichen. Deshalb lehnte Emmanuel Lévinas (1905–1995), ein jüdischer Philosoph aus Frankreich, Wiesels Versuche als unangemessen und widersprüchlich ab. Lévinas Konsequenz lautet kurz gefasst: Nicht Gott ist tot nach Auschwitz, aber Auschwitz ist das Ende der Theodizee. Über Gott und sein Wesen kann man als Mensch überhaupt nichts Bestimmtes sagen. Es gibt einen Gott, der aber verhüllt sein Angesicht.
4. Biblische Wegweisung
Mit seinen Überlegungen gelangt Lévinas nahe an Luthers Lehre von „verborgenen Gott“ (lateinisch: deus absconditus). Doch die Bibel weiß – und Luther mit ihr – nicht nur vom verborgenen, sondern viel mehr vom sich offenbarenden Gott zu sagen. In Jesus Christus hat sich Gott uns Menschen mitgeteilt; und Gott ist „ein glühender Backofen voll Liebe“ (Luther). Wie passt das aber mit Unglück und Leid in der Welt zusammen?
Die Frage „Wie kann Gott das zulassen?“ lässt sich nicht abschalten und „erledigen“.
Die Frage „Wie kann Gott das zulassen?“ lässt sich nicht abschalten und nicht „erledigen“. Sie wird auch ein Christenleben begleiten, obwohl sie nicht immer im Vordergrund steht. In der Bibel selbst wird die Frage nach Gott vielfach in Form der Klage und manchmal sogar der Anklage gestellt. „Wo ist nun dein Gott?“, lautet der Spott der Gottlosen. „Wo bist du, mein Heil und Helfer?“, klagt der angefochtene Fromme. An erster Stelle gibt das Hiobbuch Zeugnis von solcher Anfechtung. Zu verweisen ist auch auf die Klagen des Propheten Jeremia (Jeremia 12 und 15), auf die Klage der Frommen bei Maleachi (3, 14-15) und auf die Psalmen 10; 14; 53; 94, insbesondere auf Psalm 73. Die Klage bis an die Grenze der Anklage Gottes ist Christen erlaubt. Das charakteristisch Biblische und Vorbildliche daran ist allerdings, dass diese Klage nicht von Gott loslässt. Sie wendet sich erst gegen Gott, dann aber wieder zurück an Gott, wie wir in den Psalmen, bei Jeremia und Hiob sehen. Gott wird nicht hochmütig vor den menschlichen Richterstuhl zitiert!
Auschwitz ist eine Tat des im äußersten Grade bösen und sündigen Menschen, keine Tat Gottes.
Die Frage nach der Vereinbarkeit von Gottes Güte mit Unglück und Leid in der Welt kann im Glauben ausgehalten werden. Sie wird nicht leichthin verstandesmäßig beantwortet. Allerdings sollten verstandesmäßige Erklärungen, so weit sie möglich sind, nicht übersprungen werden. Die Moderne hat, insbesondere seit dem Zeitalter der Aufklärung, die widergöttliche Macht des Bösen, die Sünde des Menschen und das göttliche Gericht geleugnet und dadurch den Umgang mit der Theodizeefrage erschwert. Der Satan als außermenschliche Kraft des Bösen und die Sünde als innerer Trieb des Menschen werden in der Bibel vorausgesetzt. Auschwitz ist eine Tat des im äußersten Grade bösen und sündigen Menschen, keine Tat Gottes. Auschwitz stand allenfalls unter der Zulassung Gottes, der auch dem Bösen Freiheit lässt. Erst unter dem Aspekt, dass die Juden Gottes auserwähltes Volk sind, wandelt sich das Geschehen von Auschwitz mit ganzem Gewicht zur Theodizeefrage. – Wird also berücksichtigt, dass Unglück und Leid in der Welt vielfach durch menschliche Bosheit und Sünde verursacht sind, kann die Frage nach Gottes Gerechtigkeit nicht so leichtfertig gestellt werden, wie es oft geschieht. Da Gott dem mündigen Menschen die Freiheit zur Bosheit gelassen hat, muss auch die Menschheit die eigene Bosheit samt ihren Folgen zuerst selbst verantworten – und nicht Gott (vgl. Jeremia 2,27)! Deshalb können Krieg, Unglück und Leid auch Folge menschlicher Sünde und Ausdruck göttlichen Gerichts sein.
Wie aber steht es mit Naturkatastrophen, Unfällen, unverschuldetem Leiden und vielen Krankheiten? Diesbezüglich ist daran zu erinnern, dass wir nicht im Paradies, sondern in einer gefallenen und zusätzlich vom Menschen verdorbenen Schöpfung leben. Satan ist der „Fürst dieser Welt“ (Luther). Die biblische Bezeichnung für Satan lautet kosmokrator = „Herr der Welt“. Gott hingegen ist der pantokrator = „Allherr“. Wenn auf das Wirken Satans hingewiesen wird, geht es nicht um den billigen Trick einer Zweigötterlehre, so dass – wie in der Gnosis – alles Böse und alles Leid mit einem Gegengott, in diesem Falle Satan, erklärt wird. Nein, die Welt ist nicht zwischen Gott und Satan aufgeteilt, sie ist und bleibt ganz und gar die Welt Gottes. Doch das Wirken Satans steht – so lange bis Gott sein Reich vollendet – unter der Zulassung Gottes. Es gibt eine echte, lebendige Heilsgeschichte. Gott will die Freiheit des Menschen. Die Weltgeschichte läuft nicht ab wie ein aufgezogenes Uhrwerk. Allerdings behält Gott die Fäden der Geschichte in der Hand. Wie sehr sich diese auch verwickeln, so wird er sie zuletzt entwickeln, so dass alle Geschichte in Gottes ewiges Friedensreich eingeht.
Die tiefste Antwort auf die Frage nach Gottes Gerechtigkeit überschreitet allerdings die Dimension rationaler Argumentation. Biblisch finden wir keine abstrakt-allgemeinen Antworten, sondern Aussagen im Zusammenhang der Heilsgeschichte. Es geht nicht um Wissen, sondern um Gewissheit; nicht um Lösung, sondern um Erlösung. Die Theodizeefrage wird sich bis zum Ende der Weltgeschichte immer wieder stellen, aber sie findet schon jetzt in Zeit und Geschichte ihr Ziel am Kreuz Jesu Christi. In Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi zeigt Gott, dass ihm diese Welt nicht gleichgültig ist und wie sehr er sie liebt. Fortan gibt es kein Leid, das er nicht kennt, in dem er nicht gegenwärtig wäre. In der Auferstehung Jesu Christi erweist sich Gottes endgültiger Sieg über Sünde, Tod und Teufel. Dem, der sich an Jesus Christus hält, gilt die Zusage, dass ihm alle Dinge, auch Not und Leid, zum Guten mitwirken (Römer 8,28)!
Eine junge Frau schrieb: „Wo ist hier Gottes Erbarmen – das war meine Frage… Das Erbarmen Gottes ist kein Ersthelferreflex! Es ist zunächst vor allem die Bereitschaft, bei dem Leidenden auszuharren, es mit ihm auszuhalten. So ist Gott, der Vater! Und der Sohn? Er hat nun wirklich ausgehalten und tut es noch – bis zuletzt, bis die letzte Tiefe des Leidens dieser Welt ausgelotet ist. Erst dann ist es restlos überwunden. Nur auf dieser Grundlage macht es Sinn, etwas zu unternehmen, Not zu lindern, gegen Unrecht aufzustehen und um Wunder und Vollmacht zu bitten.“
Die Frage nach Gott angesichts von Unglück, Ungerechtigkeit, Leid und Sünde in der Welt will uns zu Jesus führen, wie auch Dietrich Bonhoeffer in einem seiner letzten Briefe aus dem Gefängnis bezeugt: „Alles, was wir mit Recht von Gott erwarten, erbitten dürfen, ist in Jesus Christus zu finden. Was ein Gott, so wie wir ihn uns denken, alles tun müsste und könnte, damit hat der Gott Jesu Christi nichts zu tun. Wir müssen uns immer wieder sehr lange und sehr ruhig in das Leben, Sprechen, Handeln, Leiden und Sterben Jesu versenken, um zu erkennen, was Gott verheißt und was er erfüllt. Gewiss ist, dass wir immer in der Nähe und unter der Gegenwart Gottes leben dürfen, und dass dieses Leben für uns ein ganz neues Leben ist; dass es für uns nichts Unmögliches mehr gibt, weil es für Gott nichts Unmögliches gibt; dass keine irdische Macht uns anrühren kann ohne Gottes Willen, und dass Gefahr und Not uns nur näher zu Gott treiben; gewiss ist, dass wir nichts zu beanspruchen haben und doch alles erbitten dürfen; gewiss ist, dass im Leiden unsere Freude, im Sterben unser Leben verborgen ist; gewiss ist, dass wir in dem allen in einer Gemeinschaft stehen, die uns trägt. Zu dem allen hat Gott in Jesus Ja und Amen gesagt. Dieses Ja und Amen ist der feste Boden, auf dem wir stehen.“
In dieser Gewissheit kommt die Theodizeefrage zur Ruhe. Sie ist am Ziel. Anklage und Klage münden in das Ja und Amen.
Zuerst veröffentlicht im Informationsbrief der Bekenntnisbewegung vom April 2009 Nr. 253