Gisa Bauers Habilitationsschrift wurde vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Leipzig angenommen und als Band 53 in der Reihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ veröffentlicht.
Die breit angelegte und mit Sorgfalt verfasste Studie untersucht das Verhältnis der westdeutschen Landeskirchen zur evangelikalen Bewegung im Zeitraum 1945 bis 1989. Es versteht sich von selbst, dass dabei die Evangelikalen der Freikirchen (Baptisten, Pfingstler usw.) nur am Rand Erwähnung finden. Bauer lenkt ihre Aufmerksamkeit vielmehr auf die „Wort-Evangelikalen“, also jene, die vor allem mit der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, der Konferenz Bekennender Gemeinschaften, der Gemeinschaftsbewegung und als Landeskirchler mit der Deutschen Evangelischen Allianz verbunden sind.
Gisa Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945-1989), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, Hardcover: 796 Seiten, 118,00 €, ISBN: 978-3-525-55770-9
Die Autorin braucht einen langen Anmarsch, ehe sie auf das eigentliche Thema ihrer Arbeit zu sprechen kommt. Auf über 100 Seiten definiert sie zunächst „evangelikal“ und „evangelikale Bewegung“, stellt ausführlich das evangelikale Bibelverständnis dar und versucht, die Unterschiede zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus herauszuarbeiten. Auf weiteren fast 150 Seiten setzt sie sich dann mit den – wie sie sie nennt – „evangelikalen Trägergruppen“ (Gemeinschaftsbewegung, Volksmissionen und Evangelischer Allianz) auseinander. Aber erst auf Seite 259 wird dann der Auslöser des Konflikts unter die Lupe genommen: die Bultmannkontroverse.
Sehr kenntnisreich und ausführlich stellt die Verfasserin diese Kontroverse dar, die in zwei Phasen verlief (1947-1953 und 1961-1963). Da es zu diesem Themenkomplex bisher nur wenige Veröffentlichungen gibt, bestand die Aufgabe der Autorin darin, das umfangreiche Archivmaterial der Landeskirchenämter und anderer Institutionen auf die Themenstellung hin zu durchforschen. Ungezählte Protestbriefe von Laien und Theologen erreichten in den genannten Jahren die Landeskirchenämter. In ihnen wurde vehement gegen den wachsenden Einfluss der Kerygma-Theologie bultmannscher Prägung protestiert und davor gewarnt, dass sie die „Heilstatsachen“ der Bibel leugne, den Theologennachwuchs in die Irre führe und die Gemeinden zerstöre. Bauer zeigt, wie verunsichert die Landeskirchenleitungen und die EKD reagierten und wie tief der Riss in Pfarrerschaft und Kirchenleitung war.
Im letzten großen Abschnitt ihrer Arbeit geht die Verfasserin ab Seite 437 auf den evangelikalen Konflikt mit den Landeskirchen ab Mitte der 60er Jahre ein. Ausgehend vom Dortmunder Bekenntnistag im März 1966, der mit seinen 25.000 Besuchern eine neue Qualität des Protestes gegen die moderne Theologie darstellte, über die zahlreichen Auseinandersetzungen der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ mit den Landeskirchenleitungen bis hin zur Gründung von „Kirchlichen Sammlungen um Bibel und Bekenntnis“ und der „Konferenz Bekennender Gemeinschaften“ werden alle wichtigen Stationen dieses Konflikts nachgezeichnet. Hier geht die Autorin auch auf die sozialethischen und ökumenischen Themen ein, die in den 70er Jahren mehr und mehr in den Fokus der evangelikalen Bewegung traten. Weil die Landeskirchen und die EKD eine liberalere Haltung zu Abtreibung, Teilfreigabe der Pornographie, Homosexualität, Ökumene usw. hatten (und haben), war es ganz natürlich, dass auch auf diesen Feldern ein Konflikt zwischen Evangelikalen und offizieller Kirche entstand.
Bauer resümiert, dass der evangelikale Protest sich an der „modernen Theologie“ entzündete und „ohne die Differenziertheit in der Theologie zu berücksichtigen, von der kirchlichen Peripherie gegen das Zentrum, die Landeskirchenleitungen, gerichtet“ (671) war. Doch will die Autorin die evangelikale Bewegung nicht als typische Protestbewegung verstehen, sondern als „neue soziale Bewegung“ mit einem gewissen Protestpotenzial. Dabei ist es Bauer wichtig zu betonen, dass das (bisherige) Verbleiben der innerkirchlichen Evangelikalen in den Landeskirchen ein Beweis dafür sei, dass die evangelischen Landeskirchen – ähnlich wie die Profangesellschaft – in der Lage seien, neue Bewegungen zu integrieren, ohne sich selbst grundsätzlich zu verändern (was aus evangelikaler Sicht natürlich bedauernswert ist).
Insgesamt gibt die Studie interessante Einblicke in ein noch wenig erforschtes Gebiet der jüngeren deutschen Kirchengeschichte. Allerdings empfand der Rezensent, dass Bauer nur wenig Verständnis für das theologische Anliegen der Evangelikalen hat, weshalb auch soziologische Kategorien der Interpretation in ihrer Studie im Vordergrund stehen.