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Korruption oder sozialverträglicher Lebensstil? Wie gehen wir miteinander um?

Warum gibt es Streit und Kriege? Das fragen sich viele. Korruption ist ein uraltes und global verbreitetes menschliches und gesellschaftliches Problem. Neu ist, dass infolge besserer Kontrolle durch Politik, Medien, NGOs und Zivilcourage („Whistleblower“) zunehmend die Machenschaften auch bisher geachteter und führender Persönlichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens aufgedeckt und an die Öffentlichkeit gebracht werden. Korruptheit bedeutet, juristisch ausgedrückt, dass der Mensch dazu neigt, moralisch nicht gerechtfertigte Handlungen zu begehen oder andere dazu zu bewegen – um des eigenen Vorteils willen. Die Wurzel der Korruption ist Habgier – nach Geld und Besitz, Ehre und Macht, Einfluss und noch mehr Macht; die Mittel dazu sind Rechtsbeugung, Despotismus und Ausbeutung von Mensch und Tier, ja der Natur überhaupt, statt sie als Schöpfung Gottes zu bewahren. Gewaltausübung infolge Habgier der Herrschenden führt zu militärischen Kämpfen um Territorien und Ressourcen und zu zivilen Verdrängungs- und Vernichtungsstrategien neoliberaler Wirtschaftsakteure um die „Markt“-Beherrschung.

Habgier gebiert Korruptheit; Korruptheit gebiert eine weitere Untugend in der moralischen Verfallskaskade: die Lüge. Denn Korruption will verheimlicht, verleugnet und vertuscht werden, die Mittel dazu reichen von persönlichen Alltagslügen bis zur staatlich inszenierten „’Technik’ des politischen Lügens“.

„Warum gibt es Kämpfe und Kriege? Woher kommen die Streitigkeiten unter uns?“ fragt der Verfasser des neutestamentlichen Jakobusbriefes – und gibt gleich selber die Antwort darauf:

„Doch wohl daher, dass eure Lüste einen Kampf in euren Gliedern führen? Ihr seid begehrlich – und gelangt doch nicht zum Besitz; ihr mordet (= hasst auf den Tod) und seid neidisch, ohne doch eure Wünsche erfüllt zu sehen; ihr lebt in Kampf und Streitigkeiten und gelangt doch nicht zum Besitz, weil ihr nicht betet; ihr betet wohl, empfangt aber nichts, weil ihr in böser Absicht betet, nämlich um (das Erbetene) in euren Lüsten wieder durchzubringen.“ (Jak 4,1-3, ÜS nach Hermann Menge)

RIVALITÄT VON ANBEGINN

Dieses verderbliche Muster zerstörerischer mitmenschlicher Beziehungen zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte bis in unsere Tage. Da ist gleich an den Anfang zu denken, als Kain seinen eigenen Bruder Abel aus Neid aus dem Weg räumte in dem Irrglauben, dieser würde der Gunst Gottes ihm gegenüber und dem eigenen Segen im Weg stehen. Auch in der Familie Abrahams setzte sich diese Zielverfehlung unserer eigentlichen Schöpfungsbestimmung fort („Zielverfehlung“, griech.: hamartia, bedeutet der uns geläufige Begriff „Sünde“ im Originaltext wörtlich):

• Isaaks jüngerer Sohn Jakob brachte seinen älteren Bruder Esau auf listige Weise um dessen Erstgeburtsrecht, das dieser gegen ein fertiges Linsengericht einzutauschen bereit war, als er einmal erschöpft von der Feldarbeit heimkam. Und nicht genug damit, erschlich sich Jakob auch noch den väterlichen Segen, der Esau gebührt hätte, indem er seinen blinden Vater hinters Licht führte. Dazu hatte ihn seine Mutter Rebekka auf dreiste Weise angestiftet, die ihn gegenüber Esau zu bevorzugen pflegte.

Esau sann daraufhin auf Rache und hätte seinen arglistigen Bruder totgeschlagen, wäre der nicht auf Rat seiner Mutter ins Ausland geflüchtet.

Fortan hafteten die zahllosen beschämenden Kämpfe und Rivalitäten der Großfamilie Abrahams und ihrer immer zahlreicher werdenden Nachkommen an, von der boshaften Missgunst der Brüder Josefs, die ihn wegen seiner Auserwählung hassten und loswerden wollten und an eine vorbeiziehende Karawane als Sklaven verkauften, bis zur hochmütigen Ablehnung Moses durch seine Volksgenossen, der ihr Retter aus der Knechtschaft Ägyptens werden sollte, sodass er erst einmal für vierzig Jahre ins Exil nach Midian flüchten musste.

HABEN-WOLLEN UND MACHTGIER IM ALTEN ISRAEL

Das Rivalitäts-, Kampf- und Streitmuster prägte auch die Geschichte des alten Hebräervolkes.

Das Rivalitäts-, Kampf- und Streitmuster prägte fortan auch die Geschichte des alten Hebräervolkes. Es würde den Rahmen dieser Betrachtung sprengen, die biblischen Erzählungen auf dieses Thema hin zu durchforsten. Hier nur einer der krassesten Fälle:

Ahab, König der zehn Nordstämme Israels in Samaria, begehrte für sich den Weinberg Nabots, der neben seinem Palast in der Ebene Jesreel gelegen war. Weil Nabot das Erbteil seines Vaters nicht gegen ein Ersatzgrundstück Ahabs veräußern wollte, wurde Ahab missmutig und zornig. Also ließ er seine götzendienerische Frau Isebel gewähren, gedungene Zeugen gegen Nabot auftreten zu lassen, welche ihn öffentlich anklagten, er habe „Gott und den König gelästert“, damit er zum Tode verurteilt werde und Ahab in Besitz des Weinbergs gelangen könnte.

Doch als Ahab nach Nabots Hin­richtung scheinbar unbeobachtet hinabging, um den Weinberg unrechtmäßig in Besitz zu nehmen, trat ihm der Prophet Elia (nach dem Gottesgericht am Berg Karmel über Isebels Baalspriester bereits zum zweiten Mal) entgegen, klagte ihn des doppelten Verbrechens an und weissagte ihm Gottes Vergeltung. Ahabs abwehrende Antwort – statt sich zu demütigen: „Hast du mich wieder herausgefunden, mein Feind?“

Der über die Maßen schwerstwiegende Fall politischer und religiöser Missgunst zugleich, die bis zum Justizmord ging, wurde am Ende des Levitischen Zeitalters offenbar: Die herrschenden jüdischen Eliten Jerusalems wollten – gemäß dem auf sie gemünzten Gleichnis Jesu – endgültig Besitzer des von ihnen nur „gepachteten Weinberges“ werden, indem sie Jesus, den Alleinerben, umbrachten, der im Auftrag seines Vaters gekommen war, um – so das Gleichnis – „zur Zeit der Ernte seine Früchte zu empfangen“ (vgl. Mt 21,33-46).

Analog zum Justizverbrechen Ahabs gegenüber Nabot wurden zu diesem Zweck falsche Zeugen gegen Jesus gedungen. Die korrupten Hohenpriester selbst inszenierten dieses Todesurteil, denn sie wussten, dass sie sonst ihre privilegierte Stellung an ihn, den wahren Hohenpriester, abtreten müssten.

ANERKENNUNGSSUCHT IN RELIGION UND KIRCHE

Korruption und ihre sozialschädlichen Folgen haben auch vor der Religion nicht Halt gemacht.

Korruption und ihre sozialschädlichen Folgen haben auch vor der Religion nicht Halt gemacht, im Gegenteil. Obwohl alle traditionellen Religionen auf der ganzen Welt Korruption als Grundübel betrachten und sie Sünde nennen, haben selbsternannte Eliten immer wieder religiöse, klerikale Herrschaftsstrukturen entwickelt, sich mit staatlicher Politik liiert und deren Machtmonopol benützt, um ihre eigene Macht über Menschen so weit wie möglich auszudehnen, freilich unter religiöser Bemäntelung.

Was in der kleinen und großen Politik der Welt gang und gäbe ist, schleicht sich daher subtil auch im Volk Gottes ein. Falsche Menschenrücksichten, Gier nach Anerkennung, Rechthaberei, knechtender Geist und der Erste sein zu wollen, sind geistlicher Missbrauch und fromm getarnte Herrschsucht. Auch das Neue Testament ist voller Warnungen und Ermahnungen vor solchen Fallstricken. Bittere Wurzeln, gesäte Zwietracht, Parteiungen und Spaltungen sind die Folge. Was in den letzten Jahrzehnten an Vergehen, Skandalen und perfiden Machenschaften von Kirchenleuten und Fernsehpredigern publik geworden ist, entspricht demselben Muster. Bei seiner letzten Durchreise durch die damalige Metropole Ephesus hatte der Apostel Paulus die Gemeindeältesten gewarnt:

„Aus eurer eigenen Mitte werden Männer auftreten und Irrlehren vortragen, um die Jünger in ihre Gefolgschaft zu ziehen.“ (Apg 20,30).

In der klassischen Aufzählung der „Werke des Fleisches“ im Galaterbrief, Kapitel 5, finden wir unter anderem „Zank, Eifersucht, Zerwürfnisse, gemeine Selbstsucht, Zwietracht, Parteiungen und Neid“. Sie endet mit der eindringlichen Ermahnung (V. 26):

„Lasst uns nicht nach eitler Ehre begierig sein, einander nicht (zum Streit) herausfordern, einander nicht beneiden!“

DEMÜTIGE ZUWENDUNG STATT SELBSTSUCHT

Aber die Bibel lässt es nicht bei der Kritik bewenden. So realistisch sie in der Diagnose der „Krankheit“ ist, so praktisch ist auch ihre „Therapie“.

Die vielleicht kürzeste und bewegendste Zusammenfassung finden wir in Paulus’ Brief an die Glaubensgemeinde in Philippi, Kapitel 2 (nach der Übersetzung von Menge), nämlich die Ermahnung, dass nichts aus Rechthaberei (oder: Selbstsucht) oder eitlem Ehrgeiz geschehe, sondern in Demut einer den andern höher als sich selbst erachte. Die Gläubigen seien eines Sinnes, indem sie die gleiche Liebe hegen und einmütig dem gleichen Ziel zustreben. Paulus spricht von liebevollem Zuspruch, appelliert an die Gemeinschaft des Geistes, inniges Mitgefühl und Erbarmen und bringt seine „in Christus ausgesprochene Ermahnung“ (V. 1) auf den Punkt:

„Jeder habe nicht (nur) seinen eigenen Vorteil im Auge, sondern jeder auch den des andern“ (V. 4).

Einen Habgierigen rechnet Paulus zu den Götzendienern (Eph 5,5; vgl. 4,19). Und im Hebräerbrief 13,5 heißt es:

„Euer Sinn (oder: Verhalten) sei frei von Geldgier; begnügt euch mit dem, was euch gerade zu Gebote steht“.

VORBILDER AUS DER BIBLISCHEN GESCHICHTE

Auch dafür sind die Vorbilder der biblischen Geschichte lehrreich, eindrucksvoll und zahlreich. Sie sollten uns zum Nachdenken und zur Selbstüberprüfung hinsichtlich eines sozialverträglichen Lebensstils anregen und Mut geben. Dazu einige Anregungen:

Abraham bewies vorbildhaft großzügige Demut und überließ dem jüngeren Lot die Wahl zwischen den fruchtbaren Ebenen des Jordantals und den kargen Weiden des kanaanäischen Berglandes.

• Als es zum Streit zwischen den Knechten Abrahams und seines Neffen Lot um Weideland kam, bewies Abraham großzügige Demut und überließ ihm, dem Jüngeren, die Wahl, sich zwischen den fruchtbaren Ebenen des Jordantales und den kargen Weiden des kanaanäischen Berglandes für ihre Viehherden zu entscheiden, und Abraham war mit letzterem zufrieden um des Friedens willen.

• Als Joseph, der nunmehr unumschränkte Herrscher Ägyptens an der Seite Pharaos, sich seinen Brüdern zu erkennen gab, die ihn ehemals als Sklaven verkauft hatten, vergab er ihnen und tröstete sie, indem er sich zu ihnen herabbeugte und ihnen das Beste bot, was Ägypten zu bieten hatte, um sie vor der Hungersnot in Kanaan zu retten. So vergalt er Böses mit Gutem.

• Als David bereits der gesegnete und mächtig gewordene König war und ihm darüber hinaus auch noch die Messias-Verheißung für seinen Nachkommen zugesprochen wurde, dachte er von sich bescheiden und gering: „Wer bin ich, HERR mein Gott, und was ist mein Haus, dass du mich bis hierher (= so weit) gebracht hast!“ (2Sam 7,18f), statt überheblich zu werden wie Saul vor ihm.

Noch eine Illustration des Gegensatzes Davids zu Ahab und Saul (dieser wollte seine Verfehlung vor dem Volk verheimlichen, vgl. 1Sam 15,24-31):

Als der Prophet Nathan ihm, David, wegen seines Ehebruchs und der heimtückischen Beseitigung Urias das Urteil und Vergeltungsgericht Gottes überbrachte, beugte sich David – anders als Ahab und Saul – augenblicklich tief. Er redete sein Verbrechen nicht klein oder wollte es vertuschen wie Saul. Er setzte auch nicht, von sich ablenkend, den Überbringer ins Unrecht oder wehrte ihn – wie Ahab – „als seinen Feind“ ab. Sein Schuldbekenntnis hat er schließlich auch vor aller Welt abgelegt, es ist uns in Psalm 51 und Psalm 38 überliefert.

Je höher die eigene Berufung, desto ausgeprägter muss der würdige Wandel sein, der von Demut, Sanftmut, Geduld und ertragender Liebe bestimmt ist.

Im Blick darauf, dass gerade die zu Hohem Berufenen und im Mittelpunkt Stehenden Gefahr laufen, hochmütig, eigensinnig und „selbstherrlich“ zu werden oder meinen, über brüderliche Korrektur und Ermahnung erhaben zu sein, soll ein würdiger Wandel in Demut, Sanftmut und Geduld, einander in Liebe zu ertragen, umso ausgeprägter sein, je höher die Berufung ist. Demut ist die erste Tugend eines Berufenen! (Eph 4,1-2). „Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Lk 18,9-14).

  • Der Apostel Paulus verlangt von denen, die an Jesus glauben, dass sie sich – auch als Eheleute – „einander unterordnen“ (Eph 5,21).
  • Er selbst war stets bemüht, niemandem zur Last zu fallen, sondern nach Möglichkeit seinen Unterhalt selbst zu verdienen und womöglich sogar noch andere finanziell zu unterstützen und für die notleidende Jerusalemer Gemeinde zu sammeln.
  • Auch der Apostel Petrus lehrt: „Seid alle einträchtig, voll Mitgefühl und Bruderliebe, barmherzig und demütig!“ und plädiert dafür, mit den erhaltenen Begabungen „als gute Verwalter einander zu dienen“ (1Pt 3,8; 4,10).

WER IST MEIN „NÄCHSTER“?

„Mitgefühl“ im biblischen Verständnis bedeutet aber nicht einfach nur ein „Gefühl“ sondern tatkräftiger, aktiver Einsatz, eine Art des „Mitleids“ und „Mitleidens“, die das Herz berührt und dadurch Kopf, Hände und Füße in Bewegung setzen kann – und nach Möglichkeit auch den Geldbeutel öffnet, um Not um sich herum zu lindern. Am wohl Bekanntesten ist das Gleichnis Jesu vom „Barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25-37).

Da lag ein von Räubern überfallener Jude ausgeplündert und halbtot am Weg von Jericho hinauf nach Jerusalem:

„Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam in seine Nähe, und als er ihn sah, fühlte er Mitleid mit ihm“ (V. 33) und wurde ihm zum Retter.

Daraus lernen wir mehrere Dinge: Erstens, dass die zunächst an ihm vor­über gegangenen jüdischen Volksgenossen das Gebot der Nächstenliebe missachtet hatten. Das war in ihrem Fall besonders schwerwiegend, da es Priester und Leviten waren, die das Gesetz genau kannten. Sie konnten sich auch nicht darauf rausreden, dass sie – auf dem Weg zum Dienstantritt im Jerusalemer Tempel – kultisch „rein“ bleiben mussten. Denn in der Bibel hat Fürsorge für das Leben von Mensch und Tier grundsätzlich Vorrang gegenüber kultischen und zeremoniellen Vorschriften des Gesetzes (vgl. Lk 6,7.9; 13,5).

Zweitens galt schon in der Thora (dem Alten Testament) das Gebot der Nächstenliebe nicht etwa nur gegenüber Freunden und Volksgenossen, sondern auch gegenüber Fremden, so auch gegenüber Samaritern, die von den Juden als feindlich und unrein angesehen wurden. So heißt es auch in der Bergpredigt Jesu:

„Ich dagegen sage euch: Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger […]. Denn wenn ihr (nur) die liebt, die euch lieben, welches Verdienst habt ihr da (oder: welchen Lohn habt ihr dafür zu erwarten)? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Freunde grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden?“

Was also die beiden Juden an ihrem eigenen Volksgenossen unterlassen hatten, erfüllte der von ihnen verachtete Ausländer. Nur er erwies sich von allen Dreien dem unter die Räuber Gefallenen als dessen Nächster.

Jesus lehrt also eine Bringschuld, der sich niemand entziehen kann. Niemand kann Augen und Ohren verschließen und die Not des Nächsten ignorieren und dabei meinen, er trage dafür keine Verantwortung. Dagegen hielt Jakobus fest:

„Wer also um Gutes, das es zu tun gilt, weiß und es nicht tut, dem ist es Sünde.“ (Jak 4,17).

Aus diesem biblischen Prinzip der Bringschuld hat die Politik das Gesetz der „allgemeinen Pflicht zur Hilfeleistung“ abgeleitet und deren Unterlassung unter Strafe gestellt.

Den anderen höher zu achten als sich selbst, ist gleichbedeutend damit, sich selbst zurückzusetzen.

Drittens: Den anderen höher zu achten als sich selbst, ist gleichbedeutend damit, sich selbst zurückzusetzen. Dies ist es, was der Meister meint, wenn er von seinen Nachfolgern (mit dem Stilmittel der „Hyperbel“, der Übertreibung) fordert, „sich selbst zu verleugnen“. Johannes der Täufer sagte über Jesus: „Er muss wachsen, ich muss abnehmen“ und erklärte sich für unwürdig, Jesus auch nur die Riemen seiner Sandale zu lösen, aber Jesus erachtete ihn für würdig, von ihm getauft zu werden.

  • So lehrte der Meister auch mit folgendem Gleichnis:

    „Wenn du eingeladen bist, so gehe hin und setze dich untenan; dann wird der Gastgeber kommen und zu dir sagen: ›Freund, rücke weiter nach oben!‹, dann wirst du in den Augen aller deiner Tischgenossen geehrt dastehen. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Lk 14,11; vgl. 18,14).

  • Seine Jünger ermahnte er:

    „Ihr wisst, dass die weltlichen Herrscher sich als Herren gegen ihre Völker benehmen und dass ihre Großen sie vergewaltigen. Bei euch aber darf es nicht so sein; wer unter euch als Großer dastehen möchte, der muss euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein möchte, der muss euer Knecht sein, wie ja auch der Menschensohn nicht gekommen ist, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben als Lösegeld hinzugeben für viele“ (Mt 20,25-28).

JESUS ALS ULTIMATIVES „HYPOGRAMM“

Niemand konnte sich jemals so weit erniedrigen wie Jesus. Denn er ist von der höchsten Stellung, dem „Gleichsein mit Gott“, in die tiefste menschliche Erniedrigung eines zum Verbrechertod verurteilten Knechtes herabgestiegen.

Mit diesen Schlüsselworten Jesu, des „Menschensohnes“, sein Leben als Lösegeld für andere hinzugeben, kommen wir zum Höhepunkt dieser Betrachtung und der biblischen Geschichte überhaupt. Wenn wir die Begründung für die liebevolle, aber eindringliche Aufforderung des Apostels Paulus an die Philipper betrachten (siehe oben), merken wir einen fundamentalen Unterschied zu allem, was je in der Weltliteratur an ethischer Argumentation für menschliche Handlungsan­wei­­sungen ins Tref­fen geführt worden ist: Nicht ge­setz­liche Pflicht­­­erfüllung soll das Motiv sein. Demut, Selbst­ernie­dri­gung, inniges Mit­gefühl, Er­barmen und Einmütigkeit sind nicht geboten, um etwa „heiliggesprochen“ zu werden und nicht, um sich die Erlösung zu verdienen oder ein „Karma“ abzutragen, und schon gar nicht, um vor Menschen gut dazustehen und verehrt zu werden. All diese Motive wären wiederum ein ichbezogener Antrieb, ein Versuch ichhafter Selbsterhöhung.

Nein, sondern es geht um ein lebendiges, alles überwältigendes Vorbild, ein „Beispiel“, das uns vor Augen gestellt wird: Jesus, der es wert ist, nachgeahmt, „nachgezeichnet“ zu werden, um in seinen Fußstapfen nachzufolgen (vgl. 1Pt 2,21). Denn das Wort für „Vorbild“ oder „Beispiel“ (griech.: hypogrammos) bedeutet eigentlich: eine Vorlage zum Nachschreiben oder Nachzeichnen. Diese Gesinnung, die in uns wohnen soll, war auch in Jesus (Phil 2,5), und zwar in höchstmöglicher Weise (6-8):

„[…] denn obgleich er Gottes Gestalt (= göttliche Wesensgestalt oder: Wesensart) besaß, sah er doch das Gleichsein mit Gott nicht als einen gewaltsam festzuhaltenden Raub (= unveräußerlichen, kostbaren Besitz) an; nein, er entäußerte sich selbst (seiner Herrlichkeit), indem er Knechtsgestalt annahm, ganz in menschliches Wesen einging und in seiner leiblichen Beschaffenheit als ein Mensch erfunden wurde; er erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tode, ja, bis zum Tode am Kreuz.“

Niemand konnte sich jemals so weit erniedrigen wie er, denn er ist von der höchsten Stellung, die es in der unsichtbaren Welt von Ewigkeit her gibt, dem „Gleichsein mit Gott“, in die tiefste menschliche Erniedrigung eines zum Verbrechertod verurteilten Knechtes herabgestiegen. Er tat dies als Sündloser für Sündhafte – freiwillig und zugleich im Gehorsam gegen Gott. Er hat dies auf sich genommen, um an unserer Statt zu leiden und zu sterben, um unsere Sünde und deren Todesfolgen im Blick auf die Ewigkeit auf sich zu nehmen. Er starb, damit wir leben (Joh 11,25), wenn wir ihm darin für Zeit und Ewigkeit von Herzen vertrauen. So ist es schon im Alten Testament vielfältig vorhergesagt und angekündigt.

WARUM ETHISCH HANDELN?

Das lebendige Vorbild von Jesus, das es „nachzuzeichnen“ gilt, ist von einer fundamental anderen Qualität als alle Ideale, die je entwickelt und gelebt wurden. Sie erweisen sich als enttäuschende Krücken.

Diese Begründung für ethisches Handeln, für Mitmenschlichkeit und humanitären Einsatz liegt auf einer völlig anderen Ebene als in allen Religionen und Philosophien, sie steht und fällt mit dem, was Jesus von Nazareth als der ins menschliche Fleisch gekommene Sohn Gottes von Ewigkeit her am Kreuz von Golgatha vollbracht und erfüllt hat. Dieses lebendige Vorbild, das es „nachzuzeichnen“ gilt, ist von einer fundamental anderen Qualität als alle Ideale, die je entwickelt und gelebt wurden. Idealismus, Altruismus und anonyme Opfer­bereitschaft erschöpfen sich. Ideale erweisen sich als selbstgewählte, oft enttäuschende Krücken. Die materialistische Utopie der „Klassenlosen Gesellschaft“ ist an der menschlichen Realität gescheitert. Immanuel Kants Prinzip des „Kategorischen Imperativs“ hat die Gräuel des Stalinismus und des Holocausts nicht verhindern können, weil ein kalter, unpersönlicher philosophischer Mora­lismus das Herz nicht erwärmen kann. Jesus dagegen kann mit seiner persönlichen stellvertretenden Heilstat in unserem Herzen, in unserem innersten Wesen ein Feuer entzünden. Seine Liebestat kann für den, der dies mit wachem Verstand, ganzherzigem Willen und mitfühlendem Sinn (in dieser Reihenfolge – nicht umgekehrt!) begreift und vorbehaltlos ergreift, zu einer nie versiegenden Lebensquelle der Durstlöschung und Erfrischung werden.

CHRISTSEIN OHNE CHRISTI VERSÖHNUNGSTAT?

Wer nicht glaubt, dass Jesus als Messias, als „der“ Gesalbte Gottes („Christus“) aus einer ewigen Dimension „herab“ ins Fleisch gekommen ist, sondern ihn für eine bloß menschliche Zeugung von Josef und Maria hält (somit nicht Gottes Sohn im Sinne der Bibel, vgl. Lk 1,35) und daher auch nicht als auferstandenen und lebendig erhöhten „Kyrios“ (göttlicher HERR) ehrt, dem ist diese Dimension verschlossen.

Es gibt Menschen, die sich zwar als „Christ“ verstehen wollen, aber nichts damit anfangen können, dass ein Sündlo-ser für Sünder sterben musste, damit sie mit Gott versöhnt werden könnten. Und doch durchzieht genau diese Botschaft die gesamte Bibel, wenn auch auf höchst vielfältige, auch prophetische und metaphorische Weise. (Daher kann sie keine nachträgliche „Erfindung“ der späteren Christenheit sein.) Ein solcher Mensch mag ein Humanist sein, „religiöse Gefühle“ empfinden, eingeschriebenes Kirchenmitglied sein, die Bibel interessant finden und die Zehn Gebote für sinnvoll erachten, aber er versteht nicht, was diese Jesus-Realität Gottes existenziell bewirkt, die das Feuer entzündet und ein Leben zur inneren Erfüllung bringen kann (Joh 10,10), auch wenn äußere Umstände noch so widrig und enttäuschend sein mögen.

DURCH DEMUT ZUR HERRLICHKEIT (vgl. Lk 24,25-27)

So heißt es in dem hymnischen Philipper-Text abschließend:

„Daher hat Gott ihn auch über die Maßen erhöht und ihm den Namen verliehen, der jedem anderen Namen überlegen ist, damit im Namen Jesu (oder: beim Namen »Jesus«) sich jedes Knie aller derer beuge, die im Himmel und auf der Erde und unter der Erde sind, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters“ (Phil 2,9-11).

Kein anderer Name, nichts und niemand im gesamten religionsphilosophischen Pantheon der Geschichte steht höher in seiner einzigartigen Bedeutung vor Gott. Und auch niemand darunter, sonst kein „Mittler“ (und keine „Mittlerin“), keine „Heiligen“ und keine „aufgestiegenen Meister“, die etwas taugen würden oder bewirken könnten, geschweige denn dazu autorisiert wären. Einzig und allein dieser „Name“ (der sein Wesen als Retter meint), dem allein alle Ehre und Anbetung gebührt. Nur „in ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen“ (Kol 2,3) – und in ihm sind alle antrainierten esoterischen „Erfahrungen“ und käuflichen „Erkenntnisse“ abgetan. Allein in seinem Retter-Namen ist Errettung, Vergebung und Versöhnung (Apg 4,12; 2Kor 5,14-21).

Möge dies für jeden und für jede als lebendige Wirklichkeit wahr werden und bleiben, zum Segen für diese unerlöste und friedlose Generation!