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ThemenBuchbesprechungen, Kultur und Gesellschaft, Zeitgeist und Bibel

Dauernder Wandel oder überdauernde Werte?

Die „Transformative Ethik“ ist ein Paradebeispiel für den Weg der post-evangelikalen Theologie. Der biblische Maßstab für die Ethik wird in ihr konsequent dem kulturellen Wandel und den „Evidenzen“ der Sozialwissenschaften unterstellt. Ein lebenspraktischer Weg ergibt sich so aber nicht, sondern die unrealitistische Forderung, jede ethische Entscheidung selber zu erfinden. Und Christen sollen die Welt mit der Ethik eines „gelingenden Lebens“ erlösen.

Mit ihrer „Transformativen Ethik“ legen die beiden Professoren an evangelikal geprägten Hochschulen des CVJM und Tabor, Tobias Faix und Thorsten Dietz1, einen weiteren Baustein zu einer post-evangelikalen Theologie vor. Diese Theologie ist dadurch charakterisiert, dass sie sich einerseits kritisch mit den eigenen evangelikalen Grundlagen auseinandersetzt und diese andererseits dadurch weiterführen will, dass sie sie mit modernen und spätmodernen Ideen aus Philosophie, Soziologie und Theologie verbindet. Die bisherige starke Orientierung an der Bibel als Maßstab gilt jetzt kritisch als „biblizistisch“ und „unbiblisch“. Aber man will weiterhin „bibelorientiert“ bleiben, nur jetzt korrigiert mit Elementen konstruktivistischer Philosophie, mit historisch-kritischer Exegese und Identitätsvorstellungen der Soziologie. Die evangelikale „Fundamentalkritik an der Neuzeit“ soll beendet werden durch die Integration aktueller „Evidenzen“. Man kritisiert die missionarische Ausrichtung der evangelikalen Bewegung und will „bescheiden“ nur noch die eigenen Ansichten in einen Dialog einbringen, versteht sich aber zugleich als so „missionarisch“, dass man mit der eigenen Ethik die ganze Welt verändern, transformieren, will. Diese und weitere Elemente finden sich auch in dem vorliegenden Entwurf.

Ein längere Fassung dieses Artikels mit mehr Zitaten und Kommentaren zu einzelnen Entscheidungen kann hier heruntergeladen werden: Jeising – Transformative Ethik-lang-Sonderdruck

Bereits vor der Druck­legung haben sich die Autoren im US-ameri­ka­nischen Stil des Lobes aus der evangelikal-post-evangelikalen Welt und darüber hinaus versichert. Zwei Seiten „Endorsements“ (16-17) und weitere Promi­nen­ten­werbung auf dem Einband sollen das Urteil des Lesers lenken, noch bevor er gelesen hat. Eventuelle Kritik steht dem Lob zahlreicher namhaf­ter evangelikaler Größen gegenüber. Auch daran wird deutlich, dass die Zielgruppe des Buches vor allem Leser aus der evangelikalen, pietistischen und konservativen christlichen Welt sind. Rund die Hälfte des Buches beschäftigt sich dann auch mit der Thematik, welche Rolle die Bibel bei der ethischen Entscheidung haben kann oder soll. Zwar kritisieren die Autoren gelegentlich die Bibelvergessenheit in der evangelischen theologischen Ethik, aber eine wirkliche Auseinandersetzung führen sie eigentlich nur mit solchen Ansätzen, die versuchen, die Autorität der Bibel zu begründen und aufzuzeigen, wie aus biblischen Geboten und Prinzipien ethische Entscheidungen für Christen werden. Dem stellen Dietz/Faix ihr eigenes Modell gegenüber, in dem die Bibel für die Ethik zwar keine echte Autorität darstellt, aber als „Inspiration“ für ethische Entscheidungen bleibenden Wert haben kann, wenn sie nur auf die richtige Weise interpretiert wird.

Thorsten Dietz und Tobias Faix. Transformative Ethik. Wege zum Leben: Einführung in eine Ethik zum Selberdenken. Neukirchener Verlag 2021. 414 S. ISBN 978-3761567753

Mein Kommentar zum vorliegenden Buch wird durchweg kritisch sein. Das liegt nicht daran, dass nicht auch viel Gutes auf den über 400 Seiten zu finden wäre. So hätte es ein hilfreiches Lehrbuch zur Ethik werden können. Denn in den lehrmäßigen Teilen gelingt es den Autoren, einzelne ausgewählte Positionen aus philosophischen und religiösen Ethikentwürfen prägnant darzustellen. Wer das Buch durcharbeitet, erlangt damit aber keine wirkliche Übersicht über den ethischen Diskurs. Denn die argumentative Darstellung ihrer „transformativen Ethik“ als einzig vernünftige Alternative für eine christliche Ethik der Gegenwart ist das eigentliche Anliegen. Einem solchen Gesamtentwurf wird man m.E. nicht gerecht, wenn man einzelne Aspekte daraus mal positiv, mal eher negativ bewertet. Der Entwurf will nicht bisherige Ansätze zur Ethik weiterentwickeln, einzelne Aspekte verbessern oder aktuelle ethische Themen anpacken. Er will einen grundlegend neuen Ansatz bieten und diesen besonders für die evangelikale Glaubenswelt etablieren. Das zeigt sich deutlich immer da, wo Positionen aus der evangelikalen Diskussion treffend dargestellt und sie dann eher apodiktisch als nicht überzeugend verworfen werden, weswegen nur die neue transformative Sicht eine Alternative biete. Für die gilt:

„Christliche Ethik verkündigt nicht einfach einen zeitlosen Gotteswillen. Christliche Ethik handelt von der großen Transformation Gottes.“ (77)

Das Buch wendet sich offenbar von dem Grundprinzip christlicher Ethik ab, dass zeitüber­greifende ethische Grundlinien und göttliche Gebote auf die Vielfalt des Lebens angewandt werden.

Dietz/Faix wenden sich offenbar von einem Grundprinzip christlicher Ethik ab, dass es nämlich zeitübergreifende ethische Grundlinien und göttliche Gebote gibt, die in christlicher Verantwortung auf die Vielfalt des Lebens angewandt werden müssen. Für sie liegt die Qualität einer Ethik in ihrer Anpassungsfähigkeit an den kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Damit meinen sie allerdings nicht die erstaunliche Tatsache, dass aus der „alten“ Bibel für die meisten ethischen Herausforderungen der Gegenwart immer noch relevante Positionen ab­geleitet werden können, sondern die Not­wendigkeit, die christliche Ethik an „moderne kulturelle Entwicklungen und natur- bzw. sozialwissenschaftliche Evidenzen“ anzupassen, indem diese der Bibel „vorgeordnet“ werden (204). Die transformative Ethik will keine Gebote, Weisungen oder Werte als Offenbarung Gottes aktuell anwenden, sondern nur „Reflexion“ über moralische Werte bieten, anhand derer sich jeder individuell seine Moral bilden soll. Vorgegeben sind als christliche Grundrichtungen „Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit“, die allerdings auch nicht allein biblisch, sondern gesellschaftlich angepasst verstanden werden sollen. Im Ergebnis lassen die Autoren zwar an einigen Stellen durchblicken, für welche Werte ihr Herz schlägt, legen sich aber scheinbar nicht fest, um das freie „Selberdenken“ nicht einzuschränken. Sie bieten interessante Ansätze zu einem Gespräch mit säkularer Ethik, aber lassen dabei den kritischen Charakter christlicher Ethik gegenüber aktuellen ethischen Entwürfen fast völlig vermissen.

Weil der Ansatz einerseits so breit gelobt wird und andererseits eine große Anzie­hungskraft darin hat, dass er in der Lage scheint, christlich-biblische Wertansprüche mit den Wegen aktueller Wertediskussion zu vereinen, lohnt meines Erachtens eine genauere Betrachtung und Diskussion.

1. Wenn „Transformation“ regiert

Dietz/Faix wollen nur einen „Vorentwurf einer christlichen transformativen Ethik“ vorlegen. Eine konkrete Materialethik, die dann bestimmte Themen behandelt, soll in weiteren Bänden folgen. Es geht ihnen um die Grundlagen für die moralische Entscheidungsfindung. Das Besondere an ihrem Entwurf verbinden sie mit dem Wort „transformativ“ bzw. „Transformation“. In den deutschen Duden hat es das Adjektiv „transformativ“ noch nicht geschafft und „Transformation“ bedeutet erst einmal nur Veränderung, Wandel, Wechsel. Die Verwendung des Adjektivs im Englischen im Sinne von „eine wesentliche Änderung zum Besseren bewirken“ (so im Cambridge Dictionary) wird bei Dietz/Faix anfangs angedeutet (20) und später im Buch betont, dass eine christliche Ethik die Änderung der Gesellschaft zum Ziel haben soll. Am Anfang steht der Aspekt der überall wahrgenommenen Wandlungen regierend im Vordergrund: Man will eine Ethik, die an die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte angepasst ist. Eine Grundlage für die Entwicklung einer zeitgemäßen Ethik sehen Dietz/Faix in einem Verständnis der Welt und des Lebens in der Spätmoderne mit ihren sich überlagernden „Transformationsprozessen“.

Die „überkommenen Formen der Ethik … passen nicht mehr in die Landschaft. Sie führen nicht mehr ans Ziel, weil die Welt sich radikal verändert hat“ (28).

Allerdings hinkt hier wie an anderen Stellen die ausführlich entfaltete Bildwelt von Land­schaften, Wegen und Landkarten. Wenn nämlich eine Brücke Teil des „richtigen“ Weges zu einem guten Ziel wäre, dann mag sie ihrem Zweck als Überquerung einer ethischen Herausforderung nicht mehr dienen, wenn diese nicht mehr besteht, aber „ans Ziel führen“ würde sie weiter. Die Aufgabe kann sein, an anderer Stelle des Weges eine neue Brücke zu bauen, weil hier eine neue ethische Herausforderung aufgetaucht ist, aber der christliche Weg zum Ziel wäre damit gar nicht in Frage gestellt. Dietz/Faix definieren jedoch später im Buch, dass gewissermaßen der Weg das Ziel ist, wenn sie das „gelingende Leben“2, das durch gute Moral erreicht wird, für das eigentliche christliche Ziel halten. Nur so macht ihr Argument hier überhaupt Sinn.

Für die ethische Diskussion sind übergreifende gesellschaftliche Verän­derun­gen ohne Zweifel eine Heraus­forderung, weil dadurch ein bestehender ethischer Konsens in Frage gestellt werden kann. Wenn aber der Wandel selbst zum Leitprinzip der ethisch-moralischen Verantwortung jedes Menschen werden soll, erscheint das aus Sicht des bisherigen christlichen Ethikverständnisses als höchst bedenklich. Dietz/Faix nehmen den Wandel so radikal wahr, dass sie deswegen jeden bisherigen ethischen Konsens bis in seine Grundlagen hinein für unbrauchbar halten. Sie erachten die Reichweite kultureller Veränderung und zugleich die individuelle kulturelle Prägung für so groß, dass dafür eine neuartige christliche Ethik gebraucht wird, die keinen Wertekanon bietet, sondern nur „Reflexion“ (61, 78, 79) und Wegweisung zu individueller Entscheidungsfindung. Angesichts dessen wirken die Analysen „kultureller Weltbilder“ (30-33) im Buch eher allgemein. Wiederholt wird gesagt, etwas habe mit etwas anderem zu tun. Käme es nicht darauf an, wenn man dem Wandel eine zentrale Bedeutung für die Ethik beimisst, auch zu zeigen, wie genau die Zusammenhänge sind? Mag sein, dass das in anderen Veröffentlichungen der „Interdisziplinären Studien zur Trans­formation“ noch erklärt wird. Um mal ein Beispiel zu nennen, das desto mehr Fragen aufwirft, je genauer man hinschaut: Dietz/Faix halten moralische Werte für einen Teil der menschlichen Identität (64-65): „In Wertefragen geht es immer auch um die eigene Identität.“ (65) Zweifellos unterliegt die Diskussion um die Identität derzeit einem starken Wandel, aber wie das bearbeitet wird, erstaunt. Die Autoren begründen ihre Behauptung mit einem Zitat aus Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“ und ziehen den Schluss: „Wie man handelt, entscheidet darüber, wer man ist.“ Das ist eine sehr weitreichende Schlussfolgerung, die einem christlichen Menschenbild widerspricht, auch wenn es für viele zur modernen Auffassung von Identität gehört. Der Mensch wird in der Bibel weder auf seine Taten festgelegt noch seine Identität dadurch bestimmt. Ein Diebstahl zeigt nicht, dass jemand die Identität eines Diebes hat. Wer seine Kinder mit dem SUV zum Kindergarten fährt, hat nicht die Identität eines Umweltfrevlers. Es wäre doch hier wie an anderen Stellen eine Differenzierung notwendig, die leider unterbleibt. Das stellt ein gravierendes Problem dar, weil doch eigentlich das „Gebiet erkundet“ werden sollte, auf dem ethische Ent­schei­dun­gen fallen.

Das alles dient Dietz/Faix dazu, den Wandel bzw. „Transformation“ als Prinzip zu etablieren, weil „wir uns in einer neuen Wandlungsphase“ befinden, in der die Grundlagen „brüchig“ werden und sich „Paradigmen“ „neu konstituieren“ (76). Sie begreifen aber nicht nur unsere „Epoche als Zeit großer Transformationen“ (77), sondern sehen auch Gott als sich wandelnden Gott. Die „Wandlung“ Gottes, in der er Mensch wurde und sein Reich auf der Erde gründete, führt sie zur Aufforderung an jeden Menschen, sich zu wandeln, wie es in Römer 12,2 gefordert werde. Das Prinzip Transformation soll auch auf den Umgang mit biblischen Texten angewendet werden. Die Autoren betonen die „Kontextualität biblischer Ethik“, die „nie ignoriert werden“ dürfe (78).

Am Ende geht es nicht um die Reaktion christlicher Ethik auf große Wandlungsprozesse, sondern:

„Transformation ist die Grundlage der ethischen Wahrnehmung, wie sie die Basis jeder Handlung und des christlichen Charakters ist.“ (77).

Transformation bzw. Wandel ist für Dietz/Faix ohne Begründung selbst zu einem positiven Wert geworden.

Transformation im Sinne der Veränderung wird also für Dietz/Faix zu einer regierenden Erscheinung. Denn weil sich alles wandelt, muss für sie christliche Ethik Ethik im Wandel und Ethik des Wandels sein.

Transformation ist bei Dietz/Faix ohne nähere Begründung selbst zu einem Wert geworden. Mir scheint eine gewisse Parallele zum Begriff „konservativ“ vorzuliegen. Wie er als Wertbegriff benutzt wird, so wollen sie „transformativ“ als Gegenbegriff etablieren. Nun ist aber „konservativ“ kein Wert an sich. Wert hat aus christlicher Perspektive, wenn biblische Maßstäbe unter sich wandelnden Umständen bewahrt werden. Einfach Überkommenes zu bewahren wäre nur (unchristlicher) Konservativismus. Christliche Ethik muss in jedem Fall danach fragen, ob die „alten“ Werte auch tatsächlich biblisch begründete Werte sind. Nun ist Wandel (Transformation) ebenso wenig ein positiver Wert. Die Bibel fordert zu Umkehr und Erneuerung auf, macht damit aber nicht den ständigen Wandel zum heiligen Prinzip, sondern gibt an, wie gute Veränderung aussieht. Ob Anpassung oder Widerstand gegen Wandel richtig ist, muss sich daran entscheiden, wohin die Reise geht. Den Maßstab dafür geben Dietz/Faix allerdings aus der Hand, wenn sie die biblischen Maßstäbe dem Wandel in Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur grundsätzlich nachordnen wollen. Kann es wirklich christlich sein, ein formales Prinzip (Wandel/Transformation) unabhängig von Inhalten in der Ethik zum regierenden Element zu erheben?

2. Vom Selberdenken zum Individualismus

Christliche Ethik ist immer Ethik zum Selberdenken. Die Bibel vermittelt deutlich, dass das Leben so vielfältig und die Herausforderungen so verschieden sind, dass es keinen Katalog für moralisches Handeln in jeder Situation des Lebens geben kann. Jeder Christ steht in der Verantwortung vor Gott und muss nach seinem Gewissen Entscheidungen innerhalb biblischer Vorgaben treffen. Der Mensch kann aus dem Wort Gottes seinen Gott kennenlernen und sein Gewissen an die ethischen Prinzipien und die Gebote der Bibel binden. Die transformative Ethik verschiebt die Perspektive an dieser Stelle deutlich. Die Autoren legen einen individualistischen Zirkel für ihre Ethik an, in der die eigene Biografie das Gottesbild bestimmt, das wiederum die Brille für das Bibelverständnis liefert. Daraus ergibt sich eine Priorisierung auf den Bereich der individuellen moralischen Entscheidung. Das entspricht der gesellschaftlichen Moral, die von jedem Menschen in jeder Situation und beinahe zu jeder Frage eine individuelle moralische Stellungnahme erwartet. Sie ist aber nur scheinbar individuell, denn eine so starke Individualisierung der Ethik ist erstens realitätsfremd, weil kein Mensch in der Lage ist, wirklich eine moralische Entscheidung in jeder Herausforderung selbst zu entwickeln. Zweitens beachtet sie zu wenig, dass die persönliche Gewissensentscheidung in der Mehrzahl der Fälle darin besteht, sich einer ethischen Position der Umgebung anzuschließen. Drittens ist genau das ein wichtiges Element christlicher Ethik: Der Christ lebt auch in ethischer Hinsicht als Teil der Kirche und schließt sich zumeist glaubend ihrem Weg an. Die „Ethik zum Selberdenken“ von Dietz/Faix ist, so sehr der Grundgedanke auch christlich ist, in der vorgelegten Form eine überfordernde Utopie.

Bei dieser Art der Indivi­dua­lisierung wird der Unterschied zwischen allgemeinen ethischen Normen, der individuellen ethischen Heraus­forderung und dem konkreten moralischen Handeln in einer womöglich einmaligen Situation vermischt. Dass aber eine solche Differenzierung insbesondere für eine christliche Ethik wesentlich ist, machen einfachste Beispiele schnell deutlich. Es ist sofort ersichtlich, dass im Sinne der Autoren für die ethische Entscheidung, ein Kleidungsstück im Laden zu bezahlen oder zu stehlen, viele Faktoren eine Rolle spielen können: die Erziehung, die wirtschaftliche Situation, der Freundeskreis, die moralische Haltung, die gesellschaftlichen Umstände, der persönliche Glaube usw. All das führt dazu, dass ein Diebstahl vielleicht eine Versuchung darstellt oder völlig außerhalb des persönlichen Horizontes liegt. Aber diese Überlegungen, die für eine ethische Entscheidung für oder gegen einen Diebstahl eine Rolle spielen, ändern nichts am grundlegenden Wert der Achtung des fremden Eigentums und dem Verbot des Diebstahls. Die Autoren sehen zwar auch leitende christliche Werte wie Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit, die sie in den letzten drei Kapiteln definieren, aber ihre Betonung der Individualität fällt auch dort auf. Sie wollen offenbar verhindern, dass es so etwas wie absolute göttliche Forderungen in ethischen Fragen gibt, denen sich der Mensch gegenüber sieht.

Für Dietz/Faix ist offenbar die „Aufhebung scharfer Gegensätze zwischen Menschen“ ein höherer Wert als die Anwendung biblischer Weisungen.

Was aber kann eine Ethik leisten, die den ständigen Wandel zum Prinzip erhebt und die individualistische Entscheidung über feste ethische Maßstäbe stellt? Dietz/Faix definieren ihre Ethik wiederholt nur als Reflexion auf Moral und Sitte, nicht aber als Vorgabe von Maßstäben. Selbst bei der Reflexion wollen sie „bescheiden“ bleiben und nicht nach den Gründen für die Geltungsansprüche von moralischen Normen und Werten fragen, sondern sie nur verstehen lernen (62). Das soll dann „zu einer Aufhebung scharfer Gegensätze zwischen Menschen“ führen. Das ist natürlich auch ein Wert, der offenbar anderen vorgeordnet wird. Nicht dass das Ziel gegenseitigen Verstehens und friedlicher Verständigung über zum Teil gegensätzliche ethische Überzeugungen schlecht wäre. Eine Ethik, die nur individuelle Reflexion über ethische Herausforderungen und ein friedliches Gespräch darüber sein will, erscheint mir jedoch lebensfremd und auch weit unter dem Anspruch von christlicher Ethik.

3. Was hat die Bibel noch zu sagen?

Thorsten Dietz und Tobias Faix geben genau darüber Rechenschaft, welche Rolle die Bibel in ihrer transformativen Ethik haben soll. Sie sehen einerseits einen tiefen kulturellen Graben zwischen der Bibel und der Gegenwart, wollen andererseits aber für eine christliche Ethik nicht einfach darauf verzichten, Orientierung und grundlegende Prinzipien aus der Bibel abzuleiten. Der evangelikalen Theologie, die die Bibelorientierung in der Ethik zu ihren Grundlagen rechnet, gestehen sie zu, dass sie weder naiv noch unkritisch vorgeht und auch ihre Prinzipien für das Erkennen ethischer Werte gut begründet. Allerdings berücksichtige das den Faktor Kultur bei weitem nicht ausreichend:

„Kultur ist immer viel mehr, als man auf den ersten Blick sieht. Wenn man von einem solchen Kulturbegriff ausgeht, wird schnell klar, dass man in der Bibel überhaupt nicht unterscheiden kann zwischen allgemeingültigen Wahrheiten auf der einen Seite und kulturell geprägten Vorstellungen auf der anderen Seite“ (109).

Dietz/Faix stellen zutreffend dar, dass der Unterschied bei einem solchen Verständnis nicht mehr dort verhandelt wird, wo man sich bei der einen oder anderen kulturell gefärbten Weisung der Bibel fragt, wie sie in der eigenen Kultur gelebt werden kann. So etwas können nur Christen mit „einem schwachen Verständnis von kulturellem Wandel“ wollen, die noch glauben: „Es gibt überzeitliche Konstanzen, die über Jahrtausende hinweg Orientierung ermöglichen“ (109). Die Autoren haben sich jedoch – ohne eingehende Begründung – dagegen entschieden:

„Unser Ansatz einer transformativen Ethik geht von einem starken Verständnis kulturellen Wandels aus“ (109).

Bei einem solchen Verständnis gelten selbst augenscheinliche Konstanzen als nur scheinbar, weil „der Rahmen insgesamt“ sich gewandelt habe.

Für die transformative Ethik gilt der kulturelle Wandel als so grundlegend, dass sämtliche überzeitlichen Konstanzen in Frage gestellt werden.

Damit folgen Dietz/Faix einem in der gegenwärtigen Soziologie geltenden Prinzip, die seit ein paar Jahrzehnten alles zu einer „sozialen Konstruktion“ erklärt hat3, also zu einer von der sozialen Gemeinschaft gebildeten Kulturerscheinung. Aus der Genderdebatte ist deutlich, dass man dabei nicht nur die Rollenbilder von Mannsein und Frausein im Blick hat, sondern das Geschlecht selber, so dass im Extrem auch die Wirklichkeit von biologischem Geschlecht hinterfragt wird, indem man es als Vorstellung oder Interpretation der Kultur ansieht. Dietz/Faix verneinen damit so etwas wie ein kulturübergreifendes Weltethos, obwohl es das allem Anschein nach gibt. Das leiten sie aus ihrer Gesellschaftsanalyse ab und kommen zum Ergebnis: „Nun gibt es Ethik heute nur im Plural.“ (67) Sie verneinen auch, dass man diesen Plural durch Vernunft überwinden könnte. „Moral vernünftig zu begründen und für jeden zwingend nachvollziehbar Urteile abzuleiten, lässt sich nicht einlösen.“ (67) Auch aus den theologischen und philosophischen Diskussionen um das Naturrecht als einer Grundgröße für die Ethik ziehen sie nicht den Schluss auf einen unverrückbaren Wertekanon, sondern sehen hier vor allem einen Ansatz für das Gespräch zwischen christlicher und säkularer Moral in ihrer jeweiligen Pluralität. Weder Natur noch göttliche Offenbarung geben für die transformative Ethik einen verbindlichen Wertekanon vor. Für Dietz/Faix gibt es nur kulturell hervorgebrachte Sitten und Werte, über die eine Ethik „reflektiert“.

Trotzdem nennen Dietz/Faix die Auslegung der Bibel eine „Schlüsselaufgabe“ der christlichen Ethik (73). Sie wollen nicht „bibelvergessen“ sein, wie sie es für die evangelische theologische Ethikdiskussion vor allem im europäischen Raum beobachten. Allerdings wollen sie auch nicht „textlastig“ werden, weil das „auf Kosten der heutigen Wirklichkeit“ ginge (82). Worin besteht dann aber der Faktor Bibel in ihrem eigenen „bibelorientierten Ansatz“? Einerseits wollen sie den Einfluss der Bibel auf die gesellschaftliche Moral wahrnehmen, andererseits aus der „Heilsbotschaft“ der ganzen Bibel ableiten, inwiefern sie „Folgen für unser Handeln“ hat (83). Vor allem aber erwarten sie von der Bibel, dass sie „sensibel für sorgfältige Wirklichkeitswahrnehmung“ mache. Am Ende stehe „eine Ethik mit der Bibel, in der die biblischen Texte uns zu eigener ethischer Urteilsfindung inspirieren“ (83). Diese Kraft zur Inspiration sehen die Autoren nicht darin, dass die Bibel sagt, was wir tun sollen, sondern sie helfe nur „auf der Suche nach den richtigen Wegen“, indem sie verdeutlicht, „worauf man achten muss, um den richtigen Weg zu finden“ (110).

Das Evangelische einer christlichen Ethik darf nicht die Relativierung des biblischen Gebotes sein, sondern die gnädige Vergebung Gottes.

Was die Autoren für „biblizistisch“ und zugleich für „unbliblisch“ halten, wäre aber z.B. die Ableitung eines Ehebruchverbots und die moralische Verurteilung eines Ehe­partners, der außerhalb seiner Ehe sexuelle Befriedigung sucht, mit dem Verweis auf das biblische Gebot „Du sollst nicht ehebrechen!“ Damit würde „der ethische Diskurs durch autoritative Versuche der Selbstdurchsetzung beendet“ (84). Wie sich Dietz/Faix damit in der Tradition der Reformatoren sehen können, die die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der Ethik für entscheidend hielten, ist unverständlich. Hat Jesus seine Ethik nur „monologisch“ entfaltet? Hat er nicht ausreichend die „Perspektive des Anderen“ wahrgenommen? Das Evangelische an einer christlichen Ethik ist – anders als Dietz/Faix nahelegen – nicht die Relativierung der Positionen und die absolute Dialogbereitschaft, sondern ihr Anfang und Ende in der gnädigen Vergebung Gottes für alle, die sein Urteil anerkennen und auf Christus vertrauen.

Die Autoren wollen keine „Bereichsethik“ für konkrete Entscheidungs­findung vorlegen, sondern eine „allgemeine Ethik, die bereichsübergreifend nach der Logik moralischer Orientierung und bereichsübergreifenden Normen fragt.“ (135). Dabei wollen sie die Bibel fruchtbar machen, denn „geschichtlich gelesen enthält die Bibel eine höchst inspirierende Ethik“ (137). Der Weg der Inspiration wirkt trotz des Versuchs einer Rechenschaft ziemlich willkürlich. Sie fordern eine „verantwortliche Schriftauslegung“ für ihre Inspiration, deren Prinzipien aber sehr allgemein bleiben. Die Autoren wollen nur einen „Richtungssinn“ aus den Texten der Bibel ableiten, weil im Hintergrund immer die Überzeugung regiert, dass sich alles so verändert hat (Transformationen), dass die Bibel von Dingen redet, die es heute nicht mehr gibt, und wir wiederum heute mit Herausforderungen zu tun haben, die die Bibel nicht kennt. Das weiten sie so aus, dass es den Staat, ein Rechtssystem, eine Wirtschaftsordnung, Wissenschaft und selbst Ehe und Familie „damals teilweise gar nicht (gab)“ (132). Gerade weil die Bibel in der Entfaltung von Religion im Sinne der rechten Verehrung des einen wahren Gottes so realitätsnah und realitätsgerecht redet, fordert ihre Ethik, dass der Mensch mit rechtem Handeln aus der rechten Gesinnung Gott ehrt – und das mit Weisungen, die in vieler Hinsicht auch heute übertragbar und anwendbar sind. Es erscheint mir die Wiederholung eines ideologischen Narrativs, wenn die Autoren, statt z.B. die Unterschiede familiärer Lebenswelten zwischen Bibel und Gegenwart wahrzunehmen und zu gewichten, bestreiten, dass es eine grundlegende Kontinuität auf dem Feld von Ehe und Familie zu allen Zeiten und in allen Kulturen gibt.

4. Die Bibel nur eine „Story“?

Unter dem Titel „Ethik und biblische Story“ geht es den Autoren dann darum, näher zu bestimmen, was mit dem „Richtungssinn“ biblischer Texte gemeint sein könnte, den sie hier auch ihr „theologisches Grundverständnis der Bibel“ (143-44) nennen. Sie grenzen sich erneut von einer direkten Herleitung ethischer Entscheidungen aus der Bibel ab, sehen sich aber trotzdem „in einer Tradition, die die Bibel als Richtschnur für ethische Entscheidungen sieht, und fühlen uns den großen Bewegungen der Reformation, dem Pietismus oder der Dialektischen Theologie verbunden; ebenso aber auch den kontextuellen Theologien unserer Zeit“ (141).

Zwischen dem Anfang „im Garten Eden“ und dem „großen Finale im neuen Jerusalem“ sehen Dietz/Faix Gott, der „möchte, dass es den Menschen gut geht, dass sie ein erfülltes Leben führen und eine Vision für das gute Leben haben“ (142). In der Bibel sehen sie das „gute Leben im Sinne eines gelingenden Lebens und das gute Handeln im Sinne des moralisch Guten … untrennbar verbunden“ (142). Darauf sei der Mensch auch angelegt, dass er eine existentielle Sehnsucht nach dem gelingenden Leben habe. Und Gott wiederum gehe es in seinem gesamten Handeln – ausdrücklich auch in der Menschwerdung – darum, diese Sehnsucht zu einem guten Ziel zu bringen. Dieses „Narrativ“ der Bibel, das Dietz/Faix als Teil des großen gesellschaftlichen Narrativs mit Geschichten, Mythen, Märchen, Sagen und Romanen sehen, soll Orientierung auch in den aktuellen Herausforderungen bieten, indem „wir mit unserem persönlichen Narrativ – also unserer Biografie – in diesem großen Narrativ Gottes leben“ (144).

Wenn die Autoren die deutende Geschichts­erzählung der Bibel nur als „Narrativ“ oder als „Story“ auffassen, berufen sie sich auf den englischen Neutestamentler N.T. Wright.4 Die Rede vom „Narrativ“ transportiert eine Distanzierung zu geschichtlichen Ereignissen oder Tatsachen, selbst wenn man wie Dietz/Faix das biblische „Narrativ“ bejaht. Es geht nicht um die Ereignisse, sondern um die Erzählungen, die geformt wurden. Wer nicht mehr von seinem Leben spricht, sondern von „seinem persönlichen Narrativ“, der drückt aus, dass er eine Distanz zwischen der Wirklichkeit seines Lebens und dem Bild bzw. der Erzählung, die er daraus gebildet hat, wahrnimmt. Zugleich scheint er betrachtend und urteilend darüber zu stehen. Wer in dieser Weise die biblische Erzählung zum „Narrativ“ erklärt, distanziert sie vom Ereignis, das sie berichtet, und stellt sie relativierend in eine Reihe mit anderen möglichen Wirklichkeitsdeutungen. Während also die Bibel gedeutete geschichtliche Ereignisse erzählt und daran Gottes rettendes Handeln zum Heil für die Menschen entfaltet, in der das Moralische im Sinne der Forderung und der Glaubensfrucht eine Dimension darstellt, betonen Dietz/Faix „die große Erzählung Gottes …(,) die uns als moralisches und sinnstiftendes Narrativ gegeben ist“ (145). Sie meinen sogar, dass die biblischen Erzählungen im Sinne des Narrativs vor allem einem ethischen Zweck dienen, weil sie viel stärker als Gebote und Verbote das Verhalten von Menschen ändern könnten.

Mit der Erhebung des „gelin­genden Lebens“ zum Heils­ziel wird die Erlösung der Schöp­fungs­theologie und Anthro­po­lo­gie nicht nur untergeordnet, sondern letztlich in sie integriert. Auch damit wird die Bibel praktisch auf den Kopf gestellt. Während sie die Erlösung des Menschen durch Gottes Handeln in der Geschichte der Welt mit Fokus auf Israel erzählt, soll es nach Dietz/Faix zuerst um das geschöpflich-leibliche Wohl gehen. Die Ethik der Bibel ist allerdings durchweg zuerst theologische Ethik, die auf die Beziehung mit Gott ausgerichtet ist. Sie enthält zwar ein allgemeines Ethos, aber schon die Tatsache, dass die erste Tafel der 10 Gebote den Glauben und die alleinige Verehrung des Gottes Israels fordert, zeigt ihre eigentliche Zielrichtung. Sie ergeht als Forderung im Rahmen des Weges zur Errettung an den Menschen und soll dann das Leben der Glaubenden normieren. Die Gebote richten sich ausdrücklich an diejenigen, mit denen Gott einen Bund geschlossen hat. Das erste Gebot galt eigentlich immer als unaufgebbarer Schlüssel zur biblischen Ethik. Dietz/Faix aber lesen zuerst eine Ethik des gelingenden Lebens, die einen Weg zur Erfüllung menschlicher Sehnsüchte „nach Schönheit, nach Beziehungen, nach Kreativität, nach Sexualität und nach Gott“ (144) verspricht. Die Unterordnung der Erlösung und die Ethisierung der biblischen Botschaft gehen also Hand in Hand. Anders als in der Bibel geht es konsequenterweise in ihrem „4. Akt der Story“, wenn die Menschwerdung von Jesus und die Erlösung „erzählt“ wird, nicht um Sünde, Tod und die Feindschaft zwischen Gott und Menschen, die Jesus am Kreuz überwindet.

Das Leiden und Sterben Jesu wird zum vorbildlichen Akt der Solidarität mit den Leidenden. Es bildet nur noch den „Rahmen“ für das Eigentliche: eine Ethik, die die Welt verändert.

„Das Leiden und Sterben Jesu am Kreuz ist ein Zeichen der göttlichen Selbsthingabe. Es ist ein Akt der Solidarität mit den Leidenden und Ausgestoßenen. Am Kreuz identifiziert Christus sich mit den unter Gewalt Leidenden“ (153).

Das sind für Dietz/Faix auch „die zentralen Themen der [gesamten] Story“. Aus der Erlösung wird ein „Rahmen“ für die Ethik, die zum eigentlichen Ziel der Errettung erklärt wird. „Das angebrochene Reich Gottes ist dabei der theologische Rahmen einer transformativen Ethik im fünften Akt.“ (154) Jetzt ist Christus Vorbild und Maßstab für christliches Verhalten. Der Höhepunkt ist also nicht die vollbrachte Erlösung am Kreuz, die der Mensch im Glauben annimmt, sondern die Ethik des christlichen Verhaltens. Damit steht ein „anderes Evangelium“ (Gal 1,6-9) im Raum.

Es ist daher folgerichtig, dass die Autoren N.T. Wright auch dort folgen, wo er den Menschen in der Rolle sieht, die „Story“ Gottes weiterzuschreiben. Der letzte Akt des von Gott konzipierten „Theaterstücks“ sei noch nicht geschrieben und die Menschen sollten die ersten Akte in der Bibel nun so genau studieren, dass sie sich „sensibel“ einfühlend den letzten „Akt selbst ausarbeiten“ (147). Darum ist das Ziel dann auch, „die biografischen und gesellschaftlichen Veränderungsgeschichten“ der Gegenwart wahrzunehmen und in der Fortführung des „Richtungssinns“ von „Gottes Story“ „selbst transformativ zu wirken“ (156).

Dietz/Faix wählen „das Exodus-Narrativ“ als zielprägend aus. „Der Exodus wird zum Modell für das heilvolle Handeln Gottes an den Menschen, das alle Lebensbereiche betrifft.“ (160). Die Autoren meinen wirklich „alle“ Lebensbereiche, denn sie finden im Exodus politische, soziale, ökonomische, kulturelle und rechtliche Befreiung. Darüber hinaus sehen sie auch die „ethische Freiheit“ in den 10 Geboten und erkennen „ökologische Dimensionen“, weil es irgendwie „um die Verhältnisbestimmung zwischen Mensch, Gesellschaft und Natur“ geht, wenn von den Plagen als Naturereignissen erzählt wird und das verheißene Zielland als „Land, in dem Milch und Honig fließt“ charakterisiert wird. Es mag dann nicht verwundern, dass das, was beim Exodus ein Zentralthema ist, nämlich das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk (z.B. 2Mo 6,7; ausführlich 3Mo 26), beinahe zu einer Fußnote wird.

„Das Exodusereignis ist also weit mehr als eine historische Begebenheit, sondern ein theologisches und gesellschaftliches Zentralsymbol, das sich durch die ganze Bibel zieht.“ (159).

Es erscheint mir ein Widerspruch zu sein, dass Dietz/Faix einerseits die Bibel zusammen mit ihrer Auslegung für einen veralteten Wanderatlas halten (23-24), dann aber, nachdem sie ihn – um im Bild zu bleiben – aus so großem Abstand betrachten, dass nur noch Hauptstraßen grob erkennbar sind, der Weg von den biblischen Motiven zu aktuellem ethischem Han­deln kurz zu sein scheint. Sie erkennen im AT eine „Sozialgesetzgebung“, aus der wir lernen sollen: „…es geht um das Leben und Überleben des:der Einzelnen und um die Frage nach einer sozialen Inklusion“ (162.) Ohne Rücksicht auf den biblischen Zusammenhang folgern sie aus Jeremia 29,7: „Es scheint zur Sendung der Glaubenden zu gehören, sich über Familie und Glaubensgemeinschaft hinaus für die Realisierung von Shalom in der Gesellschaft einzusetzen.“ (164) Es bleibt der Eindruck, dass dieses System der Bibelanwendung in der Ethik letztlich willkürlich ist. Allerdings steckt dahinter vielleicht auch ein hermeneutischer Ansatz, der es erlaubt, wie in der dekonstruktivistischen Philosophie Texte in einem freien Spiel der Gedanken des Lesenden „herrschaftsfrei“, d.h. ohne vorgegebene Grenzen, zu deuten, mindestens wenn es um die Anwendung in der Ethik geht.

5. Auf der Suche nach der ethischen Entscheidung

Die Bibel erhebt überall den Anspruch, wahre Rede über Gottes Wesen und Absichten zu sein. Sie hat das Ziel, die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen im Glauben an Jesus Christus herzustellen und bis in Ewigkeit weiterzuführen. Wohl und Wehe im Leben des Menschen haben dabei eine Aufgabe, allerdings eine untergeordnete. Das Heil findet der Mensch nicht in einem „gelingenden“ Leben. Denn damit ist die Gemeinschaft mit Gott noch nicht hergestellt. Ist aber die Versöhnung mit Gott da, dann ist auch die Macht des Todes überwunden. Die Tendenz der transformativen Ethik ist eine andere. Die Autoren wollen das Spannungsfeld des NT zwischen irdischer Verwirklichung des Heils und ewiger Erfüllung nicht zu einer Seite hin auflösen, auch wenn sie verständlicherweise die gegenwärtige ethische Herausforderung für den Glaubenden betonen. Die Gewichtung tendiert letztlich aber doch zu einem präsentischen Reich Gottes. Das zeigt sich meines Erachtens auch an der Entscheidung, die biblische Ethik nicht primär als Ethik der Glaubenden im Sinne von Gottes „Ich bin heilig und ihr sollt auch heilig sein!“ zu deuten und in dieser Linie die Ethik der Paulusbriefe als konsequente Zuspitzung auf die Gemeinde der Glaubenden zu sehen (185-86).

Dementsprechend erkennen sie die Bergpredigt nicht als Jünger­ethik, die Jesus vor der Welt entfaltet. „Die Bergpredigt ist keine idealistische, sondern eine transformative Lehre und ein realistisches Aktionsprogramm für Kirchen und Gemeinden, die sich in einer Reich-Gottes-Haltung mitten in dieser Welt zeigt.“ (178) Dabei sehen sie folgenden Zusammenhang: Die Bergpredigt „beschreibt die transformative Wirkung von Gottes Kraft auf und in dieser Welt“. Sie sei in dieser Hinsicht „Indikativ des Glaubens“ und „die ganzheitliche Botschaft des Evangeliums“. Gemeint ist, dass der Jünger so ist und lebt, wie es die Bergpredigt fordert und damit die Gesellschaft erneuert. Das ist dann auch das „Evangelium“ und nicht die Erlösung durch den Tod Jesu als ewige Errettung. Folgt man noch so weit, dass Jesus nicht die „bessere Gerechtigkeit“ von den Jüngern fordert, sondern beschreibt, wie sie als Frucht des Glaubens aussieht, entsteht der Bruch spätestens dann, wenn nun die Gesellschaft hin zu dieser Gerechtigkeit „transformiert“ werden kann, ohne sie zum Glauben zu rufen und auf die daraus folgende Frucht zu hoffen. Bei Dietz/Faix wird die von Christen gelebte Ethik zum Heil für die Welt. Und ihr Heil scheint nun im irdischen Wohl zu bestehen, das die Autoren im biblischen „Leben“ und „Shalom“ finden. Im NT findet sich allerdings ein solcher Auftrag offenbar nicht, auch wenn den Christen zugesagt wird, dass sie als Licht und Salz für die Welt wirken. Ihr Auftrag ist aber die Verkündigung als Ruf zum Glauben an Christus und die Bitte „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Jesus und die Apostel bereiten die Jünger darauf vor, dass sie für ein gutes Leben meistens Verachtung und sogar Verfolgung ernten können. Es ist aber nicht der Weg zur Erneuerung der Welt.

Mit ihrem „dritten Weg“ machen sich Dietz/Faix die Bibel gefügig, so dass sie alles unterstützen kann, was der Mensch will, nachdem sie kulturellen Entwicklungen und „sozial­wissen­schaft­lichen Evidenzen“ nachgeordnet wurde.

Wie sieht nun der Weg der Entscheidungsfindung in der transformativen Ethik aus, der unter dem Titel „Ethisches Urteil und die Bibel“ entfaltet wird? Die Autoren wollen einen „dritten Weg“ gehen. Sie sehen, dass auf der einen Seite „der neuzeitliche Umbruch so stark betont (wird), dass die Bibel als Quelle ethischer Orientierung immer schon als veraltet gilt“. Auf der anderen Seite werde an der „Autorität der Bibel … so festgehalten, dass die Ausrichtung an ihren Normen mit einer Fundamentalkritik an der Neuzeit insgesamt verbunden“ werde. Beides wollen Dietz/Faix nicht, sondern lieber „die inspirierende Kraft der biblischen Texte innerhalb der heutigen Ethikdebatten zur Geltung bringen“ (206).

Dieser „dritte Weg“ ist dann erstens davon bestimmt, dass die Autoren „biblische Normen nicht nur als zeitlose Maßstäbe“ auffassen, „sondern ihnen eine Entwicklungstendenz“ unterstellen (204). Die in der Bibel wahrgenommene „Entwicklungstendenz“ halten sie jedoch nicht für abgeschlossen, sondern wollen diese Tendenz bis in die Gegenwart weiterzeichnen. Sie erkennen in der Bibel z.B. eine zunehmende Anerkennung von Frauen und führen sie über die Beschränkungen im Neuen Testament weiter bis zur völligen Gleichberechtigung der Gegenwart. Das aber reicht Dietz/Faix nicht aus, denn zum Beispiel bei der Sexualethik, insbesondere der Wertung homosexueller Praktiken, lassen sich die klaren Richtungstendenzen nicht erkennen, die zur angestrebten ethischen Gleichwertigkeit von Homo- und Heterosexualität führen würde. Dieses „Problem“ wollen sie zweitens dadurch lösen, dass sie „moderne kulturelle Entwicklungen und natur- bzw. sozialwissenschaftliche Evidenzen“ biblischen Kriterien vorordnen, denn eine „Nachordnung wird dem Wesen von Ethik nicht gerecht“ (204). „Die Bibel kann nicht dazu gebraucht werden, die heutige Wirklichkeit festlegen zu wollen.“ (205) Nun sollen drittens als bestimmender Faktor für die Fruchtbarmachung der Bibel die „ethischen Prinzipien wie Liebe, Freiheit oder Gerechtigkeit“ dienen, denen „in den biblischen Texten überragende Bedeutung zugesprochen“ werde. Allerdings können auch sie nicht so bleiben, wie sie in der Bibel bestimmt werden, sondern auch diese Prinzipien erfahren eine Anpassung „im Horizont der modernen Ethik“ und den gesellschaftlichen Debatten (205).

Daraus wird deutlich, dass Dietz/Faix die Bibel nicht als echte Autorität in ethischen Entscheidungen stehen lassen können. Sie wollen „Inspiration“, unterstellen die Bibel aber so willkürlichen fremden Instanzen, dass von einer echten Wegweisung kaum die Rede sein kann. Schon die Bestimmung einer klaren Entwicklung in der Ethik innerhalb der Bibel ist bei kaum einer Frage unstrittig, sieht man einmal davon ab, dass die Duldung der Polygamie im NT für Christen kaum mehr in Frage kommt. Wer die moderne Soziologie vorordnet, der wird schon hier kaum „Evidenzen“ finden, die Wegweisung sein könnten. Wenn selbst die Grundprinzipien „Liebe, Freiheit oder Gerechtigkeit“ nicht mehr von biblischen Bestimmungen gefüllt sind, sondern z.B. der Freiheitsbegriff moderner gesellschaftlicher Debatten Maßstab ist, dann ist die Bibel tatsächlich keine Quelle ethischer Orientierung mehr. Sie wird von Dietz/Faix noch als Stimme im Chor ins Spiel gebracht. Allerdings hat sie sich nach den Tonleitern der Moderne zu richten. Eine eigene Melodie oder sogar ein ganz eigenes Lied kann sie im System der transformativen Ethik nicht singen.

Das zeigen sie auch am Beispiel der biblischen Aufforderungen zu körperlichen Strafen in der Erziehung von Kindern. Die halten sie für überholt durch eine „jesuanische Ethik der Gewaltlosigkeit“ und die „Lerngeschichte“, die gezeigt habe, „wie schädlich auch leichte Gewalt für Kinder sein kann“. Zu Recht weisen sie darauf hin, dass Christen sich in dieser Sache den staatlichen Gesetzen unterstellen müssen (215-216). Es unterbleibt aber völlig das kritische Element, das Dietz/Faix als „Fundamentalkritik an der Neuzeit“ disqualifiziert haben (206), gegenüber der modernen Pädagogik. Die Kritik wird nur an der Bibel bzw. an Christen geübt, die körperliche Strafen in festen Grenzen für sinnvoll halten. Kein Wort der Kritik ist zu hören an einer modernen Pädagogik, die sich lange einem Methodenlernen ohne Wertebindung verschrieben hatte und heute mit einem moralistischen Furor daherkommt, der die Freiheit von Lehre und Lernen gefährdet. Auch an diesem Beispiel zeigen Dietz/Faix, dass in der transformativen Ethik die Bibel keine prägende oder korrigierende Kraft sein kann und es nicht sein darf. Völlig außer Acht bleibt im konkreten Beispiel auch, dass jede Erziehung Formen der „Rute“, also strafende und lenkende Maßnahmen, benötigt, die spürbar sein müssen, auch wenn sie auf körperliche Strafen in Form von Schlägen verzichtet. Die sogenannte antiautoritäre Erziehung hat sich als völlig realitätsfremd erwiesen. Die Bibel aber ist auch nach mehreren tausend Jahren in ihrem Bild von Erziehung realitätsnah, ohne dass sie zum Erziehungsbuch gemacht werden darf.

Angesichts dessen überrascht es nicht, dass sich die Anwendung der grundlegenden Prin­zipien Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit weitgehend auf den Wegen eines freundlichen Mainstreams bewegen. Die lehrbuchmäßigen Entfaltungen, die zu den einzelnen Themen biblische und geschichtliche Überblicke bieten, sind weithin hilfreich. Besonders im Freiheits- und im Gerechtigkeitskapitel werden geschichtliche Entwicklungen der gesellschaftlichen und christlichen Diskussion kenntnisreich dargelegt. Allerdings wollen die Autoren dabei nur das „Erbe aufgreifen“ (251), es aber vor allem in Beziehung zur säkularen Ethik setzen. Dabei kommt im Liebeskapitel z.B. eine so seltsame Schlussfolgerung zustande: „Empathie ist die Basis jedes echten Verstehens“ (253). Sie ist unbestreitbar ein Element des Verstehens, aber wird bei Dietz/Faix geleitet von säkularer Ethik derart überhöht, dass sie die „Erzählungen der Bibel“ zu einer „Schule der Empathie“ machen (253). Sie warnen „christliche Liebestätigkeit“ davor, ein „einseitiges Gefälle von Helfenden und Hilfsbedürftigen festzuschreiben“, aber zeigen nicht, wie die Liebe Christi das ohne Gleichmacherei zu Wege bringt, sondern versteigen sich dazu, dass Gott ein „Verhältnis der Gegen­seitigkeit“ hergestellt hätte, indem er Menschen als seine „Mitarbeiter:in“ und „Freund:in“ bezeichnete (254). Am Ende soll das zu einer Nächstenliebe führen, die jeden Menschen als Bruder oder Schwester anerkennt und alle Menschen integriert.

Im Blick auf die Freiheit stellen Dietz/Faix richtig fest (308):

„Der Freiheitsgedanke der Moderne ist nicht identisch mit der evangelischen Freiheit des Neuen Testaments; diese ist eine durch das Evangelium gewirkte Freiheit des Glaubens.“

Allerdings wollen sie die moderne Freiheit „verstehen als Folge ihrer geschichtlichen Entfaltung“: moderne Freiheit als höhere Evolutionsstufe evangelischer Freiheit. Was das bedeuten soll, wird an einer Stelle konkret: Es darf keine Ethik geben, die eine „Vorgabe fertiger ethischer Urteile“ macht, sondern nur „die Befähigung zu eigener Urteilskraft“ (310). Daraus schließen die Autoren (312):

„Defizitär ist jede christliche Kultur, in der Freiheit im Sinne der Eigenverantwortung und der Selbstbestimmung in moralischen Fragen keinen nennenswerten Raum findet.“

Es scheint so zu sein, dass „Selberdenken“ bei Dietz/Faix nur dann vorliegt, wenn der Mensch sich selber erfindet. Aber kann das Buch so wirklich zum Selberdenken in ethischen Fragen inspirieren? Oder wird nicht diese Überforderung letztlich zu einer tyrannischen Forderung, die den Menschen dazu verführt, sich von allem Vorgegebenen abzusetzen, um wenigstens den Anschein der eigenen Urteilskraft aufrechtzuerhalten und sich dann doch vorgegebenen Wegen anzuschließen, wenn diese nur eine bequeme Mehrheit hinter sich haben? Seit der Reformation gab es immer wieder Mahner, die wie Johann Georg Hamann darauf aufmerksam gemacht haben, dass jeder Antinomismus beinahe unweigerlich in einem neuen Nomismus endet. Die scheinbar so freie transformative Ethik geht mit ihrer Form eines Antinomismus genau diesen Weg.

Christliche Freiheit ist von der Bibel her das eigenverant­wort­lich Gehen auf Gottes Wegen und nicht die Erfindung der eigenen.

Die Bibel zeichnet die Freiheit des Men­schen eher als ein Gehen auf einem vorgegebenen Weg, den Gott als den richtigen bestimmt hat. Diesen vorbestimmten Weg aber darf der Mensch aus Liebe zu Gott wählen. Die Freiheit bei Gott liegt dann in der Erfahrung, dass die meisten und schönsten Möglichkeiten eines individuellen Lebens in der Bindung an Gottes Weg gefunden werden. Warum soll es das Ende der Freiheit sein, wenn fertige ethische Urteile gut begründet und christliche Sitten darauf gegründet werden? Gott hat es dem Menschen doch geschenkt, dass er sich immer noch damit auseinandersetzen darf, die Urteile prüfend nachvollziehen und die Sitten entsprechend anpassen. Insofern sind die abschließenden acht Schritte (369-82) zu einer guten ethischen Entscheidung zwar interessant, aber doch in großen Teilen weit entfernt von tatsächlicher ethischer Entscheidungsfindung. Sie repräsentieren eher ein Schema für ein theologisch-philosophisches Seminar oder eine Ethikkommission als den echten Weg, wie ethische Entscheidungen persönlich, gemeindlich oder auch gesellschaftlich getroffen werden.

Fazit

Die vorliegende Ethik ist ein Paradebeispiel für den Weg des Post-Evangelikalismus. Positiv ist der Wille zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und den eigenen Werten. Positiv ist das Ablegen von Scheuklappen, wenn es um die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit geht. Positiv ist auch, dass man sich von der Bibel nicht sang- und klanglos verabschieden will. Allerdings wird jedes Plus auf der einen Seite der Gewinn- und Verlust-Rechnung durch ein viel größeres Minus auf der anderen Seite völlig eliminiert. Die kritische Auseinandersetzung ist nämlich eine klare Distanzierung, bei der auch die evangelikalen Grundwerte verneint werden. Mit der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird diese zum Maßstab gemacht. Jede kritische Distanz geht mit der Vermeidung von undifferenzierter Verwerfung verloren. Die Orientierung an der Bibel lässt die Bibel zwar noch reden, aber dabei wird alles so durch ein Sieb gepresst, dass die Stimme der Bibel im Ergebnis nichts anderes sagen kann als die Stimme des spätmodernen Mainstream.

Als Ergebnis liegt eine Ethik vor, die sich von christlichen Grundlagen verabschiedet hat und nur noch einen christlichen Anstrich vorweisen kann. Allerdings will die transformative Ethik im Kern selbst Evangelium für die Welt sein und jedem Menschen ein „gelingendes Leben“ ermöglichen, worin sie sich auffällig mit dem Mainstream deckt. Damit wird auch noch ein „anderes Evangelium“, das dem biblischem direkt entgegensteht, verkündet. Dieses „Evangelium“, das die Freiheit des Menschen in seinem Individualismus achten will, ist aber gar keine „gute Botschaft“. Im Kern stellt es die unerfüllbare Forderung auf, dass jeder in allem eine „freie“, selbst erarbeitete ethische Entscheidung treffen soll. Sämtliche „Hilfen“ der Autoren bleiben so im Ungefähren, dass sie für die echte ethische Herausforderung m.E. eher eine Last als eine Wegweisung sind.


  1. Thorsten Dietz arbeitet seit Herbst 2022 als Referent der Erwachsenenbildung in der Reformierten Kirche im Kanton Zürich 

  2. Gunda Schneider-Flume hat das entstehende Problem klug hinterfragt, als sie die moderne „Forderung nach dem gelingenden Leben“ als „Tyrannei“ bezeichnete. Leben ist kostbar: Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens. Vandenhoeck & Rupprecht, 2002. 

  3. Vgl. Ian Hacking, Was heißt „soziale Konstruktion“? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt: Fischer, 1999. 

  4. Aber der hat den Begriff nicht erfunden. Er stammt vom postmodernen Philosophen Jean-François Lyotard (1924–1998), der zuerst 1979 beschrieben hat, wie in einer Gesellschaft tragende Ideen (er bezog sich auf Kant und Hegel) ihre sinnstiftende Kraft verloren haben. Durch die Übersetzung ins Englische wurde das Substantiv „Narrative“ und „Grand Narrative“ gebildet, die dann zuerst in der Soziologie in Deutschland Einzug hielten und seit rund 15 Jahren weit verbreitet sind.