Meyer, Matthias & Vogt, Peter (Hg.). Die Herrnhuter Brüdergemeine (Evangelische Brüder-Unität / Unitas Fratrum). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 259 S. gebunden: 25,00 €. ISBN: 978-3-525-82552-5
Erschienen ist der ausführliche Band über die Herrnhuter Brüdergemeine als Nr. 117 der Bensheimer Hefte und als Nr. 6 der Reihe „Die Kirchen der Gegenwart“. Herausgegeben wurde das mit 14 Autoren erarbeite Werk von dem evangelischen Pfarrer und Theologiedozenten Dr. Matthias Meyer und dem Studienleiter der Evangelischen Brüder- Unität Dr. Peter Vogt.
Das Buch gliedert sich in vier größere Blöcke. Nach einem einleitenden Vorwort der Herausgeber (9-13) widmet sich ein erster Teil der Vorgeschichte und der Entstehung der Herrnhuter (15-56). In einem zweiten Kapitel werden die Grundzüge der Theologie der Brüder- Unität skizziert (57-88). Ein nächster Abschnitt behandelt die Missionsgeschichte der Brüdergemeinen, mit einem Schwerpunkt auf den Entwicklungen und inhaltlichen Veränderungen im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert (89-119). Der größte Teil des Buches ist für die historische und gegenwärtige Darstellung der unterschiedlichen Weltgegenden (Afrika, Europa, Karibik und Nordamerika) reserviert, in denen viele Herrnhuter Gemeinen beheimatet sind (121-228). Abgeschlossen wird der Sammelband mit einem Abkürzungsverzeichnis (229), einer Literaturliste (231-249), der Vorstellung der Autoren (251-253) und einem Namensregister (255-259). Gerade der historische Teil wird mit vielen Fußnoten belegt und erläutert. In den meisten übrigen Kapiteln wird Literatur nur sehr selektiv und summarisch genannt.
Die Herrnhuter Brüdergemeine ist eine evangelisch-pietistische Konfession, die durch ihre internationale Mission weltweit verbreitet ist. Je nach Region trägt sie unterschiedliche Namen: Herrnhuter Brüdergemeine, Unitas Fratrum, Moravian Church und Brüder Unität (10).
Hauptabsicht des hier besprochenen Buches ist die Darstellung der Brüdergemeine als vielfältige, tolerante und offene Organisation. Immer wieder werden die theologische und die alltägliche Bandbreite der Unität in den verschiedenen Ländern hervorgehoben (12, 84, 124, 168f.). Nicht nur in Traditionen und Gewohnheiten, auch in der Auffassung über den Stellenwert der Bibel haben Herrnhuter durchaus recht unterschiedliche Auffassungen (84). Nach einem alten Leitspruch der Brüder Unität gelte in eigenen Reihen bis heute: „In den wesentlichen Dingen Einheit, in den unwesentlichen Dingen Freiheit, in allen Dingen die Liebe.“ (85). Die Heilige Schrift zählt nach Auffassung der Autoren heute bei den Brüdergemeinen zu den „nicht wesentlichen“ Dingen. Sie habe mit der Vermittlung des Heils demnach nicht direkt zu tun (87, 110). Auch die konkrete Lehre über Gott wird als sekundär betrachtet (87). Die Suche nach theologischer Wahrheit müsse deutlich hinter Toleranz und Einheit zurückstehen (88).
Der Band vermittelt eine aktuelle Selbstdarstellung der Herrnhuter Brüdergemeinen. Dabei wird auch deutlich, dass der Verband in Europa, insbesondere in Deutschland nur noch ein Schatten seiner ehemaligen Bedeutung ist, zahlenmäßig und auch theologisch (10, 227). Bis auf wenige Ausnahmen entsprechen die Herrnhuter hierzulande dem bibelkritischen Mainstream offizieller evangelischer Theologie (84, 211f.). Fast in jedem Kapitel wird das ökumenische Engagement der Herrnhuter außerordentlich hervorgehoben, gegenüber anderen Konfessionen, Traditionen und Religionen (9, 12, 135). Gelegentlich bekommt der Leser den Eindruck, als solle die Brüdergemeine als ganz besonders zeitgemäße und postmoderne Religionsgemeinschaft erklärt werden (110).
Deutlich stärker als in vielen früheren Darstellungen der Herrnhuter Brüdergemeine tritt in diesem Band das vielfältige internationale Gepräge der ehemals pietistischen Konfession zutage (90ff., 109). Gut zugänglich und lesbar wird hier über die Entwicklung der Herrnhuter in den ehemaligen Missionsländern informiert. Konsequent bemüht man sich eine eurozentristische Sicht zu vermeiden (113, 124, 177f.).
Vor allem wohl aufgrund ihrer Geschichte wird die Herrnhuter Brüdergemeine immer wieder als „Missionskirche“ benannt. In den überwiegend historischen Abschnitten ist das ehemalige Sendungsbewusstsein auch noch deutlich zu spüren (90ff., 115, 227). Bei der Darstellung der neueren Geschichte kann der Leser nur schwerlich ein konkretes Bild Herrnhuter Mission in der Gegenwart gewinnen. Viel zu häufig distanziert man sich von der eigenen missionarischen Vergangenheit, die Menschen vorgeblich bedrängt hätte. Die Herrnhuter Mission des 18. und 19. Jahrhundnert wird häufig als zu unpolitisch kritisiert, wobei gerade das durchaus als Absicht der ursprünglichen Brüder Unität betrachtet werden kann (107, 109, 131). Später wird durchaus zurecht auf die nationalistischen Tendenzen einiger Herrnhuter Missionare im 19. und 20. Jahrhundert aufmerksam gemacht und auf deren Bemühen, europäische Kultur reichlich ungefiltert in andere Länder zu exportieren (108f., 147f.). Gleichzeitig aber ist man durchaus stolz auf die Erforschung und Würdigung von indigenen Sprachen und Kulturen durch frühe Herrnhuter Missionare, als Grundstein europäischer Ethnologie (106).
Mission soll nach Auffassung der Buchautoren „ganzheitlich“ betrieben werden, auch wenn nicht genau definiert wird was dieser Modebegriff in diesem Zusammenhang genau zu bedeuten hat (105). Beispiele für missionarische Projekte der Brüder Unität im 21. Jahrhundert erschöpfen sich zumeist in politisch- gesellschaftlichen und sozial- bildungsbezogenen Aktivitäten (105, 107, 110, 114, 130, 134, 211f.). Auch Friedens- und Frauenförderung gehören zwischenzeitlich zum Standardprogramm (115, 136f.). Das eigentlich theologische Anliegen und die konkrete missionarische Tätigkeit der Herrnhuter bleiben zumeist ziemlich schwammig. Fast scheint es, als wolle man damit einem, gegenüber Mission und jedem Absolutheitsanspruch kritischem Zeitgeist, freundlich entgegenkommen (118).
Angesichts der eigenen Geschichte und Theologie wird dann auch nicht ganz unproblematisch die frühere Kritik an Aberglauben, Heidentum und Unmoral moniert (109f., 116, 147f.). Aus heutiger Sicht müsste man demnach von einer vorchristlichen Offenbarung Gottes ausgehen (139f.), ethische Aspekte wie die Polygamie sollte als kulturelle Besonderheit eher akzeptiert werden (11, 111). Eine große Offenheit anderen Kulturen und Lebensweisen gegenüber wird mittlerweile als selbstverständlich vorausgesetzt (114, 207f.). Insgesamt ist die Zahl der Herrnhuter Missionare in den vergangenen hundert Jahren massiv zurückgegangen (105, 115).
Mit 259 Seiten eignet sich das Buch natürlich nicht zur schnellen Information über Geschichte und Gegenwart der Herrnhuter Brüdergemeine weltweit. Wer aber etwas tiefer einsteigen will oder ein besonderes Interesse an der Entwicklung der Brüder Unität in den ehemaligen Missionsländern hat, bekommt hier gut recherchierte und zusammengefasste Informationen; vor allem über Strukturen, Aufbau, Gremien, Tätigkeitsbereiche und ökumenische Beziehungen. Wer nach der pietistisch geprägten Brüdergemeine des Grafen von Zinzendorf sucht, kommt mit diesem Buch allerdings nicht auf seine Kosten.