Auswendiglernen – nicht nur ein Thema für Kinder
1. Allergische Reaktionen
Für viele ist schon das Wort „Auswendiglernen“ ein rotes Tuch. Sie sind selbst als Kinder zum Auswendiglernen genötigt worden und haben eine bleibende Allergie zurück behalten.
Wenn man als Pfarrer oder Lehrer bei Elternabenden für das Auswendiglernen wirbt, dann stößt man auf Argumente wie: „Kinder etwas auswendig lernen zu lassen, was sie gar nicht verstehen, ist doch eine mittelalterliche Methode … Sinnloses Pauken bringt nichts … Ich selbst kann mir auch nichts merken …“
Wie bei anderen Allergien geht es darum, heraus zu bekommen, was die Ursache für die Abwehrreaktion ist. Woher kommt es, dass so viele auf Auswendiglernen ablehnend reagieren? Verschiedene Faktoren spielen da eine Rolle. Die wichtigsten sind:
a) Freie Entfaltung kontra Erziehung?
Vor etwa 50 Jahren wurde in England die antiautoritäre Erziehung erfunden (Schule von Summerhill). Man war der Meinung, dass Kinder sich am besten entfalten können, wenn ihnen keinerlei Grenzen gesetzt werden. Alle Autoritäten, die etwas vorschreiben könnten, sind auszuschließen.
Inzwischen hat man längst gemerkt, dass das leider nicht funktioniert. In einer Gesellschaft mit anderen Menschen zusammenleben kann man nur, wenn man bestimmte Grenzen einhält und auf die Interessen anderer Rücksicht nimmt. Heranwachsende Kinder brauchen Grenzen. Sie suchen regelrecht danach. Wenn sie mit ihren Tests immer nur in Watte stoßen, werden sie nicht immer friedlicher, sondern aggressiver.1
Der Theologe Helmut Thielicke schreibt in einem seiner Bücher: „Wir alle kennen doch das eine oder andere ‚in Freiheit dressierte‘ Erziehungsprodukt irdischer Eltern und wissen, was das für unausstehliche Bengel zu sein pflegen – nicht nur anderen unausstehlich, sondern vor allem sich selbst eine Last, leidend an und zerfallen mit sich selber, höchst unglücklich in ihrer Scheinfreiheit, die nichts von Furcht und Ehrfurcht und Grenzen weiß.“2
b) Lernen ohne Zwang?
Diese antiautoritäre Welle wirkt noch nach, auch wenn die grundlegenden Fehler inzwischen erkannt sind. Zu den Nachwirkungen gehört, dass viele Eltern bis heute meinen, Schule müsse vor allem „Spaß machen“ und dürfe auf keinen Fall mit Anstrengung verbunden sein.
Ein Beispiel: Was wünscht eine Mutter heutzutage ihrem Kind, das früh aus dem Haus geht? „Viel Spaß in der Schule!“ Da darf man fragen: Muss Schule unbedingt Spaß machen? Nein, die Schule ist nicht dazu da, unsere Kinder zu „bespaßen“. Mit solchen Sprüchen werden völlig falsche Erwartungen geweckt.
Lernen und Bildung, die in der Schule vermittelt werden sollen, machen nicht nur Spaß, sondern verlangen vor allem Konzentration und Fleiß.3 Dazu gehört auch, dass ich Dinge lernen muss, deren Sinn ich nicht gleich voll erfasse oder begreife. Dass ich Buchstaben erkennen und schreiben lerne, damit ich etwas entziffern und lesen kann, ist ja vielen noch einleuchtend (es gibt allerdings auch bei uns immer mehr Analphabeten). Dass ich die Grundrechenarten beherrschen sollte, um im Alltag einigermaßen klar zu kommen, ist manchem schon nicht mehr zu vermitteln. Es gibt ja Taschenrechner, auch auf meinem Handy oder Smartphone. Dass ich ein Lied lernen soll, um es singen oder mit einem Instrument begleiten zu können, übersteigt bei vielen schon die Toleranzgrenze.4
c) Verstehen kontra Lernen?
Gern wird von Eltern als Argument angeführt: „Es ist besser, etwas zu verstehen, als es auswendig zu lernen!“ Das ist richtig – jedenfalls auf den ersten Blick. Natürlich plädiert kein vernünftiger Mensch dafür, unverstandene Inhalte einfach auswendig zu „büffeln“.5 So besteht man keine Prüfung und so wird man auch nicht tauglich fürs Leben.
Aber auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass mit diesem Argument (besser „verstehen“ als „auswendig lernen“) ein falscher Gegensatz aufgebaut wird. Lernen und Verstehen müssen und sollen sich nicht ausschließen. Wenn ich merke, dass mein Kind etwas nicht versteht (oder falsch versteht), was es sich einprägen soll, dann sollte ich reagieren. Ich muss erklären, was da gelernt wird – so gut es geht.6
Aber ich sollte nicht dem Irrtum verfallen, dass ein Kind nur das lernen darf und soll, was es zu 100% versteht und durchschaut. Erfahrene Pädagogen sagen uns etwas anderes. Ein Kind wächst nur dann in seiner Erkenntnis, wenn ich ihm nicht immer nur das vermittle, was es bereits kennt und voll versteht. Dann bleibt es auf der gleichen Stufe stehen, wo es stand. Geistiges Wachstum und Bildung geschehen vor allem durch die sog. „Mehrdarbietung“. Otto Schlißke schreibt dazu: Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der Pädagogik, dass „Kinder am stärksten an Dingen reifen, die sie zunächst nur zum Teil verstehen. Man fordert daher für allen Unterricht eine Mehrdarbietung.“7
Das heißt: Wir sollen unsere Kinder nicht möglichst unverständliches Zeug lernen lassen, sondern ihnen den zu lernenden Text – so gut es geht – erklären. Aber wir können auch davon ausgehen, dass sie nicht auf Anhieb alles begreifen, sondern im Lauf ihres Lebens immer weiter ins Verständnis des Gelernten eindringen.
d) Wie die Alten sungen …
Die Abneigung gegen das Lernen ist weniger ein Problem der Kinder, sondern der Eltern
Meine These ist: Die Abneigung gegen das Auswendiglernen ist weniger ein Problem der Kinder, die wir zu unterweisen haben, sondern der Eltern! Nicht wenige von ihnen wurden noch von den Resten der antiautoritären Welle beeinflusst. Sie sind z.B. oft der Auffassung, dass ihre Kinder nur das lernen sollten, was ihnen Spaß macht. Sie merken nicht, dass sie damit falsche Erwartungen in den Kindern wecken und ihnen selbst (ungewollt) den Zugang zum Lernen verbauen.
Eine solche Haltung kommt zum Ausdruck, wenn Eltern zu Haus dem Kind sagen: „Das ist ja fürchterlich, was du da alles lernen sollst. So ein sinnloses Auswendigpauken! Ich konnte mir als Kind auch nichts merken.“ So wird eine Aversion gegenüber dem Auswendiglernen gefördert. Damit hilft man dem Kind nicht – wie man meint –, sondern behindert es in seiner geistigen Entfaltung und Regsamkeit.
Besser wäre es, wenn die Eltern sagen: „Ich verstehe, dass dir das Lernen schwer fällt. Mir ist es als Kind auch so gegangen, weil mir niemand gezeigt hat, wie man das richtig macht. Das bedauere ich heute. Ich will dir helfen. Wir lesen den Text jetzt gemeinsam und sagen ihn jeden Tag zusammen auf.“ So wird dem Kind eine positive Haltung gegenüber dem Auswendiglernen vermittelt. Gemeinsame Erfolge spornen an.
2. Körperlich und geistig fit – sind wir das?
Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft. Uns geht es eindeutig zu gut. Wir wissen nicht mehr, was Mangel bedeutet. Wir können (fast) alles sofort haben: Obst und Südfrüchte im tiefsten Winter, Telefonate und aktuelle Informationen sofort übers Handy oder auf dem Notebook, jedes Essen, was uns schmeckt …
Wir können fast jede körperliche Anstrengung vermeiden. Wir benutzen Rolltreppen und Fahrstühle, statt Treppen zu steigen. Wir fahren auch kurze Strecken lieber mit dem Auto, als zu laufen. Wir können nicht mit dem Fahrrad zu unserer Arbeitsstelle fahren, weil wir da ins Schwitzen kommen – und Schweißgeruch ist heutzutage absolut unerträglich. Wer hat schon in der Firma eine Möglichkeit zum Duschen!
Die Folgen kennen wir: Mehr als die Hälfte unserer Bevölkerung ist übergewichtig. Wir bewegen uns zu wenig und essen zu gut. Gewiss: Es gibt Fälle krankhafter Veranlagung zur Fettsucht, das will ich nicht bestreiten. Aber das betrifft nur wenige Ausnahmefälle.
Manche machen sich selbst etwas vor. Etwa wenn sie behaupten: „Das liegt einfach in unserer Familie. Wir haben alle so einen starken Körperbau …“ Oder scherzhaft: „Bei mir reicht es schon, wenn ich morgens die fetten Schlagzeilen in der Zeitung lese, um zuzunehmen …“ Viele haben auch ein schlechtes Gewissen dabei, weil sie sich falsch ernähren und zu wenig bewegen. Oder der Arzt sagt es ihnen.
Wenn wir begreifen, dass es uns an körperlicher Fitness fehlt, bleibt nur, dass wir etwas dafür tun. Dann gehen wir ins Fitnessstudio, fangen an mit Joggen, Nordic-Walking oder Radfahren. Auf diese Weise gelingt es (mit viel Mühe), überflüssige Pfunde abzubauen.
Was wir aus dem körperlichen Bereich kennen, gibt es auch im geistigen Bereich (wohlgemerkt: geistig, nicht geistlich! Darum geht es später noch). Hier leiden wir weniger an Überernährung, sondern an Unterernährung. Auch hier siegt unsere Bequemlichkeit und macht uns träge. Wir haben es nicht mehr nötig unser Gehirn anzustrengen: Wenn wir 29+15 addieren müssen, nehmen wir den Taschenrechner. Eine Telefonnummer oder einen Geburtstag muss ich mir nicht mehr merken. So etwas zeigt mir mein Handy oder Notebook an. Um auf Reisen mit dem Auto zurecht zu kommen, brauche ich keinen Orientierungsinn und keine Landkarte mehr, da sagt mir die freundliche Dame im Navigationsgerät: „Nach 100 Metern rechts abbiegen.“
Und dann gibt es die segensreiche Erfindung des Internets. So bekommen wir innerhalb kürzester Zeit (sofern wir nicht gerade in einem Funkloch stecken) unendliche viele, topaktuelle Informationen. Wir brauchen keine Briefe mehr zu schreiben und zum Briefkasten zu bringen. Unsere e-Mails erreichen ihre Empfänger nach wenigen Sekunden in Amerika oder Australien.
Problematisch wird das Ganze vor allem dadurch, weil wir unseren Geist nicht mehr anstrengen müssen. Wir haben direkten Zugang zu einer beispiellosen Menge von Wissen. Wir müssen uns nicht die Mühe machen, irgendwelche Fakten oder Daten umständlich nachzuschlagen oder zu recherchieren. Es ist alles sofort abrufbar. Wir werden durch eine Flut von Informationen förmlich überschwemmt. Aber die Menge bürgt nicht automatisch für Qualität. Die Masse der Nutzer (user) ist keine Garantie für die Wichtigkeit oder den Wahrheitsgehalt. Bei den bekanntesten Suchmaschinen (wie z.B. Google) rangieren die Seiten an erster Stelle, die am häufigsten aufgerufen werden. Das besagt nichts über ihren Wert. Vielleicht steht der beste Beitrag zu meinem Thema auf Seite 23. Aber soweit komme ich gar nicht beim Blättern.
Die sog. „sozialen Netzwerke“ (z.B. Facebook) sind genau besehen eigentlich ganz „unsozial“. Sie verleiten dazu, mit anderen Menschen nur noch elektronisch zu verkehren, statt ihnen persönlich zu begegnen. Vieles beruht da auf Selbsttäuschung. Am Ende glaube ich selbst noch, so zu sein, wie ich mich im Internet „geschönt“ darstelle.
In einer christlichen Zeitung wurde kürzlich die Frage diskutiert, ob das Internet dumm macht.8 Ich kann dem Ergebnis des Beitrages zustimmen: Das Internet macht keineswegs zwangsläufig dumm! Man kann auch diesesMedium sinnvoll nutzen, wenn man lernt damit umzugehen. Bei nicht wenigen – gerade auch jungen – Menschen führt der häufige Internetgebrauch allerdings zu krankhaften Erscheinungen. Man spricht von „digitaler Demenz“. Wo diese vorliegt, da lässt man sich nur noch von den elektronischen Medien berieseln und ist zu keiner geistigen Anstrengung oder Entscheidung mehr fähig. Dabei braucht gerade unser Gehirn die aktive Bewegung, wenn es nicht einrosten soll. Denn:
„Das menschliche Gehirn besteht aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen, die dadurch lernen, dass sich die Verknüpfungen zwischen ihnen gebrauchsabhängig verändern. Dabei wird das Gehirngewebe zuweilen – wie ein Muskel – messbar größer oder dichter. Etwa eine Million Milliarden solcher Verknüpfungen – die Synapsen – unterliegen in der permanenten Großbaustelle Gehirn einem beständigen Abbau, Neubau und Umbau: Was nicht eingesetzt wird, wird weggeräumt; nur wenn Neues gelernt wird, entstehen neue Verbindungen. Daraus folgt: Täglich 7,5 Stunden Mediennutzung (das ist der Durchschnitt bei Schülern!) muss im Gehirn eines Kindes oder Jugendlichen zwangsläufig schwere negative Auswirkungen haben.9
3. Geistlich fit sein – das kann man lernen
Was wir bisher allgemein über das Lernen und geistige Fitness gesagt haben, geht nun aber in besonderer Weise auch uns als Christen etwas an. Das Auswendiglernen begegnet uns ja als Problem meist erstmals in der kirchlichen Unterweisung. Lange bevor Lehrer in der Schule wagen, ihren Schülern derartiges abzuverlangen, haben Pfarrer und Eltern damit zu tun. Und da kommen dann die Fragen: Kann man von Kindern schon im ersten Schuljahr verlangen, dass sie Liedverse, Katechismusstücke (Gebote, Glaubensartikel) oder Bibelsprüche auswendig lernen? Ist das nicht zu viel verlangt? Schreckt das die Kinder nicht ab? Sie sollen doch Gefallen am christlichen Glauben und ihrer Gemeinde finden!
Dass bei solchen Überlegungen eigene schlechte Erfahrungen und unrealistische pädagogische Erwartungen eine Rolle spielen, haben wir (oben) schon gesehen.
Das Einprägen von Bibelworten oder Liedversen gehört zum unerlässlichen Handwerkszeug eines Christen
Ich möchte hier aber noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Das Einprägen von Bibelworten oder Liedversen gehört zum unerlässlichen Handwerkszeug eines Christen. In der Bibel wird uns das jedenfalls an nachahmenswerten Beispielen vorgeführt:
Schon im 1. Psalm heißt es:
„Wohl dem …, der Lust hat am Gesetz (Wort) des Herrn und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! Der ist wie ein Baum gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, gerät wohl!“ (Ps 1,2f.)
Im Neuen Testament wird Timotheus ermahnt:
„Du aber bleibe bei dem, was du gelernt hast und was dir anvertraut ist; du weißt ja, von wem du gelernt hast und dass du von Kind auf die Heilige Schrift kennst, die dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus …“ (2Tim 3,14f.).
Und von Maria heißt es in der Weihnachtsgeschichte zweimal: „Sie behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen“ (Lk 2,19+51).
Gerade das zuletzt genannte Beispiel der Maria zeigt, worum es beim Auswendiglernen von Gottes Wort eigentlich geht. Sie „behält“ die Worte, d.h. sie prägt sie sich ein. Nicht nur äußerlich, damit sie diese auf Abfrage gedankenlos herunterrasseln kann. Sie merkt sich diese Worte, damit sie darüber in aller Ruhe nachdenken kann.
In der englischen Sprache sagt man für unser Auswendiglernen „to learn by heart“ (mit dem Herzen lernen). Genau das tut Maria. Unser deutscher Ausdruck „auswendig lernen“ lenkt unsere Vorstellungen in eine falsche Richtung. Es geht ja beim Lernen von Gottes Wort gerade nicht darum, etwas „nur äußerlich“ festzuhalten! Sondern das Lernen dient dem tiefen inneren Einprägen. Wir müssten also besser sagen „inwendig lernen“.
Was von Maria berichtet wird, das nennt man heute gern „Meditation“, d.h. tieferes Eindringen durch Nachdenken und Sich-Beschäftigen damit. In diesem „biblischen“ Sinne benutzte auch Luther den Begriff „Meditieren“, wenn er schrieb:
„Du sollst meditieren, das ist, nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich, die mündliche Rede und buchstäblichen Worte im Buch immer treiben und reiben, lesen und wieder lesen, mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der Heilige Geist damit meint. Und hüte dich, dass du nicht überdrüssig wirst, oder denkst, du hast es einmal oder zwei genug gelesen, gehört, gesagt, und verstehst es alles bis auf den Grund; denn da wird nie ein guter Theologe daraus.“10 Und das gilt auch für jeden Christen.
Damit stehen wir noch einmal vor der Frage der Motivation. Warum sollte ich mir die Mühe machen, Bibelworte oder Liedverse auswendig zu lernen? Welchen Sinn hat das? Dafür gibt es mindestens drei gute Gründe:
Den ersten Grund nennt Luther im angeführten Zitat: Damit ich immer besser und tiefer in Gottes Wort und seinen Sinn eindringen kann. Das war es, was Maria tat. Sie lernte im Lauf der nächsten Jahre immer besser verstehen, was da bei der Geburt ihres Sohnes Jesus gesagt worden war, nicht zuletzt unter dem Kreuz. – Auch uns geht es so, dass wir den Tiefgang einer Bibelstelle (z.B. unseres Tauf- oder Konfirmationsspruches) erst viel später begreifen lernen – oft genug auch unter dem Kreuz, das uns auferlegt wird. Dazu müssen wir das Wort aber kennen und nicht längst vergessen haben.
Der zweite Grund: Es ist sinnvoll, sich so etwas wie eine „eiserne Reserve“ für den Glauben anzulegen, d.h. einen Vorrat für die Not. Es gibt bewegende Berichte von Christen, die als Gefangene in Straflagern jahrelang ohne Bibel auskommen mussten und sich nur mit auswendig gelernten Bibelworten geistlich über Wasser halten konnten.
Und: Heute erleben wir es, dass immer mehr Menschen so alt werden, dass sie nicht mehr selbst in der Bibel lesen können. Da ist es eine große Hilfe, wenn man an bekannte Worte anknüpfen kann. Bei Andachten in Pflege- und Altersheimen erlebt man es immer wieder, dass völlig apathische Menschen plötzlich einen Liedvers oder einen Bibelspruch mitsprechen oder –singen, den sie als Kind gelernt haben. Leider ist bei sehr vielen Menschen diese Reserve nur äußerst gering, weil man sich in den großen evangelischen Kirchen schon seit mehr als 50 Jahren davon verabschiedet hat, Kinder Bibelworte oder ähnliches auswendig lernen zu lassen. Wenn ich mir aber als Kind nur Kindergebete eingeprägt habe11 , dann bleiben auch nur diese in der tiefsten Schicht meines Gedächtnisses hängen.
Noch ein dritter Grund sei genannt: Das Auswendiglernen macht Sinn, weil es unsere Sprachfähigkeit in Sachen des Glaubens verbessert. Seit Jahren wird in den evangelischen Landeskirchen geklagt, dass es kaum noch Christen gibt, die in Worten ausdrücken können, was sie glauben. Deshalb werden neuerdings verstärkt Glaubenskurse angeboten, damit Christen lernen, was sie eigentlich glauben. – Dabei ist eine durch regelmäßiges Lesen erworbene Bibelkenntnis von unschätzbarem Wert.
Der bekannte Theologieprofessor Michael Herbst (Greifswald) beantwortete die Frage, ob er mit der Bibel unter dem Arm zu Seelsorgegesprächen geht, in seinem jüngsten Buch so: „Nein. Aber ich bringe meinen Studenten bei, die Bibel als Seelsorger zu lesen. Und wenn ich mit der Bibel lebe, kann ich darauf hoffen, dass mir die geeigneten Worte im richtigen Moment auch zufallen …“12
Hier kommt übrigens auch Luthers Kleiner Katechismus ins Spiel. Er liefert uns eine geniale Zusammenfassung der zentralen biblischen Lehren. Mancher Formulierung merkt man an, dass sie 500 Jahre alt ist. Aber bisher hat es noch keiner geschafft, etwas Vergleichbares in so komprimierter und einprägsamer Sprache auf Deutsch zu verfassen.
Praktische Hilfen fürs Lernen
Es war schon die Rede davon, wie viel beim Lernen von den Beweggründen (Motivation) abhängt. Und weil die Abneigung gegen das Auswendiglernen häufig mit der falschen Herangehensweise bzw. den schlechten Erfahrungen der Eltern zusammenhängt, sollen hier noch ein paar Tipps aus der Praxis folgen.
Auswendiglernen selbst will gelernt sein. Es ist eine Kunst, sich etwas einzuprägen, um es zu behalten und nutzen zu können. Früher sprach man von der „Ars memorandi“, der Kunst sich etwas zu merken (memorieren). Was dieser Begriff meint, wird an einem Beispiel deutlich:
Was ein Memory-Spiel ist, weiß heute jedes Kind. Es geht darum, wo das gleiche Motiv (Bild) schon einmal aufgetaucht ist. Kinder sind Meister darin. Selbst Vorschulkinder schlagen locker die Erwachsenen. Sie haben ein unverbrauchtes und vor allem optisch orientiertes Gedächtnis. Sie erfassen die Spielfläche mit einem Blick und speichern den Eindruck im Gehirn auf ihrer Festplatte als Grafik ab.
Was hier spielerisch geschieht und Kindern Spaß macht, sollte man auch für das gezielte Einprägen von Wissen (Lernstoff) nutzen.
Tipp 1: Was Hänschen lernt, lernt Hans immer mehr!
Das Bsp. Memory-Spiel zeigt, dass Kinder besonders gut sind, wenn es darum geht, sich etwas einzuprägen. Das liegt daran, dass ihr Gehirn noch voll aufnahmefähig und unverbraucht ist. Sie saugen alles, was sie hören, sehen oder erleben, auf wie ein Schwamm. Das gilt im Positiven wie im Negativen. Deshalb spricht man davon, dass frühkindliche Erfahrungen für das ganze Leben prägend sein können.
Wir sollten das für das Aneignen von Wissensstoff und Fähigkeiten nutzen. Man kann mit dem gezielten Lernen bei Kindern kaum zu früh anfangen. Zwischen dem 3. und 8. Lebensjahr scheint ihre Aufnahmefähigkeit am Größten zu sein.
Danach nimmt sie schon wieder ab. Deshalb ist es töricht, wenn Eltern meinen, ihre Kinder sollten im 1. oder 2. Schuljahr möglichst noch nicht mit Lernen oder gar Auswendiglernen strapaziert werden, um ihnen nicht die „schöne Kindheit“ zu verderben. Normal entwickelte Kinder wollen in diesem Alter lernen. Sie sind richtig heiß darauf.13 Da kann man erleben, dass sich der große Bruder im 2. Schuljahr mit dem Lernen eines Katechismusstückes abquält, während ihm die fünfjährige Schwester vorsagt, die noch nicht einmal selbst lesen kann. Sie hat den Lernstoff nach mehrfachem Hören schneller drauf als der Bruder. Also, nur Mut, trauen Sie ihren Kindern (Enkeln) ruhig etwas zu!
Nun ist aber das Lernen nicht etwa eine Kunst, die man entweder als Kind beigebracht bekommen hat, oder man lernt sie nie. Nein, man kann sich das auch später noch ganz gut aneignen. Es fällt eben nur schwerer, weil unser Gedächtnis (unsere Festplatte) inzwischen mit allem Möglichen ausgefüllt ist. Und wie wir schon gehört haben:Unser Gehirn wird immer träger, je weniger wir es belasten. Deshalb ist es schon für die geistige Fitness nötig, dass wir mit zunehmendem Alter ganz bewusst weiter Neues aufnehmen und verarbeiten. Da ist es gut, wenn man auf Vorhandenes aufbauen kann.
Das gilt vor allem auch im geistlichen Bereich. Was ich als Kind oder Jugendlicher an Bibelworten und Liedversen gelernt habe, das kann ich in späteren Jahren verarbeiten und sinnvoll anwenden. Und ich sollte nie aufhören, weiter zu lernen. Nichts ist dem Teufel lieber, als wenn ein Christ träge wird und nur noch „vom Eingemachten lebt“ (d.h. vom Konfirmandenwissen).
Das setzt voraus, dass ich nicht bequem werde und jede Anstrengung zu vermeiden suche. Regelmäßiges Lesen in der Bibel und die Teilnahme am Leben meiner Gemeinde erfordern einiges an Selbstüberwindung und Ausdauer. Aber es ist schon so, wie es der Karikaturist Wilhelm Busch einmal auf den Punkt gebracht hat: „Der liebe Gott muss immer zieh‘n, dem Teufel fällt‘s von selber zu.“
Tipp 2: Weniger ist oft mehr!
Es gibt Christen, die nehmen sich vor, mindestens einmal im Jahr die ganze Bibel durchgelesen zu haben. So lobenswert es ist, fleißig in Gottes Wort zu lesen: Ich frage mich, was es bringen soll, wenn man Bibellesen als eine Art Extremsport-Ersatz betreibt. Wenn ich meinen Körper mit Nahrungsmitteln vollstopfe, dann zeigen sich beizeiten Abwehrreaktionen. Auch bei geistlicher Nahrung kommt es auf die Dosierung an. Weniger ist da oft mehr, zumindest besser verdaulich.
In Klöstern halten die Mönche über den ganzen Tag verteilt ihre Stundengebete. Dabei werden ein oder mehrere Psalmen gesungen. Innerhalb eines Jahres kommt man so durch den ganzen Psalter. Das klingt gut. Aber M. Luther, der das selbst jahrelang praktizieren durfte, klagt heftig darüber, dass man dadurch zum gedankenlosen Plappern der Texte verleitet wird.
So etwas mag wohl auch Nikolaus von Zinzendorf (1700-1760) als abschreckendes Beispiel vor Augen gehabt haben, als er 1731 damit begann, seiner Brüdergemeinde in Herrnhut jeden Tag einen Bibelvers (später zwei) als Losung mit auf den Weg zu geben. Diesen einen Vers konnte man sich merken und den ganzen Tag darüber nachdenken (ihn im Herzen bewegen). – Natürlich kann man diese „Losungen“ missbrauchen, indem man sie wie ein Horoskop für den Tag benutzt oder indem man immer nur diesen einen bzw. zwei Verse liest. Aus dem Zusammenhang gerissen kann er leicht missverstanden werden. Und Zinzendorf wollte damit alles andere als vom täglichen Bibellesen abhalten!
Wir sollten uns deshalb, wenn wir uns als Erwachsene Bibelworte oder Liedverse einprägen, nicht zu viel vornehmen. Eine begrenzte Menge ist sinnvoller, als wenn ich mich überfordere und bald frustriert wieder aufhöre. Kleine Schritte liefern Erfolgserlebnisse, die zum Weitermachen anregen.
Auch bei Kindern dürfen wir den Bogen nicht überspannen. Gewiss, sie sind sehr aufnahmefähig. Aber wenn wir zu viel fordern, erreichen wir nicht selten das Gegenteil: statt Lust und Freude – Frust und Ablehnung.
Tipp 3: Jeder nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten!
Schon beim Lernen der Kinder kann man beobachten, dass es erhebliche Unterschiede in der Auffassungsgabe gibt. Die Einen lesen oder hören einen Text ein- oder zweimal und kennen ihn anschließend auswendig. Andere brauchen tagelange Wiederholungen, um sich etwas einzuprägen.
Das hat nichts mit Intelligenz oder Dummheit zu tun. Es gibt einfach verschiedene Lerntypen. Da sind zum einen die Blitzmerker (Schnelllerner), denen das Behalten scheinbar nur so zufällt. Sind sie nicht zu beneiden? Andere quälen sich Stunden und Tage lang herum, bis etwas in ihrem Gedächtnis hängen bleibt. Ist das nicht ungerecht?
Hier ist Vorsicht geboten. Wir urteilen schnell oberflächlich. Die Blitzmerker haben den Lernstoff zwar schnell parat, aber sie vergessen ihn auch ebenso schnell wieder. Er muss deshalb in der nächsten Zeit häufig wiederholt werden, damit er dauerhaft hängen bleibt. Die Langsamen brauchen mehr Zeit, um den Lernstoff aufzunehmen. Aber wenn sie ihn einmal gespeichert haben, dann sitzt er auch – und zwar meistens auf Dauer.
Wir sehen daran: Es ist nötig, dass jeder selbst seine Fähigkeiten testet. Ich muss herausfinden, welcher Lerntyp ich bin. Neben den genannten beiden Extremen gibt es natürlich jede Menge Übergangsformen. Wenn ich ein Blitzmerker bin, dann sollte ich genügend Zeit zur Wiederholung einplanen, um gegen das Vergessen gewappnet zu sein. Wenn ich etwas langsamer aufnehme und verarbeite, dann brauche ich mich nicht entmutigen zu lassen. Meine Stärke liegt dann im besseren Behalten.
Zu den individuellen Besonderheiten gehört auch, dass ich herausfinden muss, über welches Medium (Mittel) mein Gehirn am besten ansprechbar ist.
a) Viele Menschen sind optische Typen, d.h. sie nehmen am besten auf, was sie gesehen haben. Es gibt Leute, die können sich noch nach Jahren erinnern, in welcher Straße oder welchem Haus sie schon einmal gewesen sind. Oder sie können zwar sagen, wo etwas steht, wissen aber nicht genau was da steht.
Bsp.: Unsere Theologiestudenten müssen in der Bibelkunde lernen, an welchen Stellen wichtige Bibelwortestehen. Auf die Frage: „Wo steht ‚Also hat Gott die Welt geliebt‘“, antwortete mir ein Student: „Das steht in meiner Bibel in der linke Spalte oben.“ Er hatte es vor Augen, konnte sich aber die Stellenangabe (Joh 3,16) nicht merken.
b) Es gibt aber nicht nur optische Typen. Andere sind akustisch veranlagt. Sie müssen einen Lerntext mehrfach laut lesen, damit sie ihn im Gehör haben, dann merken sie ihn sich.
c) Bei nicht wenigen Menschen geschieht das Einprägen auch durch „Bewegung“. Man spricht vom motorischen Typ: Sie müssen den Text irgendwie selbst „bewegt“ haben, damit er hängen bleibt. Das kann dadurch geschehen, dass ich etwas z.B. mit der Hand aufschreibe oder auch durch Singen bewege. Gerade bei Liedern ist das Singen eine ideale Methode zum Vertiefen. Das ist ein Grund dafür, warum sich die Botschaft der Reformation vor allem auch durch Choräle verbreitet hat.
Was wir einmal gesungen haben, womöglich als schwierigen Chorsatz eingeübt haben, dringt tief in unser Gedächtnis ein. Ich kann mich heute noch an Chorsätze erinnern, die uns bei Singewochen vor 40 Jahren beigebracht worden sind. Und auf diese Weise lassen einen ja nicht nur die Melodien, sondern auch die gesungenen Texte nicht los.
Tipp 4: Nicht jeder Text ist fürs Lernen gemacht!
Beim Auswendiglernen spielt es eine große Rolle, ob Texte dafür geeignet sind oder nicht. Es gibt Texte, die direkt für das Einprägen geschaffen wurden. Das gilt zum Beispiel für Lieder, die durch ihren Reim oder ein bestimmtes Versmaß besser im Gedächtnis haften bleiben. Wenn sich die nächste oder übernächste Verszeile reimen oder die Betonung auf eine wichtige Silbe fällt, kann das kolossal hilfreich sein. Wir kennen das alle von Gedichten, die wir in der Schule lernen mussten.
Prosatexte sind meist weniger einprägsam. Aber auch hier kann man durch geschickte Wortwahl und Wortstellung zur Einprägsamkeit beitragen. Wir kennen das z.B. von Bibelversen. Da spielt die sprachliche Kunst des Übersetzers eine erhebliche Rolle. Manche von den neueren deutschen Bibelübersetzungen ist zwar relativ flüssig zu lesen, aber kaum lernbar. Nehmen wir zum Vergleich zwei bekannte Stellen:
Mt 11,28
Kommt her zu mir alle14 , die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. (Luther)
Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben. (Hoffnung f. alle, 2002)
Kommt alle her zu mir, die ihr müde seid und schwere Lasten tragt, ich will euch Ruhe schenken. (Neues Leben, ähnl. Einheitsübersetzung)
Röm 3,28
So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. (Luther)
Also steht fest: Nicht wegen meiner guten Taten werde ich von meiner Schuld freigesprochen, sondern erst, wenn15 ich mein Vertrauen allein auf Jesus Christus setze. (Hoffnung f. alle, 2002)
Wir werden durch den Glauben vor Gott gerechtfertigt und nicht durch das Befolgen des Gesetzes. (Neues Leben)
Dass der Luthertext leichter eingängig zu sein scheint und sich besser lernen lässt, liegt nicht nur daran, dass wir an ihn gewöhnt sind. Es hat auch etwas mit Luthers außergewöhnlichen dichterischen Fähigkeiten zu tun. Das räumen heute sogar evangelikale Fachleute ein, die nicht mit der Lutherbibel groß geworden sind.16
Arndt E. Schnepper stellt in einem Buch die (seiner Meinung nach) 28 schönsten Bibeltexte zum Auswendiglernen zusammen und er sagt dazu:
„In allen Fällen habe ich auf die Übersetzung Martin Luthers (Revision von 1984) zurückgegriffen. Für sie gibt es meines Erachtens keine Alternative. Ihre einprägsamen und sprachlich schönen Sätze erleichtern das Auswendiglernen an vielen Stellen. Andere Bibelübersetzungen mögen exakter und moderner sein, zum Auswendiglernen fehlt ihnen meist die Prägnanz.“17
M. Luther weicht nicht selten von der üblichen deutschen Wortfolge ab (auch im Katechismus). Das ist zwar dann grammatisch nicht ganz korrekt, aber kein Versehen, sondern gewollt. Durch die Umstellung der Worte erreicht er, dass ein wichtiges Wort hervorgehoben wird.
Beispiel: „…und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ (Mt 28,20). Grammatisch korrekt müsste es heißen: „…lehret sie alles halten, was ich euch befohlen habe“. Durch Luthers Wortfolge wird das „alles“ betont – und das mit voller Absicht.
Auch durch die Benutzung von Formen des altdeutschen Stabreims (Alliteration) erreicht Luther eine gewollte Einprägsamkeit.
Beispiel: „Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euern Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,16). Im ersten Satzteil beginnen 4 Worte mit „L“. Bei dreien von ihnen folgt ein heller Vokal („e“ oder „i“). Das ist Absicht: Es soll zusätzlich der einladend-freundliche Ton dieses Satzes vermittelt werden.
Als Hilfe zum Lernen können auch sog. „Eselsbrücken“ oder Merkhilfen dienen. Manches merkt man sich einfach besser, wenn man bewusst eine Gedankenverbindung damit verknüpft. So lassen sich z.B. Jahreszahlen oder Daten leichter einprägen.18
Tipp 5: Die beste Zeit am Tag ist mein!
Als Letztes noch ein Tipp zur Lernmotivation. Das Erlernen von Texten (Lyrik oder Prosa) ist nicht nur eine Aufgabe für Kinder, wie ich schon am Anfang zu zeigen versucht habe. Auch als Erwachsener sollte ich mich damit beschäftigen. Das kann richtig Freude machen, auch wenn es uns Älteren nicht mehr so leicht fällt wie Kindern.
Wichtig ist dafür, dass ich meine (vielleicht) negativ geprägte Haltung gegenüber dem Auswendiglernen überdenke und gegebenenfalls zu korrigieren versuche. Ich kann mir z.B. vornehmen, bekannte Bibelverse nach und nach zu lernen (oder sie mir wieder einzuprägen). Es ist ratsam, dabei in kleinen Schritten vorzugehen: Etwa indem ich mir jede Woche einen Vers vornehme und ihn jeden Tag morgens und abends laut lese und aus dem Gedächtnis wiederhole (z.B. den Wochenspruch, der am Ende unserer Sonntagsgottesdienste verlesen wird).
Jeder sollte sich dafür eine günstige Zeit im Tagesablauf wählen. Mancher nimmt sich früh Zeit, um Andacht zu halten, ehe er aus dem Haus geht. Da kann der eingeübte Vers mich durch den Tag begleiten. Andere finden eher am Ende des Tages Ruhe für Andacht und Gebet. Dann nehme ich einen gelernten Vers mit in die Nacht und kann ihn bei Schlaflosigkeit wiederholt abrufen. Psychologen sagen uns, dass das, was ich am Abend als Letztes sehe oder höre tiefer als anderes in mein Bewusstsein eindringt. Warum sollte das nicht ein Bibelspruch oder Choralvers sein?
Schließlich: Es fällt den meisten von uns leichter, wenn wir etwas gemeinsam tun. Das ist schon bei der körperlichen Fitness so. Solange wir allein gegen unseren alten Schweinehund ankämpfen, lassen wir die Jogging-Runde oder andere sportliche Übungen gern mal ausfallen. Wenn wir es aber mit Freunden zusammen tun, macht es Spaß. Und unser alter Adam ist im Zugzwang, er möchte sich vor anderen nicht blamieren. Deshalb gehen viele gemeinsam ins Fitnessstudio.
Können wir das nicht auch für unser geistliches Fitnessprogramm nutzen? Etwa indem wir mit unseren Kindern, unserem Ehepartner oder Freunden gemeinsam lernen, z.B. bei der Andacht einen Bibelvers gemeinsam ansagen oder ein Lied auswendig singen?
Das heilbringende und heilende Wort unseres Gottes ist es wert, dass wir unsere Phantasie einsetzen, um ihm in unseren Herzen Raum zu schaffen. Wäre es nicht schön, wenn man auch von uns wie von Maria sagen könnte: „Sie behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen“ (Lk 2,19.51)?
Der Vortrag wurde beim ELFK-Samstagseminar im Oktober 2012 in Saalfeld und bei der Pastoralkonferenz im Juni 2013 in Nerchau gehalten. (Für „Biblisch Glauben, Denken, Leben“ mit freundlicher Genehmigung des Verfassers leicht gekürzt. d.Red.)
Die verschiedenen Formen des jugendlichen Protestes (Punkszene, rechte Ideologien) sind oft eine Folge davon, dass Kinder nicht zum Respekt vor anderen und vor Grenzen der eigenen Freiheit erzogen worden sind. Man versucht aufzufallen und Widerspruch hervorzurufen, wenn nötig – um jeden Preis. ↩
H. Thielicke, Das Bilderbuch Gottes, Gütersloh 1959, S. 14. ↩
Dass Kinder „spielend lernen“ sollen, war das berühmte pädagogische Konzept von Friedrich W. A. Fröbel (1782-1852). Aber seine Spieltheorie bezieht sich auf die frühkindliche (d.h. vorschulische) Erziehung. Das sollte man beachten! ↩
Singen und Musizieren fördert nachgewiesenermaßen die Koordinationsfähigkeit des Gehirns mehr als vieles andere. Das zeigen Untersuchungen an Schülern aus den letzten Jahren. ↩
Aus Erich Kästners Rede zum Schulanfang stammt der berühmte Satz: „Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln.“ ↩
Beispiele gefällig? Ein Kind lernt das Lied „Tochter Zion, freue dich“ so: „Doktor Zion, freue dich“. Oder: „Nun bitten wir den Heiligen Geist um den rechten Glauben allermeist, dass er uns behüte an unserem Ende, wenn wir heimfahrn aus diesem Gelände (Elende)“. Oder: „…und aus den Wiesen steiget der weiße Neger Wumbaba (Nebel wunderbar)“. – Fazit: Wenn man selbst als Kind keine Choräle gelernt hat, kann man die köstlichen Bücher von Axel Hacke nicht verstehen! ↩
Zit. nach: Gisela Opitz, Guten Morgen, schöne Welt; Berlin EVA 1980, S. 155. ↩
Idea Spektrum 2012/35, S.18ff. ↩
Manfred Spitzer, Digitale Demenz, Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München Droemer 2012 (zit. aaO.). ↩
WA 50,659; Walch² 14,434ff. ↩
Zum Beispiel: „Ich bin klein, mein Herz mach rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“ ↩
Michael Herbst, Beziehungsweise, Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, 2012 (zit. nach: Idea Spektrum 2012/34, S. 16). ↩
Vgl. dazu z.B. neuerdings: Michael Winterhoff, Tyrannen müssen nicht sein, Warum Erziehung allein nicht reicht – Auswege, Gütersloh 2011 (Goldmann-TB 17202), S. 211f. ↩
Luther betont durch die außergewöhnliche Wortstellung das „alle“. ↩
Die Rechtfertigung wird hier durch das „wenn“ (Bedingungl) von meiner Zustimmung abhängig gemacht. Aber durch Christi Opfertod sind alle Menschen gerechtfertigt, nur nehmen nicht alle dieses Angebot an! ↩
Allerdings lässt es sich auch nach der Übersetzung „NeÜ bibel.heute“ sehr gut auswendig lernen wie Erfahrungen beweisen. d.Red. ↩
A. Schnepper, Brunnen für die Seele, Wuppertal R. Brockhaus 2010, S. 34. ↩
Altbekanntes Bsp. für den wichtigen Sieg Alexanders des Großen bei Issos (Türkei) im Jahr 333 v.Chr., der ihm den Weg nach Osten öffnet: „Drei-drei-drei = bei Issos große Keilerei.“ Oder aus der Bibelkunde: 4 x 6 = 24 für den Anfangsvers des Aaronitischen Segens: „Der Herr segne dich und behüte dich…“ (4 Mose 6,24). ↩