Jürgen Mette kennt sich mit der evangelikalen Bewegung in Deutschland sehr gut aus. Als Absolvent des Theologischen Seminar Tabor war er mehr als 10 Jahre als Jugendevangelist im Raum des kirchlichen Pietismus tätig. Später war er jahrelang geschäftsführender Vorsitzender der Stiftung Marburger Medien, hatte einen Lehrauftrag in Tabor und gehörte den Führungsgremien des Bibellesebundes, des deutschen Ablegers von Willow Creek und der Deutschen Evangelischen Allianz an. Er kann also auf Gehör zählen, wenn er der evangelikalen Bewegung eine „hausgemachte Krise“ bescheinigt – und ein Buch darüber verfasst, um einen „Weg der Versöhnung“ aufzuzeigen. Eine „fröhlich werbende Inklusion der Jesus-Leute“ möchte Mette „wecken“ (S. 26). Wie stellt er das an?
Jürgen Mette „beginnt mit einer Selbstbeschreibung als ‚lutherisch getaufter, freikirchlich‚ konfirmierter‘, freiheitsliebender, charismatisch-konservativer Protestpietist“ (S. 28) und einer Definition des „Evangelikalen“, den es – so seine zutreffende Feststellung – gar nicht gibt (S. 31). Er beschreibt Entstehung und Entwicklung der evangelikalen Bewegung in Deutschland und hält „die Betonung der Notwendigkeit einer freiwilligen Glaubensentscheidung“ für „das signifikanteste Kennzeichen der Evangelikalen“ (S. 37). Mette identifiziert drei verschiedene Milieus: die auf Einheit und Integration bedachten Allianz-Evangelikalen, die bibelfest-traditionellen ‚exklusiven‘ Bekenntnis-Evangelikalen und die emotional-empathischen Charismatiker. Während zwischen Allianz und Charismatikern Vertrauen wachse, hielten sich die Bekenntnistreuen zurück (S. 39). Insgesamt behindern sich die evangelikalen Ströme oft gegenseitig (S. 40), verzetteln sich in lähmenden Flügelkämpfen und behindern das geistlich so wertvolle Potential engagierter Christen (S. 42).
Jürgen Mette. Die Evangelikalen: Weder einzig noch artig. Eine biografisch-theologische Innenansicht. Gerth Medien, 2019. 256 Seiten. ISBN 978-3957345486
Dabei sieht er die kommenden Herausforderungen „in einem sich gegenseitig aufbauenden und kreativen Dialog mit den evangelischen Landeskirchen und zunehmend auch im theologischen Diskurs mit der römisch-katholischen Kirche“ (S. 44). Statt diesen Herausforderungen zu begegnen, etablierten sich immer neue Protestzirkel, „wir spalten uns bis zur Harmlosigkeit“ (S. 45). Nur wenn die Evangelikalen in ihrer Pluralität gedeihen, könnten sie ihr Potential voll entfalten (S. 46). Hierzu müsse die „Gnadenlosigkeit“ in den eigenen Reihen durch Gnade überwunden werden. Im Rahmen seiner „Diagnose“ beschreibt Mette, wie es zur Zersplitterung der evangelischen Kirche kam. Landeskirchliche Gemeinden, die gegen geistliche Aufbrüche vorgingen, trieben die „Erweckten“ aus der Kirche, die nun in Freikirchen, Brüdergemeinden oder auch pietistischen Gruppen heimisch wurden und dann ihrerseits den Landeskirchen „Verrat am Evangelium“ vorwarfen (S. 59). Dabei erkennt er durchaus das schwerwiegende Defizit volkskirchlicher Religiosität, dass nämlich die Pflicht, Kirchensteuer zu zahlen, die einzige Pflicht ist, die Mitgliedern der Landeskirche abverlangt wird und jeder Atheist, Neo-Buddhist und oder Neo-Schamane im volkskirchlichen Sinn noch ein Christ ist (S. 63). Die Frage muss erlaubt sein, ob das nicht wirklich einen Verrat am Evangelium darstellt?
In der Folge befasst sich Mette mit einem für sein Anliegen essentiellen Text, einem Teil des Hohenpriesterlichen Gebets Jesu aus Johannes 17. Er stellt hier der Elberfelder Übersetzung die Übertragung der „Bibel in gerechter Sprache“ gegenüber. Hier müsse man „genauer hinschauen“, da es um das Fundament gehe (S. 66). Mette stellt zu Recht fest, dass die Elberfelder Übersetzung mit Vater korrekt ist, während die Bibel in gerechter Sprache einen Begriff wählt, der dort schlicht nicht steht („Gott“) – und kommt dann überraschend zu dem Schluss, die „patriarchalische Deutung“ werde dem Text ebensowenig gerecht wie die matriarchalische (S. 67). Dabei verkennt Mette, dass es hier nicht um Deutungen geht, sondern um einen biblischen Text. Die Übersetzung „Vater“ entspricht schlichtweg dem Original, die Übersetzung „Gott“ ist eine ideologisch motivierte Verfremdung. Hier eine Gleichwertigkeit zu suggerieren, muss schon sehr verwundern. Und ist es wirklich nur eine „Befürchtung“, dass mit der „Bibel in gerechter Sprache“ die „ganze feministische Ideologie“ in die Bibel getragen werden soll (S. 67) – und nicht vielmehr das explizit erklärte Ziel der Verfasser? Der Grund zur Entzweiung entsteht nicht durch eine „minimale Differenz“ im Wortlaut (S. 68) – das ist der Grund, warum Anhänger der Elberfelder Bibel selten mit Anhängern der Luther- oder Schlachter-Übersetzung aneinandergeraten – sondern gerade dadurch, dass die Bibel in gerechter Sprache nicht das Wort Gottes wiedergeben, sondern der eigenen Ideologie unterwerfen möchte. Sollte Mette das wirklich nicht verstanden haben?
Jürgen Mette identifiziert die Bekenntnistreuen mit ihrem klaren biblischen Profil als die wahren Problemkinder der evangelikalen Bewegung, die tief in den Leib Christi einschneiden und einen früher lebendigen Organismus zerstückeln.
Im nächsten Kapitel wird der Wunsch wiederholt, dass „alle Verfechter des Buchstabens und Kämpfer der reinen Lehre von der Gnade Gottes überwältigt würden“ (S. 73). Hier wird dann auch immer klarer, wen Mette tatsächlich als Problemkind identifiziert: die Bekenntnistreuen, die mit ihrem „klaren biblischen Profil“ tief in den Leib Christi einschneiden und einen einstmals vitalen Organismus zerstückeln. Die eine simple und klare Bibelbedeutung einfordern und dann Fangfragen stellen, um Hochschulen, Prediger und Autoren zu examinieren (S. 75) und gegebenenfalls zu kritisieren, wenn die Antworten nicht wie erwünscht ausfallen. Mette befasst sich sodann mit Etiketten wie „biblisch“ und „Bibelkritik“, wobei er unterstellt, die Bibelkritik würde „nur“ bekämpft, weil man deren Sinn und Nützlichkeit nicht erfassen würde (S. 83) – um dann festzustellen, dass diese Methode „zu einer prinzipiell radikalen Demontage der Autorität der Schrift geführt und somit das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Bibel untergraben hat“. Es ist erfreulich, dass das hier so klar erkannt wird. Vielleicht hätte sich Mette aber auch die Frage stellen sollen, ob nicht genau das der Grund ist, warum diese Methode kritisiert wird. Auch der Bibelbund wendet sich nicht dagegen, biblische Texte in ihrem historischen Kontext auszulegen – im Gegenteil. Die auch von Mette aufgezeigten Folgen der historisch-kritischen Methode zeigen aber doch gerade, dass diese Methode dort nicht stehenbleibt. Und diese fatalen Folgen sind auch nicht nur „Begleiterscheinungen“ (S. 83), die man beliebig abstellen könnte, sie sind direktes Ergebnis der menschlichen Hybris, die sich über die Schrift stellt, statt sich ihr unterzuordnen.
Soweit Mette sich dann darüber ärgert, dass „ausgerechnet“ ein Thema wie die Homosexualität die Evangelikalen spalte und nicht der „Rest des Befundes“ aus Römer 1, ist ihm sicherlich darin zuzustimmen, dass Neid, Habsucht und Lüge dem Evangelium genauso zuwiderlaufen und es äußerst bedauerlich ist, wenn derartiges Verhalten in christlichen Gemeinden nicht kritisiert wird. Gleichwohl dürfte es äußert selten vorkommen, dass eine Gemeinde Betrüger und Lügner in einen positiven Kontext stellt oder gar öffentliche Segnungen für Ungerechte, Unbarmherzige oder Neidische veranstaltet. Man muss wohl davon ausgehen, dass ein solches Geschehen durchaus Anlass für die Gründung einer Bekenntnisinitiative sein würde, spätestens dann, wenn die Kirchenparlamente derartige Segnungen anordnen. Mette vergleicht hier Äpfel mit Birnen.
Durchaus bedenkenswert reflektiert er sodann die evangelikale Neigung, sich an den Augenblick einer Bekehrungsentscheidung „zurückzubinden“ (S. 96). Hier hätte man sich eine vertiefte theologische Auseinandersetzung gewünscht, wird aber wiederum zur Problematik der „Bibeltreue“ umgeleitet, die kindlich vertrauend „Die Bibel sagt!“ zum Motto hat (S. 97). Seine eigene Kindheit, in der die Bibel „Fix- und Drehpunkt“ seines Lebens war, beschreibt er als „wunderschöne und unbekümmerte“ Zeit, die dann offenbar durch die Entgegnung eines irgendwem: ‚Mir sagt die Bibel etwas anderes!‘ jäh beendet wurde („Schluss mit selig!“). Warum eigentlich, fragt man sich? Begann er, an seiner eigenen Sicht zu zweifeln? Oder hält er es postmodern für möglich, dass die Bibel A und B zugleich sagt? Das bleibt leider im Unklaren, und auch eine theologische Reflexion sucht man hier vergeblich, ließe sich doch biblisch durchaus für einen „Kindheitsglauben“ argumentieren (Mt 18,3; 19,14).
Jürgen Mette plädiert für einen Glauben, der zugleich kindlich Gott und seinem Wort vertraut und dabei den Gedanken der möglichen Falschheit des eigenen Glaubens und die Options des Unglaubens daneben stehenlässt. Eine biblische Fundierung für eine solche Haltung sucht man allerdings vergeblich.
Das weitere Aufwachsen des Autors ist dann geprägt von Glaubenskämpfen im Hinblick auf die Evolutionstheorie, die Sexualkunde, Rockmusik und Spiritismus. Mette selbst nennt das „Protokoll meines in der Krise geprüften Schriftverständnisses“, ohne allerdings jeweils zu erklären, wie dieses Schriftverständnis nun genau aussieht – und wie er seine Haltung zu den dargelegten Themen biblisch begründet, die sich ja im Laufe der Zeit geändert hat. Es wird dann sogar immer unklarer, wie diese „Wandlung“ überhaupt aussehen soll, denn gleichsam als Fazit beschreibt Mette seinen Glauben als kindlich, „im vollen Vertrauen darauf, dass Gott alles kann und dass sein Wort absolut vertrauenswürdig ist“ (S. 108). Gleichzeitig will er aber „die Möglichkeit des Zweifels ernst nehmen“. Man fragt sich allerdings, wie man völlig vertrauen kann, wenn man gleichzeitig den „Gedanken der möglichen Falschheit“, ja geradezu die „Option des Unglaubens“ zulässt (so das Zitat von Thorsten Dietz, das Mette zustimmend aufgreift, S. 108f.). Und erneut sucht man nach der biblischen Fundierung. Wo zum Beispiel lassen Jesus, Paulus oder Petrus es als wünschenswert erscheinen, dass Christen die „Option des Unglaubens“ zulassen?
Einige Seiten später wird das Bibelverständnis des Autors dann ausführlicher erläutert. Dabei macht es dann doch etwas traurig, dass der Heilige Geist bei der Abfassung der Schrift kaum eine Rolle zu spielen scheint. Zwei volle Seiten schildert Mette die Entstehungsgeschichte der Bibel („Sammlung von Büchern, die die normative Basis für das Judentum und das Christentum bilden“), bevor zumindest angedeutet wird, dass die Bibel mehr ist als ein menschliches Produkt („Gottes Handschrift, in dem er die Autoren übernatürlich inspiriert und geleitet hat“). Was das bedeutet, bleibt offen. Zudem bezeichnet Mette die Bibel ausdrücklich nicht als Offenbarung, sondern nur als „Zeugnis von der Offenbarung Gottes“ (S. 117). Natürlich kann Mette dann auch mit dem Begriff der Irrtumslosigkeit nichts anfangen, wobei er wiederum Torsten Dietz bemüht, der erklärt, man könne diese aus der Bibel gar nicht ableiten (S. 119). Die Fundamentalisten mit ihren klaren und einfachen Lösungen sind seine Sache nicht (S. 120), wobei nicht klar wird, welche Lösungen Mette bevorzugt. Schwierige und komplizierte? Oder hat er einfach keine? Sätze wie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! Mehr weiß ich nicht“ (S. 122) scheinen das zu suggerieren. Wobei man sich dann fragt, von wem die ganzen pointierten Positionen stammen, die man bisher gelesen hat.
Mettes Argumente gegen die Irrtumslosigkeit sind wenig überzeugend. Wer scheinbar demütig, darauf verzichten will, Gott Fehlerlosigkeit zu attestieren, könnte ihm genausowenig Liebe attestieren.
Auch zur Frage der Irrtumslosigkeit hat er dann noch Einiges mehr zu sagen. Die Chicago-Erklärung, die er als gut gemeint aber angstbesetzt bewertet (S. 126) mühe sich völlig umsonst, denn die Bibel habe den Test der historisch-kritischen Textanalyse längst bestanden (S. 126). Man fragt sich hier, was Mette meint. Er hat ja selbst die glaubenszerstörenden Wirkungen historisch-kritischer Auslegung geschildert. Soll das alles nur der Vergangenheit angehören? Und wieso sollten Christen, die auf die Irrtumslosigkeit der Bibel vertrauen, „die Möglichkeit wissenschaftlicher Welterkenntnis grundsätzlich in Frage stellen“ müssen (wie das Duo Dietz/Mette annimmt, S. 126)? Die Bibel legt vielmehr die Grundlage für die Möglichkeit wissenschaftlicher Welterkenntnis, indem sie ein von Gott weise geordnetes Universum postuliert, das in seiner faszinierenden Gesetzmäßigkeit zur Erforschung geradezu einlädt. Was bibeltreue Christen tatsächlich und zu Recht in Frage stellen ist ein methodischer Atheismus, den heute viele mit „Wissenschaft“ gleichsetzen.
Auch die weiteren Argumente Mettes gegen die Irrtumslosigkeit sind wenig überzeugend. „Wer sind wir, dass wir Gott Fehlerlosigkeit attestieren?“, fragt er scheinbar demütig (S. 126), müsste mit derselben Haltung aber jedwedes Reden über Gott einstellen (Wer ist Mette etwa, dass er Gott Liebe attestiert (S. 132) – wie er es emphatisch tut?). Und wenn die Bibel „keine Fehler und keine Irrtümer“ enthält (S. 126), warum kritisiert er dann die Chicago-Erklärung, die doch offenbar inhaltlich zutreffend ist? Oder ist die Bibel und „Gottes Offenbarung in der Schrift“ nicht identisch?
Zuzustimmen ist dem Autor in dem dann vorgetragenen Anliegen, in nicht heilsnotwendigen Fragen (als Beispiele werden Tauffrage, Ekklesiologie, Eschatologie oder Wiederverheiratung Geschiedener) differente Auslegungen des biblischen Befunds zu ertragen (S. 130). Auch dass ihm das allzu ungnädig vorgetragene Beharren auf möglichst „zorniger“ Darstellung Gottes missfällt, ist nachvollziehbar (S. 131). Wenn aber der Zorn Gottes „Ausdruck seiner Liebe“ ist (S. 132) – muss dann darüber nicht auch gesprochen werden?
Mette will die Polarisierung im Hinblick auf das Schriftverständnis damit überwinden, dass er dem Schöpfungsbericht als literarischer Gattung die historische Bedeutung abspricht.
Blockaden verstehen und überwinden, das ist das sich anschließende „Epizentrum“ des Buchs (S. 138), das fast enttäuschend kurz gerät. Mette singt das Lied vom Segen der Pluralität, beklagt die Polarisierung im Hinblick auf das Schriftverständnis und (zu Recht!) das gnaden- und lieblose Auftreten frommer Scharfrichter (S. 141). Inhaltlich geht er dann nur noch auf den Kreationismus ein, eine für ihn „vermeidbare Blockade“, weil man einfach nur verstehen müsse, literarische Gattungen zu unterscheiden (S. 146). Hier wäre es dann natürlich schön gewesen, wenn sich Mette etwas vertiefter mit der literarischen Gattung der Genesis auseinandergesetzt hätte, statt sich darauf zurückzuziehen, die Schöpfung sei dort „ideal kindgemäß erzählt“ (S. 145). Es gibt nämlich durchaus evangelikale Theologen, die sich äußerst tiefgründig mit der Gattungsfrage auseinandergesetzt haben und zu dem Ergebnis kommen, dass der Schöpfungsbericht eine historische Erzählung ist. Man fragt sich ernsthaft, ob der Autor tatsächlich glaubt, bisher sei kein bibeltreuer Evangelikaler auf die Idee gekommen, „literarische Gattungen zu unterscheiden“. Das als Lösung für das Diskussionsfeld Schöpfung – Evolution zu verkaufen, wirkt schon fast peinlich.
Nach diesem enttäuschenden „Höhepunkt“ des Werks schließen sich Interviews und Gastkommentare an. Besonders erfreulich ist hier das Interview mit Wolfgang Bühne, der selbstkritisch aber deutlich auf der absoluten Autorität der Heiligen Schrift beharrt – und auch erklärt, weshalb es keine „Bruderschaft“ mit Theologen geben kann, die Jungfrauengeburt, Sühneopfer oder Auferstehung leugnen. Torsten Dietz geht klarer als Mette auf die zentrale Frage des Bibelverständnisses ein, insbesondere auf die Notwendigkeit biblischer Begründung (leider in verhunztem Gender-Deutsch, „Bibelforscherinnen und –forscher“). Michael Diener, Präses des Gnadauer Verbandes, legt 1. Korinther 13 aus, Ulrich Fischer vom Amt für Missionarische Dienste der EKD lobt die Folgen der Aufklärung für die Kirche, Andreas Heiser aus der Theologischen Hochschule Ewersbach versucht zu erklären, warum Evangelikale der Theologie misstrauen, Tobias Faix stellt noch einmal seine Transformationsstudien vor und Heinrich Derksen vom Bibelseminar Bonn erläutert das Potential russlanddeutscher Gemeinden.
Das Buch setzt sich fort mit „Einsichten und Aussichten“ und dem Wunsch nach „gnädigen Glaubensgeschwistern“ (S. 205). Darin wird man dem Verfasser ebenso beipflichten können wie in seiner Erwartung, dass bei aller Unterschiedlichkeit in zweitrangigen Fragen eine Begegnung in der Mitte, bei Jesus, möglich sein sollte. Die Agenda, die er dann entwirft, ist dann allerdings eine „hochpolitische“ (S. 211), die die christliche Gemeinde „gesellschaftsrelevant“ machen soll (S. 209). Es sei nicht zu spät für eine Bekehrung „zum Wesentlichen“, worunter Mette Umgang mit der Schöpfung, religiös motivierten Terrorismus, Dialog mit dem Islam, Umgang mit dem aggressiven Atheismus, Verlust der Privatsphäre in den sozialen Medien, die Armut in der dritten Welt und die Flüchtlingsströme, die Altersversorgung der nächsten Generation, den Pflegenotstand und die Anspruchshaltung an Vater Staat versteht (S. 209f.) – eine merkwürdig irdische Auffassung des „Wesentlichen“. Die „Kirche der Zukunft“, von der Mette träumt, wird die Grenzen der Denominationen überwinden, von der Gottesfurcht und dem Bewusstsein für die Heiligkeit Gottes katholischer und orthodoxer Glaubensgeschwister lernen, das Trennende der Tauffrage auflösen, bisher ignoriertes Liedgut entdecken (Choräle die einen, Lobpreis die anderen), diakonische Konzepte entwickeln, Grenzen zwischen Landeskirchen, Brüdergemeinden und Pfingstgemeinden überwinden. Und dabei „unvernünftig und maßlos in der Verehrung Jesu sein“ (S. 223). Durchaus bedenkenswert ist auch die Ermahnung, „das Evangelium nicht zur niederschwelligen Billigware verkommen zu lassen, sondern es so aufzurichten, dass der Zugang Konsequenzen fordert“ (S. 227). Im anschließenden Fazit empfiehlt der Autor Schritte zur Erneuerung: „einander wertschätzen, einander ertragen, miteinander beten, theologischen Disput pflegen und miteinander dienen“ (S. 244).
Die Situationsbeschreibung der evangelikalen Bewegung ist sicher in mancher Hinsicht zutreffend. Es bleibt aber ein zwiespältiger Eindruck, weil Mette „das Wesentliche“ in einer Positionierung in gesellschaftpolitischen Fragen sieht und die Frage des Schriftverständnisses anscheinend für zweitrangig hält.
Insgesamt hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Die Situationsbeschreibung der evangelikalen Bewegung ist sicher in mancher Hinsicht zutreffend, wobei die theologische Deutung, der Leib Christi sei „segmentiert, amputiert und ramponiert“ (S. 245) zu hinterfragen wäre. Die Schilderung des Glaubenswegs des Autors ist so authentisch wie traurig, man wünscht ihm förmlich den „wunderschönen und unbekümmerten“ Glauben seiner Kindheit zurück, in der die Bibel Fix- und Drehpunkt seines Lebens war. Warum er diesen Glauben aufgegeben hat, bleibt bis zum Ende unklar. Nachvollziehbar dagegen ist das Verlangen nach gnädigerem Umgang miteinander im christlichen Dialog, der in der Tat zu oft von liebloser Rechthaberei und Verächtlichmachung des Gegenübers geprägt ist – kein gutes Zeugnis für Nachfolger Christi. Auch im Hinblick auf die gegenseitige Wertschätzung und die Toleranz in zweitrangigen Fragen ist Mette sicher Recht zu geben – zu viele Streitigkeiten, zu viele Spaltungen geschehen aus Gründen, die eine solche Spaltung nicht rechtfertigen. Problematischer erscheinen dagegen die Visionen einer gesellschaftlich relevanten, politischen Kirche. Jesu Reich ist eben „nicht von dieser Welt“ und weder Jesus noch die Apostel haben sich allzu ausführlich zum Pflegenotstand oder der Altersversorgung der nächsten Generation geäußert, obgleich das damals sicherlich noch drängendere Themen waren als heute. Natürlich gehört diakonisches Handeln zum Auftrag der Gemeinde – aber ist es wirklich das „Wesentliche“?
Und noch ein Weiteres muss verwundern: das fast völlige Fehlen einer Auseinandersetzung mit der „Wahrheit“. Mette schreibt viel über Gnade und Liebe, geht aber kaum darauf ein, dass Jesus gekommen ist, um von der Wahrheit Zeugnis zu geben (Joh 18,37) und seine Gemeinde als Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit baut (1Tim 3,15). Wer ernsthaft an einer Beilegung von innerevangelikalen Streitigkeiten interessiert ist, muss sich vordringlich mit dem Problem befassen, wie sich Liebe und Gnade und Wahrheit zueinander verhalten. Nicht jede inhaltliche Auseinandersetzung, nicht jede Kritik ist nämlich per se „ungnädig“. Auch scheint Mette die Frage des Schriftverständnisses als zweitrangig aufzufassen. Schon damit wird er auf entschiedenen Widerspruch bei den Bekenntnis-Evangelikalen stoßen (müssen), die übrigens zu Recht darauf hinweisen, dass ein Nachfolger Jesu auch und gerade von dessen Schriftverständnis lernen sollte, in dem für die „Option des Unglaubens“ keinerlei Raum ist. Ohne eine gemeinsame Überzeugung von der Bedeutung und Qualität der Grundlage (!) des christlichen Glaubens, der Heiligen Schrift, wird man zwar gnädig und liebevoll diskutieren, zu einer wirklich vertieften Einheit aber kaum kommen können.