Im Jahr 2021 wurde auf verschiedene Weise 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland gedacht. Dass das jüdische Leben stark mit dem christlichen verbunden war und ist, ist schon beim Blick in die Bibel deutlich. Ein Teil der christlichen Feste geht direkt auf jüdische Feste zurück. Wir feiern heute an Ostern die Auferstehung von Jesus Christus, aber Spuren des ursprünglichen Passahfestes sind schon im Osterdatum enthalten. Seine Berechnung auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling hat dort seinen Ursprung. Ebenso gehen die Formen der Abendmahlsfeier auf die Gestaltung des Passahfestes zurück. „Das Heil kommt von den Juden“, so hatte es Jesus pointiert gegenüber der Samaritanerin herausgestellt, die ein Argument für die Gleichwertigkeit der Religionen vorgebracht hatte. Gott hat eine geschichtliche Entscheidung getroffen, dass der Retter der Menschen, sein Sohn Jesus Christus, als Nachkomme Abrahams und Davids aus einer jüdischen Familie stammen sollte. Paulus erinnert die Christen in Rom daran, dass die Verbindung zum jüdischen Volk aufgrund dessen unauflöslich ist. Er drückt das bildlich so aus (Römer 11,17-18): „Wenn aber nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden und du, der du ein wilder Ölzweig warst, in den Ölbaum eingepfropft worden bist und teilbekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich.“ Das gilt in Hinsicht auf die Erlösung, findet sich aber in manchen Lebensäußerungen wieder.
Die Berechnung von 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland geht auf eine Urkunde aus der alten römischen Koloniestadt Köln zurück. Kaiser Konstantin, der zu dieser Zeit schon Christ war, hatte am 11. Dezember 321 verfügt, dass es Juden erlaubt war, Mitglied in der dortigen Stadtverwaltung zu werden. Diese älteste urkundliche Erwähnung von Juden in Deutschland macht aber schon deutlich, dass sie schon früher mit den Römern dorthin gekommen waren. Von der wechselvollen Geschichte des jüdischen Lebens gibt es nach vielen Verfolgungen und dem systematischen Versuch der Nationalsozialisten, alle Juden Europas zu vernichten, nur wenige Spuren. Der größte Teil der Synagogen in Deutschland wurde zerstört oder enteignet und so umgewidmet, dass sie lange Zeit nicht sichtbar waren. Weil es aber selbst in vielen kleineren Städten eine „Judengasse“ gibt, kann man sich erinnern, dass seit dem Mittelalter überall Juden ihr Leben in Deutschland pflegten. Sie taten das über Jahrhunderte mit einigen Eigenheiten und mal freiwillig, mal gezwungen auch in einer gewissen Trennung von der übrigen Bevölkerung. Das geschah desto stärker, je mehr sie ihre jüdische Religion pflegten, weil im Mittelalter in Deutschland galt, dass das Volk eine einzige Religion haben soll und nur wenige Andersgläubige toleriert wurden.
Welchen Stellenwert das jüdische Leben in Deutschland gehabt haben muss, lässt sich bis heute sehr gut in der deutschen Sprache ablesen, in der sich sowohl im Wortschatz als auch bei den Redewendungen deutliche Spuren durch die von den meisten Juden gesprochene jiddische Sprache finden. Wenn wir uns zum Jahresanfang einen „guten Rutsch“ wünschen, geht das wahrscheinlich auf eine Verballhornung von rosch zurück, was hebräisch-jiddisch für „Anfang“ steht. Der „Ganove“, der aus dem Jiddischen stammt, hat auf dem Weg über das „Rotwelsche“, die Sprache der Nichtsesshaften des Mittelalters, den Weg ins Deutsche gefunden. Auch in die Sprache des wirtschaftlichen Handelns haben viele Begriffe Einzug gehalten. Dazu gehören Ausdrücke für Geld, wie „Moos“, „Pinke“ oder „Reibach machen“. Auf der anderen Seite steht das „Abzocken“ oder die „Pleite“. Beim „Zorres“ oder „Zoff“ ist auf jiddisch der Streit gemeint. Melocho, mecheles hieß auf jiddisch die „Arbeit“, woraus die „Maloche“ und der „Malocher“ wurden. Selbstverständlich gibt es auch lange vor dem starken Einfluss des Amerikanischen auf die deutsche Sprache nach dem Weltkrieg Einflüsse aus dem Französischen, Polnischen und Niederländischen. Die Spuren jüdischen Lebens sind aber so stark und teilweise Jahrhunderte alt, dass es sich lohnt, sie genauer zu betrachten.
Jiddisch und die Geschichte der Juden in Deutschland
Es spricht viel dafür, dass die Juden in Deutschland bis ins 13. Jahrhundert weitgehend das gleiche Deutsch sprachen wie die übrige Bevölkerung auch.1 Neuere Funde von Graffiti aus dem Mittelalter in Köln zeigen, dass zwar die hebräischen Schriftzeichen benutzt wurden, aber selbst im Bereich der Namen eine Eindeutschung stattgefunden hatte. Da heißt einer „Selig“ und eben nicht hebräisch „Baruch“, ein anderer „Lippmann“ aus der kölschen Kurzform Lipp von Philipp oder sogar „Koppchen“, was aus der kölnischen Form von Jakob gebildet wurde. „Die Juden im mittelalterlichen Köln sprachen Kölsch mit hebräisch-aramäischen Einsprengseln“.2
Seit dem Laterankonzil von 1215 wirkten zunehmend Bestimmungen, die eine stärkere Abtrennung der jüdischen Bevölkerung zur Folge hatten. Judenviertel wurden dadurch nach und nach zu Ghettos, in denen dann auch die Sprache ein Eigenleben entwickelte. In Köln hatte das Pogrom von 1349 zur Folge, dass alle Juden das Stadtgebiet verlassen mussten und sich auf dem Land ansiedelten. Das bedeutete nicht nur eine Verarmung. Es führte dazu, dass ein erheblicher Anteil – man geht von 10% bis 25% aus – zum Betteln gezwungen war und viele ohne sicheres Zuhause über das Land zogen. Es gab größere Auswanderungen nach Polen und in die Ukraine, wo sich in den Siedlungen der Juden das Ostjiddische mit einem gewissen Anteil an slawischen Wörtern entwickelte. Es sollte das Westjiddische überleben und war die Sprache vieler Juden im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts. Wiederkehrende Verfolgungen, etwa weil man ihnen die Schuld an Pestepidemien gab, verstärkten die Auswanderung nach Osten bis nach Litauen, während von Westen, vor allem aus Frankreich, Flüchtlinge in Deutschland ankamen. Das Westjiddische verzeichnete deswegen mehr Einflüsse aus Frankreich und Italien. Mit den Flüchtlingen kam auch ein französischer Akzent und einzelne französische Wörter in das Jiddische. Die Sprache entwickelte sich ständig.
Auch das Ostjiddische nahm seine eigene Entwicklung bei den Kolonisten in Polen, Böhmen, der Ukraine oder Litauen. Die Juden waren zuerst durchaus willkommen, aber sie lebten wieder für sich und bildeten ihre eigenen Dörfer, in denen es meist kaum Nichtjuden gab. Ihre Angelegenheiten regelten sie weitgehend selbst, so dass es keinen Grund gab, die Landessprache zu sprechen, es sei denn für die wirtschaftlichen Kontakte. Die Juden dort sind ein Beispiel für die seit Jahrhunderten gelebte Tradition des Judentums, seine Identität in einer Mischung aus Anpassung und Separation zu bewahren. Die Juden haben seit der Antike eine Identität als auserwähltes Volk Gottes entwickelt und bewahrt, obwohl sie mit der Wegführung nach Assyrien und Babylon schon im 6. Jahrhundert v. Chr. fast vollständig im Exil lebten. Dort lebten sie, wie aus dem Buch Daniel und Esther deutlich wird, einerseits integriert und dienten Staat und Gesellschaft, andererseits bewahrten sich viele von ihnen trotzdem das Bewusstsein, ein Volk zu sein, das nicht einfach in einem anderen aufgehen konnte. Das kam offenbar auch in der Sprache zum Ausdruck.
„Daß Juden also ein fremdes Idiom aufnehmen, mit starken eigenen Elementen durchsetzen und so zu einer eigenen und eigentümlichen Sprache umwandeln, die sie beim Weiterwandern in andere Länder verpflanzen, ist nicht neu.“3
Zur Zeit von Jesus sprach man offensichtlich in Israel Aramäisch, Griechisch und Latein auch mit hebraisierenden Eigenheiten. Was vielleicht noch erstaunlicher ist, bleibt die Tatsache, dass auch mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels 70 n.Chr., der fast völligen Verbannung aus Israel und der Zerstreuung über die ganze Welt, die Existenz eines jüdischen Volkes nicht beendet war. Dazu trug, was man auch an der Sprache erkennen kann, offenbar das Wort Gottes des Alten Testaments in hebräischer Sprache einen erheblichen Anteil bei. Anders wäre nicht zu erklären, wie aus dem hebräischen ganab, Dieb, das jiddische gannowem (Diebe) und unser „Ganove“ werden konnte.
Das „Judenteutsch“ entstand so durch eine Mischung aus dem Willen, seine Identität zu bewahren, und einer antijüdischen Politik, die die meisten Juden vom lebendigen Austausch trennte, als eine Ghettosprache. Manche Forscher sprechen auch von einer gewissen Verarmung der Sprache, weil viele Juden – anders als früher – durch die besondere Situation von höherer Bildung abgeschnitten waren. Die Verselbständigung der Sprache ging so weit, dass Johann Christoph Wagenseil (1633-1705) 1699 eine „Belehrung der Judisch-Teutschen Schreibart“ verfasste, um christliche Judenmissionare im Verständnis des Jiddischen zu unterrichten. Die Juden waren selten Analphabeten, was schon durch die religiöse Bildung meist ausgeschlossen war. Doch ihr Deutsch entwickelte eben ein Eigenleben mit grammatischen und syntaktischen Sonderformen. War es im frühen Mittelalter vor allem durch hebräische und aramäische Wörter angereichert, so wurden später auch hebräische Wörter eingedeutscht.
Die Juden hatten wegen der Situation in Deutschland kaum Landbesitz. Sie arbeiteten meist als Viehhändler, Marktbeschicker und oft als Wanderhändler, die über weite Gebiete mit ihren Waren zogen. Ihr Jiddisch wurde im Rheinland von der übrigen Bevölkerung als Händlersprache oder sogar als Geheimsprache aufgefasst. Es bekam auch wegen der Vermischungen mit dem „Rotwelschen“, einer Sprache der Landstreicher und Gauner, selbst bei manchen Juden einen schlechten Ruf. Gerade unter den gebildeten Juden war es verpönt. Man hielt es für einen Mischmasch oder für ein falsches, korrumpiertes Deutsch. Der Philosoph Moses Mendelsohn (1729-86) erklärte, es sei Kauderwelsch und verführe zur Unsittlichkeit. Er mahnte die Juden, stattdessen besser die jeweilige Landessprache richtig zu sprechen.
Allerdings hatte es bis dahin und auch weiterhin einen Einfluss auf das gesprochene Deutsch ausgeübt, so dass man heute besonders viele jiddische Wörter in den Dialekten findet. Im 19. Jahrhundert verzeichnete nicht nur Grimms Wörterbuch die Herkunft zahlreicher deutscher Begriffe im Jiddischen. Viele Wörterbücher von Regionalsprachen und Dialekten brachten es auf eine erstaunliche Anzahl solcher Lehnwörter. Im badischen Wörterbuch wurden über 1800 Wörter, die vom Hebräischen oder Jiddischen abstammten, aufgezählt, im pfälzischen waren es 550.4 Viele davon sind nur in den Dialekten lebendig geblieben, aber eine große Anzahl ist auch in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen.
Auch wenn uns Wörter wie „mies“, „schmusen“ oder „glatt gelogen“ urdeutsch vorkommen, sie stammen aus der Sprache der Juden in Deutschland.
Das geschah offenbar so nachhaltig, dass wir nur bei bestimmten Wörtern den fremden Ursprung wahrnehmen, wie das etwa bei „Mischpoke“, „Chupze“ oder „Schlamassel“ der Fall ist. Andere, wie „mies“, „schmusen“ oder „glatt gelogen“, kommen uns urdeutsch vor. Das hat sicher einerseits damit zu tun, dass die Übernahme der Wörter auf eine teilweise sehr lange Geschichte zurückgeht. Andererseits liegt es wohl auch daran, dass mit dem Holocaust, bei dem die osteuropäischen Juden ermordet oder vertrieben wurden, die im Alltag noch Ost-Jiddisch sprachen, das Jiddische seit fast 80 Jahren aus dem deutschen Alltag verschwunden ist. Weil auch viele der geflohenen Juden es wegen der deutschen Prägung der Sprache5 nicht mehr sprechen wollten, wurde es fast nur noch in jüdisch-orthodoxen Gemeinschaften gepflegt. Erst über die Wiederbelebung der alten jiddischen Musik (Klezmer), die seit dem 15. Jhdt. auf dörflichen Festen gespielt worden war, erwachte ab den 1970er Jahren neues Interesse an der alten Sprache.
Spuren lesen
Es ist auffällig, dass sich der Wortschatz, der sich auf das jüdische Leben in Deutschland zurückführen lässt, bestimmte Bereiche besonders betrifft und einen eigenen Charakter hat. Darin spiegelt sich die Geschichte des Jiddischen wieder, aber es lässt sich – auch wenn es nicht überinterpretiert werden darf – auch etwas vom Verhältnis der Juden in Deutschland zur übrigen Bevölkerung ablesen. Der Lübecker Kriminalist Friedrich Christian Avé-Lallemant (1809-1892) untersuchte in seinem vierbändigen Werk „Das deutsche Gaunerthum“ auch das Rotwelsche als Gaunersprache und beschäftigte sich mit den Einflüssen des Jiddischen. Er erkannte in der jiddischen Sprache „eine gewaltsame, unnatürliche Zusammenstückung indogermanischer und semitischer Sprachtypen, welche für alle Zeit als trübes Denkmal unmenschlicher Verfolgung und Erniedrigung des alten Gottesvolkes bleiben wird und welche so tief eingeätzt steht auf dem deutschen Kultur- und Sprachboden wie Blutspuren auf einer Folterbank.“6 Avé-Lallemant sah also die Spuren der Geschichte der Bedrückung und Verfolgung des jüdischen Lebens in Deutschland in der Sprache der Juden. Zugleich beschäftigte er sich mit dem Phänomen, dass ein deutlicher Anteil jiddischer Wörter und Wendungen die Sprache der Kleinkriminellen mitgeprägt hatte und von dort in den allgemeinen deutschen Sprachschatz wanderte.
Antisemiten hatte diese Beobachtung zu dem Schluss verführt, dass eben besonders viele Juden Kleinkriminelle wären. Das ist aber falsch. Es ist vielmehr so, dass es zuerst durch die Ächtung von Juden und den Ausschluss aus der Gesellschaft zum vermehrten Kontakt mit anderen Ausgeschlossenen kam. Von diesen Ausgeschlossenen lebten viele als Nichtsesshafte oder Landstreicher. Die Ausweisung aus einer Stadt oder einem Landstrich war eine verbreitete Strafe. Es gab im Mittelalter und bis in die Neuzeit eine große Gruppe von Menschen ohne festen Wohnsitz bzw. solche, die eine große Zeit des Jahres reisend unterwegs waren. Sie konnten Hausierer, Wanderarbeiter oder Dienstleister sein, wie Scherenschleifer oder Schultafellackierer, aber eben auch Kleinkriminelle und Betrüger. Dazu kamen Schausteller, Studenten, wandernde Handwerker.
Viele Juden verdienten ihr Geld im Beruf des Wanderhändlers. In Zeiten des Onlineversandhandels ist es schwer vorstellbar, dass insbesondere die Landbevölkerung noch bis ins 20. Jahrhundert hinein von diesen Händlern abhängig war. Sie brachten Waren, die nicht landwirtschaftlich hergestellt werden konnten, zu den Bauern. In Württemberg zählten 1882 mit 22.000 Hausierern und Wanderhändlern so viele Menschen zu dieser Berufsgruppe wie Beschäftigte in der Metallindustrie, in Baden waren es sogar mehr Wandergewerbetreibende als Industriearbeiter.7 Unter den Wanderhändlern waren überdurchschnittlich viele Juden, die die besondere Sprache mitprägten; unter den Kriminellen dürften sie nicht überrepräsentiert gewesen sein. Aus dieser Tatsache leitet sich ab, dass der Wortschatz für wirtschaftliches Handeln und der Wortschatz, der mit Kleinkriminalität zu tun hat, einen auffälligen Anteil an jiddischen Wörtern enthält. Der „Knast“ stammt aus dem Jiddischen (knas für Strafe) und das „Schmiere stehen“ (von schmiro für Wache, Wächter). Deswegen kann im Süddeutschen auch ein Polizist gelegentlich ein „Schmierlappe“ heißen im Sinne von „Wachtmeister“. Dass „Mohrrübe“ im Rheinland auch als Synonym für Polizist verwendet wurde, geht auf das jiddische Wort meriwa für „Zank“ zurück. Der Weg ging über eine Verballhornung wegen des ähnlichen Klangs von „Mohrrübe“ und meriwa und der Tatsache, dass im Rotwelschen der Polizist auch „Zänker“ hieß.
Die Wege der Eindeutschung dürften über die Jahrhunderte unterschiedlich gewesen sein. Der direkte Kontakt mit Juden war eine Quelle. Es kommt allerdings im 18. und 19. Jahrhundert noch ein starker Faktor dazu. Es sind die Studenten, die als Untermieter in einer fremden Stadt ein Eigenleben in ihren Verbindungen pflegten, zu dem auch das Kneipenleben gehörte, wo sie teilweise eine eigene Studentensprache prägten, in die Begriffe aus dem Rotwelschen aufgenommen wurden, die zum Teil aus dem Jiddischen stammten. Das war ein Weg, wie die Begriffe in die Sprache der Stadtbevölkerung kamen. Zu diesen Wörtern, die wir bis heute benutzen, gehört etwa „Moos“ für das Geld von moes bzw. moß aus dem Jiddischen, das auf das hebräische maoth zurückgeht. Die „Mäuse“ für das Geld sind mit veränderten Vokalen auch darauf zurückzuführen. In der Studentensprache konnte daraus mit Anklang an Lk 16,29 „Sie haben Mosen und die Propheten“ werden, als Redewendung für „reich sein“. Der „Zocker“ und das „Zocken“ sind schon lange im deutschen Sprachschatz, auch wenn sie erst in den vergangenen Jahren eine regelrechte Renaissance erlebten, um damit Börsenspekulanten zu bezeichnen. Zachok nannte man das Spielen, aber auch das Lachen oder Scherzen. Es wurde in der Form zchocken auch für „Kartenspielen“ gebraucht. Der Zocker als Spieler und als Spekulant ist schon im Sprachgebrauch der Juden belegt. „Zoff“ und „Zorres“ stehen heute für Streit, haben aber eine unterschiedliche Geschichte durchgemacht. Zoff stammt wohl vom jiddischen sof für „Ende, Abschluss“. Zorres kommt von jiddisch zoros für „Bedrängnis, Angst“. Da macht sich – wie sonst noch öfter – auch ein Bedeutungswandel bemerkbar.
Der „Schlamassel“ stellt eine jiddisch-deutsche Vermischung dar. Im Ost-Jiddischen gibt es das Wort schlimasel, das sehr große Unglück heißt sogar schlimschlimasel. Das Wort masel für „Glück“ wurde mit dem deutschen Wort „schlimm“ verbunden und fand wie „Masel haben“ den Weg in unsere Sprache. In der Wendung „Das ist glatt gelogen“ stammt das „glatt“ aus dem Jiddischen und kommt bis heute in der gleichen Bedeutung in „glatt koscher“ vor.
Außer der Übernahme aus der Sprache der Vaganten und Wanderhändler wurde schon die Verballhornung erwähnt. So etwas findet sich schon in der Bibel, wenn aus dem Götternamen „Baal-zebul“ in der Bedeutung „Herr der Höhe“ der „Baal-zevuv“, der „Herr der Fliegen“, wurde. Dabei werden Klänge absichtlich „falsch“ verstanden. So ist es zu dem gutgemeinten Wunsch „Hals- und Beinbruch“ gekommen, der auf einen jiddischen Segenswunsch (hazloche un broche) zurückgeht, der nach den deutschen klangähnlichen Wörtern eigentlich eine negative Bedeutung haben müsste, aber von dem jiddischen Ursprung her die positive behalten hat. Eine bösartige Verballhornung war die Bezeichnung der Prostituierten als „Mesuse“. Dabei spielte man auf die Mesusa an, die kleine Kapsel, die der fromme Jude am Türpfosten befestigt hatte und regelmäßig berührte. Die Verbindung war, dass auch die Dirne am Türpfosten stand und um Berührung warb.
Ein weiterer Anlass für die Übernahme von Wörtern liegt wohl darin, dass die Sprache mit manchen hintergründigen und humorigen Aspekten eine gewisse Anziehung als „Anti-Melancholicum“ ausübte. Schon 1750 empfahl Wilhelm Chrysander in seiner Schrift „Unterricht vom Nutzen des Juden-Teutschen“ das Studium auch deswegen:
„Einige wollen zu solchem Nutzen noch die Belustigung rechnen; da manche, aus dem Gehirn dieser Morgenländer geflossene Schriften wegen ihrer Ausdrücke, verblümten Redens-Arten, anmuthigen Vorstellungen, sinnreichen Räzel, lehrvollen Gleichnisse, auch seltsamen Einfälle, ungereimten Meynungen und kurzweiligen Erdichtungen, sich als Anti-Melancholicum gebrauchen lassen.“8
Hierher könnte man die Übernahme des Wortes „schmusen“ rechnen. Der „Schmuser“ war in der jüdischen Gemeinschaft der Heiratsvermittler, der einen Schmus machte. Das heißt, er vermittelte einen Vertrag zwischen den Familien, damit Mann und Frau heiraten konnten. Wenn er die beiden „verschmust“ hatte, erhielt er als Lohn sein Schmusgeld. Das Wort dient jetzt als Bezeichnung für den Austausch von Zärtlichkeiten und ist damit noch irgendwie mit dem Ursprung verbunden, aber doch weit davon weg. Die aktuellere deutsche Neubildung „Schmusekurs“, die im Bereich der Verhandlung vorkommt, macht wieder eine Rückkehr zur Ursprungsbedeutung.
Jüdisches Leben geht weiter
„Tacheles“ gehört zwar schon lange zum Jiddischen, hat aber den Einzug in die deutsche Sprache erst nach 1945 genommen und seit den 1970er Jahren eine weite Verbreitung gefunden. Das mag als Beispiel dienen, dass jüdisches Leben, die Begegnung und auch die Auseinandersetzung damit, nicht zu Ende sind. Das besondere Verhältnis Gottes zum Volk der Juden bringt auch ein besonderes Verhältnis anderer Völker zu ihnen mit sich. Der Antisemitismus, der seit Jahrhunderten irrationale Anfeindungen gegen Juden mit sich gebracht hat, kann am besten auch als Zeichen der Feindschaft des Menschen gegen Gott gedeutet werden.
Aus Römer 11,17-31 lässt sich schließen, dass es bis zum Ende der Zeit so bleiben wird, denn Paulus sagt den Christen aus nicht-jüdischen Völkern, dass das Volk der Juden eine Zukunft im Hinblick auf die Erlösung durch Christus hat. Die Übernahme von Wörtern und Redewendungen sind sicher nicht das eigentliche Ziel Gottes. Er hat durch die Erwählung Israels und die Geburt seines Sohnes als verheißener Nachkomme aus dem jüdischen Volk die Rettung von den Sünden und die Versöhnung mit ihm selbst möglich gemacht. Die Annahme des Heils, das von dem Juden Jesus gekommen ist, ist das eigentliche Ziel Gottes.
Weitere Beispiele finden Sie in diesem Artikel: Hals und Beinbruch, Guter Rutsch
Salcia Landmann, Jiddisch – Abenteuer einer Sprache, München 1965: S. 22. ↩
Peter Honnen, Wo kommt dat her, Köln 2018: S. 203. ↩
Salzmann, a.a.O. S.31. ↩
Vgl. Peter Honnen, „Jiddisch in rheinischen Dialekten“, in Jiddisch im Rheinland, hg. M. Grübel u. P. Honnen, Essen 2014: S. 123-188. ↩
Es blieben trotz vieler anderer Einflüsse immer rund ¾ der Wörter ursprünglich Deutsch. Allerdings lassen sich im Neuhebräischen, dem Ivrit, das heute in Israel gesprochen wird, auch viele Einflüsse aus der deutschen Sprache wiederfinden, die zum Teil auf das Jiddische zurückgehen, aber auch neueren Datums sein können. Ein schönes Beispiel ist das Ivrit-Wort „shtrudel“, das nicht nur das Gebäck bezeichnet, sondern auch das @-Zeichen. Seit 2015 gibt es ein Onlinewörterbuch mit den Einträgen deutscher Lehnwörter im Ivrit. http://lwp.ids-mannheim.de/dict/hebr/ ↩
Das deutsche Gaunerthum in seiner social-politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande. 4 Theile. Brockhaus, Leipzig 1858–1862: Bd 3, S. VIII. ↩
Unter ihnen gab es auch vom Pietismus geprägte wandernde Missionare, die als Bücher- oder Bibelkolporteure unterwegs waren. Manche von ihnen kamen regelmäßig in bestimmte Dörfer und gründeten und begleiteten dann auch Bibellesegruppen. ↩
Zitiert nach Hans-Peter Althaus, Zocker, Zoff und Zores: jiddische Wörter im Deutschen, München 2003: S.12. ↩