Der 33. Band des Jahrbuches für Biblische Theologie befasst sich mit dem Thema Sexualität. 16 Autoren aus dem universitären Raum beschäftigen sich mit unterschiedlichen Aspekten von Sexualität sowohl aus biblischer wie auch aus jüdischer und kirchengeschichtlicher Perspektive. Einige sollen in dieser Rezension Erwähnung finden.
In den ersten beiden Beiträgen wird kontrovers diskutiert, ob Adam und Eva schon im Paradies sexuelle Kontakte hatten: Während der Züricher Alttestamentler Konrad Schmid die Sexualität als „nachparadiesische Errungenschaft“ bezeichnet, versucht die Professorin für Altes Testament an der Universität Graz, Irmtraud Fischer, Schmids These von no sex in paradise zu widerlegen.
Thomas Römer, Professor für Hebräische Bibel am Collège de France in Paris, versucht in seinem Artikel „Homosexualität und die Bibel“ in typisch bibelkritischer Manier zu zeigen, dass die biblischen Verbote von Homosexualität in keiner Weise heutiges homosexuelles Verhalten treffen; denn angeblich gehe es heute in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften um liebevolle Beziehungen gleichrangiger Personen; die biblischen Texte hätten jedoch keine liebevollen Beziehungen gleichrangiger Menschen vor Augen gehabt, sondern gingen davon aus, dass beim „Geschlechtsakt zwischen zwei Männern ein Partner die passive, und damit weibliche Rolle einnimmt, was in der vorderorientalischen Antike als widernatürlich verstanden wurde.“ (S. 62). Dass die biblischen Texte diese Interpretation in keiner Weise nahelegen, sondern vielmehr homosexuelles Verhalten deshalb verbieten, weil es in sich widernatürlich ist (Rö 1,26f.), scheint Römer nicht zu erkennen.
Irmtraud Fischer u.a. (Hg.). „Sexualität“. Jahrbuch für Biblische Theologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 308 S., Paperback: 40 €. ISBN: 978-3-7887-3447-3.
Geradezu abenteuerlich (wenn nicht sogar blasphemisch) geraten Teile des Artikels von Annette Schellenberg (Universität Wien), wenn sie in ihrem Beitrag über das Hohelied allen Ernstes an manchen Stellen (z. B. Kap. 7,3) Oralsex zu erkennen glaubt (S. 74).
Moisés Mayordomo (Universität Basel) beschäftigt sich unter dem Titel „Eunuchen im Horizont der Gottesherrschaft“ mit der Auslegung von Mt 19,12. Er fügt der seit dem Mittelalter üblichen Auslegung (Eunuchen sind jene, die freiwillig ehelos bzw. sexuell enthaltsam leben) eine neue Variante hinzu: Die Eunuchen-Metapher habe die Bedeutung, „die kritische Haltung gegenüber Haus und Besitz mit dem Ausstieg aus der antiken Geschlechterordnung zum Ausdruck zu bringen“ und somit die „Kategorien binärer Geschlechternormierung“ (S.106) zu hinterfragen.
Hans-Ulrich Weidemann (Universität Siegen) untersucht in seinem Beitrag „Heilig an Leib und Geist“ die Sexualparänese und Anthropologie im ersten Korinther-, im Epheser- und im ersten Timotheusbrief. Trotz zahlreicher guter Beobachtungen am Text gelingt es ihm leider nicht, die verschiedenen Akzentuierungen in den genannten Briefen als Ergänzungen zu sehen, die aufgrund unterschiedlicher Fragestellungen und Ausgangs-Konstellationen in den Gemeinden zustande gekommen sind; stattdessen meint er, sich widersprechende Aussagen wahrnehmen zu müssen. Daher verwundert es auch nicht, dass Weidemann unkritisch die Hypothese der historisch-kritischen Exegese übernimmt, nach der weder der Epheser- noch der erste Timotheusbrief aus der Feder des Paulus stammen können.
Christian Hornung (Bonn) weist in seinem Artikel „Monachus et sacerdos“. Die Asketisierung des Klerus im 4. und 5. Jahrhundert nach, dass in der Alten Kirche sehr bald eine neue Definition von Nachfolge Jesu aufkam: Wahres christliches Leben wurde mit asketischer Lebensführung unter besonderer Betonung von sexueller Keuschheit gleichgesetzt, weshalb man Mönche als diejenigen verehrte, die ein ideales Christentum lebten, und weshalb ab dem 4. Jahrhundert auch vom Klerus immer häufiger ein enthaltsamer Lebensstil eingefordert wurde und es so zu einer Asketisierung des Klerus kam.
In „Der Pflichtzölibat im Christentum“ weist Hubertus Lutterbach (Duisburg-Essen) nach, dass der in der kath. Kirche geforderte Zölibat für Kleriker nicht biblisch zu begründen ist, sondern seine kirchengeschichtlichen Wurzeln in der Forderung nach kultischer Reinheit der am Messopfer beteiligten Kleriker und in der Überzeugung hat, sich durch asketische Leistungen Gnade verdienen zu können.
Volker Leppin (Tübingen) zeigt in seinem lesenswerten Artikel „Konsensehe“, wie der Status der Sexualität in und für die Ehe im späten Mittelalter und bei Luther aussah. Der Reformator sah den Zweck der Ehe in der Hervorbringung von Nachkommen und in der Kontrolle der sündigen sexuellen Begierde, um Unzucht zu vermeiden (1 Kor 7,2.5).
In ihrem Beitrag „Zweideutigkeiten“ analysiert Stefanie Knauß (Villanova, USA) moderne Filme auf ihren Umgang mit Sexualität und fragt danach, wie die heutige Theologie auf die in der Gesellschaft gelebte „sexuelle Vielfalt“ (LSBTQ) reagieren soll.
Der letzte Artikel des Bandes „Aber es steht doch in der Bibel!“ – „Na und?“ von Ottmar Fuchs (Tübingen) plädiert dafür, den Familienbegriff zu erweitern und überall dort Familie zu erkennen, wo füreinander in Treue Verantwortung übernommen wird. Daher hat Fuchs keine Berührungsängste vor gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, auch wenn er sich damit gegen seine eigene Kirche wendet; denn die offizielle katholische Morallehre hält bisher an der biblischen Sicht der Ehe fest und lehnt praktizierte Homosexualität als naturwidrig und sündig ab.
Fazit: Während die bibeltheologischen Beiträge eher schwach sind, weil sie unkritisch die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung übernehmen, ist die Mehrzahl der kirchenhistorischen Artikel durchaus lesenswert.