Die Reihe „Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen“ der Evangelischen Verlagsanstalt zeugt insgesamt in den meisten seiner Bände von bester Qualität. Diesem Urteil steht auch der vorliegende Band zum „Christentum in Lateinamerika“ in nichts nach. Hans-Jürgen Prien widmet sich akribisch und dennoch doch gut verständlich der über 500 Jahre andauernden Christentumsgeschichte dieses „Subkontinents, die vielfältiger kaum denkbar ist“ (S. 5). Man könnte meinen, dass solch ein Unterfangen auf kaum 450 Seiten eigentlich nicht gelingen kann, müssen doch unterschiedlichste Entwicklungen der Kolonialzeit in den einzelnen Ländern wie deren kulturelle und religiöse Besonderheiten und Weiterentwicklungen berücksichtigt und mit ins Kalkül gezogen werden. Doch summa summarum muss man Prien ausdrücklich attestieren, dass er seine Aufgabenstellung nicht nur mit Bravour gemeistert hat, sondern auch, dass er damit eine äußerst fundierte, kenntnisreiche und lesenswerte Studie vorgelegt hat.
Nicht so gelungen erscheint das Inhaltsverzeichnis, das zwar nachvollziehbar in zwei Hauptkapitel eingeteilt ist, in „Kapitel 1: Die Kolonialzeit“ (S. 65-244) und in „Kapitel 2: Lateinamerika im Zeichen der Unabhängigkeit“ (S. 245-437), das aber durch die Feingliederung in A, B, C und 1., 1.1., 1.2., 2., 2.1. 2.2. usw. an (optischer) Übersichtlichkeit verliert (S. 9-12). Bevor überhaupt in der Untersuchung substantiell Informationen gegeben werden, liefert der Autor zunächst wichtige Daten, die – mit Ausnahme der Abkürzungen – gewöhnlich am Schluss einer Monographie erscheinen, wie z.B. Verzeichnisse über Abkürzungen, Zeitschriften und Jahrbücher (S. 13-16), ein Glossar (S. 17-22) und ein umfangreiches Literaturverzeichnis (S. 23-64). Nützlich sind die beiden einfach gehaltenen Südamerika-Karten hinter dem vorderen und vor dem hinteren Buchdeckel, die historische, politische und gesellschaftliche Veränderungen im 19. bzw. im 16. Jahrhundert graphisch andeuten. Ein Personenregister schließt das Buch ab (S. 439-448).
Um das Christentum in Südamerika von seinen Anfängen her verstehen zu können, beginnt Prien mit der klugen Entscheidung, der Leserschaft zunächst einmal den europäischen Hintergrund der „Ausgangsbedingungen“ der spanischen Eroberung und Kolonialisierung Amerikas“ nahe zu bringen (S. 65-102). Es ist ernüchternd und beeindruckend zugleich, den Weg der Missionierung südamerikanischer Volksgruppen und Nationen im Zuge der Kolonialisierung ansatzweise nachvollziehen zu lernen, insbesondere wenn man dabei die zugrunde gelegten „Missionsstrategien“ und die „Methoden zur Missionierung unterworfener Völker“ (S. 123-133) kennen lernt oder erschüttert bzw. staunend erfährt, dass es in Südamerika so etwas wie eine „Kolonialethik“ gegeben hat (S. 136-158), die durchaus – z.B. im Sinne der Bergpredigt – für ein konsequentes Christentum eintrat, das Ende des 16. Jahrhunderts bereits Sklaverei geißelte und unter Sklaven „das Bewusstsein ihrer menschlichen Würde zu wecken“ bemüht war (S. 155-156), die aber dann doch durch die Mehrheit der Priester unterstützt betonte, dass Negersklaverei zu befürworten sei, weil es „ohne Sklaverei … kein Brasilien [gebe], und weil es Brasilien geben muss, so [müsse] es Sklaverei geben“ (S. 156). Getaufte Sklaven wurden systematisch von der Kommunion ausgeschlossen. In gut gegliederten Einzelabschnitten lernen wir verstehen, wie sich in unterschiedlichen Epochen der Kirchenaufbau, die Inquisition und die ‚Ausrottung des Götzendienstes’ sowie der Volkskatholizismus bis in die Aufklärungszeit hinein darstellte und gebärdete (S. 158-244).
Mit dem 2. Kapitel (ab S. 245f.) wird in drei größeren Themeneinheiten die christliche Kirche (auch als politischer Machtfaktor) angesichts historischer und politischer Veränderungen einzelner Staaten Südamerikas skizziert. Zunächst werden die Kämpfe von nationalen Bewegungen zwischen Konservativen und Liberalen vorgestellt (S. 245-314). Bemerkenswert ist dabei, dass erst in dieser Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts der Protestantismus für Südamerika eine Rolle zu spielen beginnt. „Die Einwanderung von Protestanten und der Beginn der protestantischen Mission wurde in Lateinamerika nicht nur durch die Trennung von Kirche und Staat, sondern auch durch die Gewährung von Toleranz und Religionsfreiheit ermöglicht bzw. gefördert, die von Land zu Land in unterschiedlichem Maße, zumeist bei Beibehaltung des Katholizismus als Staatsreligion, gewährt wurden. (…) [Dies, zudem die Einwanderung europäischer Protestanten] ermöglichte … den Missionsprotestantismus“ (S. 310).
Die „Schlussphase des konfessionellen Zeitalters“ ist in Lateinamerika durch einen Kampf der römisch-katholischen Kirche um gesellschaftlich bleibenden Einfluss geprägt, Hand in Hand mit der Abwehr des sich ausbreitenden Protestantismus (S. 314-369), um dann schließlich im „Zeitalter des Ökumenismus“ neuen Herausforderungen und Krisen bei der Entwicklung der Nationalstaaten begegnen zu müssen (S. 369-437).
Hans-Jürgen Prien. Das Christentum in Lateinamerika. Kirchengeschichte in Einzeldarestellungen IV/6. Leipzig: EVA 2007. 448 S. Hardcover: 48,00 €. ISBN 978-3-374-02483-4
Zu bedauern ist, dass Prien – dann insbesondere im Blick auf die Ausbreitung des Protestantismus in neuerer Zeit – abwertend von missionarischen Kirchen spricht, die er als „mehr oder weniger fundamentalistisch ausgerichtete Kirchen“ abqualifiziert, ohne genau zu sagen, was er mit diesem Urteil eigentlich aussagen will oder wie er den Begriff „fundamentalistisch“ definiert (S. 427). Auch betrachtet er die Bekehrungsbemühungen der evangelikalen Missionswerke in Lateinamerika als sehr negativ und wertet pauschalisierend ohne missionstheologischen Sachverstand, dass durch solche Bekehrungs- und Kirchenwachstumsbemühungen unter den Indianern „rücksichtslos ethnische Strukturen zerstört“ würden und „Zwietracht gesät“ werde (S. 428). Solche und ähnliche unqualifizierten Wertungen stehen einem seriösen Historiker nicht gut zu Gesicht und sollten vermieden werden. Sie trüben den ansonsten positiven Gesamteindruck, den diese Studie hinterlässt.
Dieses Buch ist jedem Christen zur Lektüre empfohlen, der als Missionar oder beruflich als Christ für kürzere oder längere Zeit nach Südamerika gehen und dort leben will. Solche historischen Hintergründe muss ein Christ in diesen Ländern einfach gut kennen, einmal um Kulturen und Gesellschaften in der Reaktion auf das Christentum begreifen zu können und auch, um oft gravierende Fehlentwicklungen vermeiden zu lernen. Dabei geht es nicht nur um Fehler, die in der Kolonialzeit oder der Gegenwart unter römisch-katholischer Fahne gemacht wurden, sondern auch um die, die in der Neuzeit unter protestantischer Flagge geschehen sind. Man muss bei Initiativen und Bewegungen durchaus zwischen Spreu und Weizen scheiden, wie ein sich teilweise verheerend auswirkendes und eskalierendes „christliches Schwärmertum“ in Lateinamerika schmerzlich in Erinnerung ruft.