1. Mehr als Zahlenspiele
Nach den letzten Statistiken (2008) gelten in ganz Deutschland noch 51 Millionen als Kirchenmitglieder (26 Mill. Katholiken, 25 Mill. Protestanten). Das sind knapp 64% der Gesamtbevölkerung. Sieht man einmal von den 3-5 Millionen Moslems ab, besteht rund ein Drittel einer Bevölkerung von 80 Millionen aus erklärten Nichtchristen.
Solche Zahlen geben den Durchschnitt für die ganze Bundesrepublik an. In den einzelnen Bundesländern sieht es sehr unterschiedlich aus. Es gibt Länder, in denen noch mehr als 50% der Bevölkerung zur evangelischen Landeskirche gehören (Schleswig-Holstein, Niedersachsen).
In den ostdeutschen Ländern sieht das anders aus: Zwischen 70% und 80% der Bevölkerung sind völlig kirchlos. Bei einer repräsentativen Allensbach-Umfrage wurde kürzlich u.a. gefragt: „Sind Sie ein religiöser oder gläubiger Mensch?“ Die Frage beantworteten in Mecklenburg-Vorpommern 94% mit Nein, in Sachsen immerhin noch 88%. Interessant wäre es gewesen zu erfahren, als was sich die rund 90% Nein-Stimmen selbst bezeichnen würden. Danach wurde leider nicht gefragt.1
Der katholische Theologieprofessor Eberhard Tiefensee (Bruder des früheren Leipziger OB und Verkehrsminister) hat im Rahmen einer Studie der Universität Erfurt Jugendlichen genau diese Frage vorgelegt.2 Als was sehen sie sich in Bezug auf Religion? Die aufschlussreiche Antwort lautete bei den meisten: „Ich bin gar nichts… Ich bin ganz normal.“ – Als E. Tiefensee eine Studentin der Religionswissenschaften(!) fragte, welche Weltanschauung sie selbst denn vertrete, schaute ihn diese verwundert an und antwortete: „Sie hätten mich auch fragen können, ob ich sportlich bin.“
Diese Antworten belegen die harte Realität in unserer Umgebung. Wenn sich 90% unserer Mitbürger nicht für gläubig oder religiös halten, sondern für „normal“, was bedeutet das für unser Dasein als Christen in Ostdeutschland? Die überwiegende Mehrheit unserer Mitmenschen stuft offensichtlich eine religiöse Haltung – ganz gleich welcher Art – als eine Art Hobby oder Spleen ein, als eine eigenartige Neigung!
Wie gehen wir damit um? Wie berücksichtigen wir das bei unserer kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit? Welche Auswirkungen hat das vor allem auf unsere evangelistischen und missionarischen Aktivitäten?
2. Postmodernes Denken – was heißt das?
Die Zeit, in der wir leben, bezeichnet man als sog. „Postmoderne“. Dieser Begriff wurde Ende des 19. Jh. erfunden und soll die nachindustrielle Gesellschaft beschreiben.3 Postmoderne, d.h. es geht um die Zeit nach der „Moderne“. Als „modern“ bezeichnete sich die mit der Aufklärung des 18. Jh. angebrochene Epoche.
Was ist in der Postmoderne anders geworden als vorher? Als typische Kennzeichen der postmodernen Zeit gelten folgende Phänomene:
- Toleranz, Freiheit und grenzenloser Pluralismus; Verlust traditioneller Bindungen jeglicher Art: Jede Form von Bindung – sei es an Religionsgemeinschaften, Parteien, Vereine – geht zunehmend verloren und wird nicht mehr gewollt. Absage an die Vernunft als Maß aller Dinge (als solches galt sie in der Moderne): Jetzt findet man eher das Irrationale (Unvernünftige) interessant.
- Ablehnung jedes umfassenden Wahrheitsanspruches: Das gilt nicht nur für Religion und Philosophie, für Ideologien, sondern auch gegenüber der Wissenschaft, sogar gegenüber der Naturwissenschaft; vor allem aber gegenüber allen Wertesystemen der Ethik oder Moral. Wer behauptet, in irgendeiner Frage die Wahrheit zu kennen, macht sich als Fanatiker („Fundamentalist“) verdächtig oder gilt zumindest als überheblich.
- Bewusste Hinwendung zu gefühlsbetonten und gefühlsbestimmten Lebenshaltungen
- Aufsplitterung (Segmentierung) des gesellschaftlichen Lebens in eine Vielzahl von Gruppen und Individuen mit einander widersprechenden Denk- und Verhaltensweisen; Multikulturalismus und Gleichberechtigung aller Segmente der Gesellschaft sind grundlegend für diese Haltung (vgl. Homosexualität, Feminismus, Gender-Mainstreaming).
- „Dekonstruktion“ (Zerlegung) aller bestehenden Systeme: Aus ihren Teilen wird etwas Neues „konstruiert“. D.h. aus der Fülle bestehender geschlossener Systeme sucht man sich Einzelaspekte heraus, die man gut und akzeptabel findet. Diese verwendet man für sein ganz persönliches Sinnsystem. Im religiösen Bereich entsteht so die individuelle Patchwork-Religion (ein bisschen von jedem); im politischen Bereich entwickelt sich der typische Wechselwähler, der das wählt, was er in der jeweiligen Lebenslage gerade für richtig hält.
- Hemmungsloser Individualismus, der zu einem zunehmenden Unverständnis gegenüber Werten wie Solidarität, Gemeinschaftsgefühl oder Loyalität führt.
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass dieses postmoderne Denken nicht nur in unserer entchristlichten Umwelt vorherrscht. Es ist inzwischen längst auch in unseren Gemeinden angekommen. Ertappen wir uns nicht manchmal selbst bei solchen Gedanken und Verhaltensweisen? Ich hoffe, wir merken es noch!
3. Unser Gegenüber: Der ganz normale Nichtchrist
Es gibt so etwas wie „bekennende“ Atheisten. In den letzten Jahren machten sie immer wieder einmal von sich reden. Sie ließen einen Bus quer durch Deutschland fahren mit der Aufschrift: „Es gibt keinen Gott“. Sie vertreten ihren Atheismus aggressiv. Im Jahr 2006 gab der englische Philosoph Richard Dawkins ein Buch mit dem Titel „Der Gotteswahn“ heraus, indem er alle Religionen – besonders aber das Christentum – einer vernichtenden Kritik unterzog. Aber solche Leute, die nach einer längeren philosophisch-weltanschaulichen Auseinandersetzung zu erklärten Atheisten geworden sind, bilden heutzutage eher eine intellektuelle Randerscheinung, selbst in Ostdeutschland.4
Die große Mehrheit der Menschen in unserer Umgebung sind keine bewussten Atheisten
Die große Mehrheit der Menschen in unserer Umgebung sind keine solchen bewussten Atheisten. Sie würden sich auch nicht so bezeichnen. (Sie wissen meist gar nicht, was „Atheismus“ sein soll.) Diese ganz „normalen“ Leute halten Religiosität und Sportlichkeit für zwei völlig gleichberechtigte Spielarten menschlicher Eigentümlichkeiten. So wie sich der Eine für Fußball interessiert, ein anderer für Orchideen, so gibt es eben auch Leute, die sich für Religion begeistern.
Die Mehrheit in unserem Umfeld ist sozusagen „religiös unsportlich“. Diese Menschen haben kein inneres Bedürfnis nach Religion oder wenn sie es haben, stillen sie es auf andere Weise.
3.1 Wie sieht ihr Leben aus?
Beruflich vertreten sie das Recht des Stärkeren.5 Man muss wissen, was man will, und sich durchsetzen können – zur Not auch mit den Ellenbogen. Im privaten Bereich der Familie schätzen sie Treue und Verlässlichkeit. Aber sie sind dann doch schon zum zweiten oder dritten Mal verheiratet (wenn sie überhaupt noch eine Ehe eingehen), weil Freiheit und Unabhängigkeit für sie auch hohe Werte darstellen. So kann es kommen, dass auch die an sich ganz nette Treue mal auf der Strecke bleibt, wenn es von Vorteil für mich ist.
Diese Menschen kennen durchaus auch so etwas wie einen „heiligen Schauer“, der über den Rücken läuft. Sie erleben ihn bei Konzerten oder Sportveranstaltungen. Gemeinschaft und Solidarität suchen sie in der Familie oder in der selbstgewählten kleinen Gruppe von Freunden oder Gleichgesinnten, – die aber nicht auf Dauer angelegt sind (z.B. „Lebensabschnittsgefährte“ statt Ehepartner).
Sie kennen auch so eine Art „liturgischen Kalender“ und bestimmte lebensbegleitende Rituale. Im Januar gehen sie Skifahren; im März wird – wenn es das Wetter zulässt – im Garten zum ersten Mal gegrillt; am Frauentag oder am Valentinstag kauft man Blumen; am 1. Mai wird das große Feuer angezündet und fröhlich gefeiert; zu Himmelfahrt ist Männertag; im Sommer wird Urlaub gemacht; im Herbst macht man den Garten winterfest; im Dezember ist es dann im Kerzenschein gemütlich und man singt immer noch die schönen nichtchristlichen „Ersatzweihnachtslieder“6 aus der DDR-Zeit.
Kurz gesagt: Diese Menschen sind – wenn man sie fragt – völlig zufrieden. Sie vermissen nichts. Als Kirchen haben wir ihnen – zumindest aus ihrer Sicht – nichts zu bieten, was sie nicht anderswo oder anderweitig schon längst zu ihrer Zufriedenheit haben könnten.
Wenn wir unter solchen nichtreligiösen Menschen Mission treiben wollen, müssen wir uns fragen: Gibt es da überhaupt irgendwo Ansatzpunkte für missionarische Gespräche? Wenn ja, wo? Wir sollten uns also bewusst machen, „wie diese Leute ticken“, was sie denken.
3.2 Was denken diese Menschen?
Die allermeisten von ihnen sind nette, anständige Leute. Manche engagieren sich sogar besonders, indem sie Patenkinder in Indien oder Afrika unterstützen. Sie kümmern sich um ihre Enkel. Sie helfen in der Nachbarschaft, wenn Not am Mann ist. Sie setzen auch mal ihren Namen auf die Unterschriftenliste einer Bürgerinitiative zum Schutz unterdrückter Völker oder für besseren Tierschutz.
Wo könnte ein missionarisches Gespräch ansetzen?
- Sollten wir ihnen sagen, dass wir Christen bessere Menschen sind? Sie würden uns entgegenhalten, dass im Namen Christi Kreuzzüge geführt und Hexen verbrannt wurden; dass Pfarrer Waffen gesegnet haben; dass der Papst gegen Kondome ist und damit die Ausbreitung von AIDS fördert; dass die Kirchen im Dritten Reich und in der DDR dem staatlichen Unrecht nicht genug widerstanden haben usw.
- Oder sollten wir lieber vom Tod reden, der jeden Menschen erwartet? Sie würden uns antworten, dass sie davor keine Angst haben, weil dann ja „alles aus“ ist.
- Oder sollten wir davon sprechen, dass sie Gott gegenüber für ihr ganzes Leben verantwortlich sind? Sie würden uns sagen: Wenn es diesen Gott überhaupt gibt, wir hätten keine Bedenken, in dieser Prüfung zu bestehen! „Echte“ Sünden haben wir nicht begangen. Und das, was die Kirche „Sünden“ nennt, sind keine. Punkt um!7
„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ – „Aber ich habe doch gar keinen Streit mit ihm.“
Bei diesem fiktiven Gespräch sind Gesprächspartner vorausgesetzt, die sich wenigstens oberflächlich schon mit den Inhalten des Glaubens und der Kirche auseinandergesetzt haben. Sie sind dabei offenbar zu einem negativen Ergebnis gelangt. Sie weisen das Angebotspaket der Kirche – manchmal nach kurzer Überlegung – dankend zurück. Es kommt für sie als Ganzes nicht in Frage. Sie können mit seinem Evangelium, seinem Trost, seiner Gemeinschaft, Lebensbegleitung oder Werteorientierung einfach nichts anfangen.
Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht auch gern auf christliche Werte zurückgreifen, wenn sie sich ihre Weltanschauung selbst zusammenstellen. Sie verwenden dafür alles Mögliche, was sich zur Sinnfindung im Leben anbietet. Da ist selbstverständlich auch Christliches darunter. Man schnürt das Paket des christlichen Glaubens auf und entnimmt, was einem brauchbar erscheint.
In einer weiteren Umfrage (einer Shell-Studie) sagten 69% der befragten Deutschen, sie fänden es gut, dass es die Kirche gibt. Und 57% der Jugendlichen finden es gut, an etwas zu glauben.
Aber diese Leute würden sich selbst deshalb nicht als „religiös“ oder „gläubig“ bezeichnen. Sie sind also nicht die stille Reserve möglicher künftiger Christen. Nein, es gehört ja gerade zu den Kennzeichen des postmodernen Denkens, dass man etwas gut finden kann, ohne es gleich selbst zu übernehmen oder zu praktizieren. Wer zu denen gehört, die es gut finden, dass es die Kirche gibt, der findet es vermutlich auch gut, dass es politische Parteien gibt, oder kluge philosophische Vordenker, oder den Dalai Lama. Man sucht sich aus dem allen einfach das heraus, was gerade passend für die jeweilige Lebenssituation ist.
4. Postmodernes Denken auch in den Kirchen
Kommen wir noch einmal auf die Postmoderne und auf ihre Auswirkungen in den Kirchen zurück. Als Christen leben wir nicht im luftleeren Raum, sondern wir werden von ihrer Umwelt beeinflusst, ob wir es wollen oder nicht – eben auch vom postmodernen Denken.
Auch unsere Gemeindeglieder de-konstruieren das Ganze des christlichen Glaubens und rekonstruieren sich daraus das, was man als persönliche Patchwork-Religion bezeichnet. Sie gehen zwar sonntags mehr oder weniger regelmäßig zum Gottesdienst. Aber sie denken nicht im Traum daran, alle Glaubenslehren ihrer Kirche für richtig oder gut zu halten. (Das ist nicht nur bei Katholiken so, sondern auch in unserer Kirche.) Sie finden es nicht inkonsequent oder fragwürdig, zu einer bestimmten Kirche zu gehören, aber gleichzeitig manche von ihren zentralen Lehren oder praktische Folgerungen daraus abzulehnen. Sie finden es gut, dass die Kirche Orientierung gibt und auf Werte achtet, aber sie selbst praktizieren nur die Werte, die sie selbst gut und richtig finden.
Wir dürfen uns deshalb nicht wundern, wenn auch in unseren Gemeinden immer neue Gottesdienstformen oder Veranstaltungen und Kreise gewünscht werden. Der neueste Trend geht übrigens dahin, dass jeder seine eigene Bibelübersetzung benutzt (es gibt inzwischen 20 neue deutsche) und diese gern auch in den gottesdienstlichen Lesungen verwendet haben möchte.
Solche Wünsche und Vorschläge sind nicht böse gemeint. Sie stammen auch nicht etwa von penetranten Querulanten in der Gemeinde. Sie zeigen einfach, wie das postmoderne Denken auch bei uns um sich greift.
5. Unsere Aufgabe: Mission heißt Sendung
Bisher waren die christlichen Kirchen der Auffassung, dass man die Menschen in seiner Umgebung durch vernünftige Argumente und persönliche Glaubenszeugnisse davon überzeugen könne, das Sinn- und Werteangebot des christlichen Glaubens zu übernehmen. Von den so Erreichten wurde erwartet, dass sie sich dann taufen lassen, Mitglied einer christlichen Gemeinde werden und lebenslang in dieser Bindung bleiben (Verbindlichkeit ist gefragt).
Die kritische Analyse des postmodernen Denkens zeigt, dass dies offensichtlich nicht mehr funktioniert. Die meisten Menschen in unserer Umgebung werden damit nicht mehr erreicht. Sie entsprechen nicht unseren Erwartungen.
Daran kranken z.B. auch die – oft aus den USA importierten – evangelistisch-missionarischen Methoden der letzten Jahre. Veranstaltungen wie „ProChrist“ werden mit einem enormen finanziellen und personellen Aufwand produziert. Aber sie erreichen nur ganz wenige Einzelne.8 Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Die meisten Teilnehmer bei diesen Großveranstaltungen sind schon lange Christen.
Mission heißt Sendung. E. Tiefensee schlägt vor, das einmal ganz wörtlich zu nehmen. Er bringt als Vergleich einen modernen Rundfunksender, z.B. den MDR. Dieser sendet 24 Stunden am Tag, ohne gleich zu erwarten, dass alle, die seine Sendungen empfangen, umgehend „Mitglied“ werden und Spenden dafür geben. Die Aufgabe des MDR ist es nur zu senden.
Gewiss, dieser Vergleich hinkt. Aber im Kern trifft er die Sache. Die Kirche Jesu Christi hat einen Sendungsauftrag erhalten, den Missionsbefehl (Mt 28,19f). Sie hat – ganz unabhängig davon, in welchem Umfeld sie lebt – zu bezeugen, dass die Botschaft des Evangeliums eine umfassende Wahrheit anbietet, aus der sich ein bestimmter Sinn des Lebens und bestimmte Wertvorstellungen ergeben.
Das mag ein Angebot unter Tausenden sein. Aber als Christen sollten wir dazu stehen, dass das, was wir anzubieten haben, etwas Einmaliges ist, etwas das alle anderen Angebote bei weitem übertrifft.
Denn: Bei allen anderen Religionen oder Weltanschauungen geht es immer darum, dass der Mensch die Götter oder Mächte des Schicksals gnädig stimmen muss (durch Opfer, Gebete, Riten oder gute Taten). Bei der Botschaft der Bibel ist es genau umgekehrt. Gott wendet sich uns Menschen gnädig zu. Er schickt seinen Sohn auf diese Erde, damit wir nicht verloren sind.
Das ist unsere Botschaft, nicht mehr und nicht weniger. Als Kirche ist uns nichts anderes aufgetragen, als diese Nachricht zu „senden“. Wie ein Rundfunksender daran interessiert sein muss, dass leistungsfähige Sendeanlagen vorhanden sind und möglichst viele Empfänger erreicht werden, so muss auch die Kirche dafür sorgen, dass ihr Sendeauftrag gut erfüllt wird.
Wir können niemanden zum Glauben bringen oder gar dazu überreden. Das tut allein Gott. Aber wir sollen dafür sorgen, dass die Botschaft von Jesus Christus immer neu angeboten wird, jedem, der sie hören will. Als kleine Kirche müssen wir dabei mit unseren knappen Ressourcen sinnvoll umgehen. Wir können nicht alles auf einmal tun. Aber es gibt heute mehr Möglichkeiten als früher (z.B. im Internet, bei Druckerzeugnissen).
6. Unsere Strategie
Es kann hier nicht darum gehen, detailliert neue Konzepte für Mission vorzustellen. Ich möchte heute nur auf die besondere Problematik unserer postmodernen Umwelt aufmerksam machen. Aber ein paar Hinweise sind am Schluss trotzdem angebracht.
In diesem Umfeld kann es m.E. jedenfalls nicht sinnvoll sein, dass sich die Kirche zurückzieht, Gemeinden und Pfarrstellen zusammenlegt, Kirchgebäude schließt und verkauft. Auf diese Weise beraubt man sich selbst der Wirkungsmöglichkeiten.
In Bezug auf die Missionsstrategie spricht man von der sog. Komm-Struktur und Geh-Struktur. Die Kirche sollte nicht nur „zu Hause sitzen“ und darauf warten, dass Gäste zu ihr kommen (z.B. zum Gottesdienst). Sie muss auch hinausgehen in die Welt und dort ihr Angebot verbreiten. Beides gehört zur Mission. Wir sollten nicht Eines gegen das Andere ausspielen. Beides kann missbraucht werden: Eine Gemeinde, die nur im eigenen Saft schmort, und mit sich selbst so zufrieden ist, dass sie Gäste nur als Belästigung empfindet, ist das eine Extrem, was wir vermeiden sollten. Aber auf der anderen Seite wirkt das „paarweise Klinkenputzen“ der Zeugen Jehovas oder Mormonen in unseren Breiten auch eher abschreckend als einladend.
Gefragt ist das persönliche Gespräch, die Bereitschaft auf Fragen zu antworten und vom eigenen Leben als Christ im Alltag zu erzählen. Das ist die Strategie, die schon in der Zeit des Neuen Testaments (und zu allen Zeiten der Kirche) gute Erfolge erzielt hat. Wir sollten dazu wieder einmal lesen, wie Jesus seine ersten Jünger gefunden hat (Joh 1,35-51). Erst wird über den Glauben gesprochen, dann folgt – wenn Gott will – irgendwann auch der Wunsch, mehr davon zu hören und zu sehen, z.B. im Gottesdienst. Wir erleben es immer wieder, dass unsere nichtchristlichen Mitmenschen unsere Taten und unser Verhalten mehr zu Kenntnis nehmen als unsere Worte. Mir scheint, durch eine gute „alternative“ Lebensführung kann man bei uns am ehesten positive Anstöße geben und ein Nachdenken auslösen.
Von dieser „Methode“ sind keine spektakulären Massenbekehrungen zu erwarten. Aber wenn der Herr Christus seine Nachfolger auffordert, als „Licht der Welt“ und „Salz der Erde“ zu wirken, dann geht es da offensichtlich mehr um Qualität als um Qualität. Bekanntlich ist Salz ein gutes Würzmittel, wenn es dosiert eingesetzt wird. Salzklumpen in der Suppe findet keiner angenehm. Wenn Christen geballt (in Klumpen) auftreten, scheint das leider auch manchmal so zu sein. Das sollten wir vielleicht einmal bedenken, wenn wir nach unseren Gottesdienste eifrig ins Gespräch untereinander vertieft, vor der Kirchentür stehen (Klumpen bilden), während Gäste sich wie das fünfte Rad am Wagen vorkommen.
7. Inhaltliches Profil ist gefragt
Die Erkenntnis, dass wir in einer postmodernen Umwelt leben, ist nicht neu. Das haben die meisten Kirchen schon längere Zeit begriffen. Aber wie gehen wir mit dieser Erkenntnis um?
Mein Eindruck ist, die meisten Kirchen ziehen aus dieser Beobachtung die falschen Folgerungen. Man meint, die biblische Botschaft müsse heutzutage möglichst leicht verdaulich, mundgerecht und zeitgemäß angeboten werden, damit sie den postmodernen Menschen nicht verschreckt. Alle provozierenden Anstöße oder unpopulären Aussagen der Bibel werden umgangen oder „weichgespült“.
Nun ist es zweifellos richtig und wichtig, dass wir den gesellschaftlichen Realitäten ins Auge sehen. (Dieser Vortrag sollte dazu beitragen). Sich der Wirklichkeit zu stellen, kann aber gerade nicht heißen, sich um jeden Preis anzupassen und „mit den Wölfen zu heulen“. Der uns umgebende Pluralismus der Meinungen und Religionsmodelle erfordert ein klares Profil, ein klares Wiedererkennungsmerkmal (in der Wirtschaft nennt man das corporate identity). Wenn eine Kirche unterscheidbar und wiedererkennbar sein will, darf sie gerade nicht nur das verkündigen, was alle sagen. Sie muss nicht zu jeder Zeitfrage „ihren Senf dazu geben“. Sie sollte vielmehr darauf achten, dass sie ihre Botschaft nicht in einer Art und Weise verkündigt, die sie verwechselbar macht. Was überall die Spatzen von den Dächern pfeifen, „lockt niemanden hinter dem Ofen vor“ (heute muss man sagen: aus dem Sessel vor dem Fernseher).
Vor allem ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Inhalt und Form der christlichen Botschaft nicht einfach von einander zu trennen sind. Das ist ein beliebter und weitverbreiteter Trugschluss, der auch aus der Umwelt in die Kirche gelangt ist. Nicht selten hängt an einer Form auch ein bestimmter Inhalt.
Wir sollten das im Blick behalten, wenn es z.B. um die Gestaltung unserer Gottesdienst oder Kirchenmusik geht. Man muss nicht jedem Modetrend hinterher hecheln. Vor allem ist zu fragen, was nichtchristliche Gäste erwarten, wenn sie etwa einen Gottesdienst besuchen. Sind das wirklich die gitarrenbegleiteten Jugendlieder, die netten, ganz persönlich auf den Verfasser zugeschnittenen Gebete; oder ein Pfarrer, der sich wie ein Moderator durch die Veranstaltung witzelt?
Als lutherische Kirche haben wir einen liturgisch geprägten Gottesdienst, der über Jahrhunderte geformt worden ist. Daran dürfen Verbesserung vorgenommen werden. (Dies geschieht bei uns seit einigen Jahren, indem z.B. die Gebettexte, Lesungen und Glaubensbekenntnisfassungen bearbeitet werden.) Wir sollten aber das Bewährte nicht einfach leichtfertig über Bord werfen, weil wir denken, es sei alles besser, was anders ist. Aber natürlich ist es auch nötig, die verwendeten Formen immer wieder zu erklären und damit verständlich zu machen.
In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob wir uns im Blick auf mögliche Gäste in unserer Kirche (z.B. in den Gottesdiensten) nicht oft etwas vormachen. Wir neigen aus Mangel an Selbstbewusstsein oder auch aus schlichter Weltfremdheit dazu, uns den „typischen Nichtglaubenden“ zu konstruieren. Wir meinen dann, solche Gäste würden eine super angepasste, jederzeit top-aktuelle Show („Performance“) erwarten, wenn sie über die Schwelle unserer Kirche treten. Aber ist das wirklich so? Könnte es nicht eher umgekehrt sein? – und dafür sprechen Befragungen von Neuaufgenommenen. Könnte es sein, dass Nichtglaubende in der Kirche eher eine Garantin für Kontinuität sehen, gerade in einer sich ständig wandelnden und unberechenbar, unüberschaubar gewordenen Welt? Dass deshalb hier manches anders klingt und abläuft als draußen vor der Kirchentür? Dass sie sich vielleicht insgeheim sogar nach so etwas sehnen?
Aus diesem Grund erscheint es mir ratsam, dass die Kirche (auch unsere) „ihr Heil“ nicht darin sucht, sich möglichst stark an die uns umgebende Kultur anzupassen. Was wir zu bieten haben, ist eine Art „Gegenkultur“ mit alternativen Lebensformen (z.B. in Bezug auf Ehe oder Geschlechterverhältnis oder Erziehung). Das zu praktizieren, wird keine Begeisterungsstürme auslösen und manchen Widerspruch hervorrufen, und ganz sicher nicht zu einem sprunghaften Wachstum führen. Aber es könnte sein, dass das die einzig sinnvolle Weise ist, unserer Sendung (Mission) in dieser postmodernen Umgebung gerecht zu werden.
Der dreieinige Gott helfe uns, die Zeichen unserer Zeit zu erkennen.
(Vortrag, gehalten vor der ELFK-Pastoralkonferenz in Chemnitz 16.6.2011 und beim Samstagseminar 10.9.2011 in Jüterbog
Dieser Beitrag stützt sich weitgehende auf folgende Quelle, die eine wertvolle Anregung gewesen ist: Gert Kelter, Christliche Mission in einer postmodernen Gesellschaft; Überlegungen zu den Rahmenbedingungen des christlichen Zeugnisses in einer entchristlichten Gesellschaft unter besonderer Berücksichtigung Ostdeutschlands; in: Luth. Beiträge 16. Jg. (2011), Nr. 1, S. 41-50.)
Zu den historischen Ursachen, die zu dieser Entchristlichung in Ostdeutschland geführt haben, vgl.: Eberhardt Tiefensee, Homo areligiosus. Überlegungen zur Entkonfessionalisierung in der ehemaligen DDR, in: Thomas Seid (Hrsg.), Gottlose Jahre? Rückblicke auf die Kirche im Sozialismus der DDR, Herbergen der Christenheit Sonderband 7, Leipzig 2002, S. 197-215. – Kurt Nowak, Staat ohne Kirche? Überlegungen zur Entkirchlichung der evangelischen Bevölkerung im Staatsgebiet der DDR, in: Gert Kaiser/Ewald Frie (Hrsg.), Christen, Staat und Gesellschaft in der DDR, Frankfurt am Main 1996. – Detlef Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart 1994. ↩
Eberhard Tiefensee, Homo areligiosus, Überlegungen zur Entkonfessionalisierung in der ehemaligen DDR, in: Gottlose Jahre? Hg. von Thomas Seidel (Herbergen der Christenheit, Sonderband 7), Leipzig EVA 2002, S. 197-215. ↩
Jean-Francois Lyotard verfasste 1979 eine Studie für die kanadische Regierung, in der er erstmals von „Postmoderne“ sprach. ↩
Zur Auseinandersetzung mit R. Dawkins vgl.: Richard Schröder, Die Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg usw. Herder 2008. ↩
Sog. Sozialdarwinismus: Nur der Fitteste überlebt! ↩
Zum Beispiel „Vorfreude, schönste Freude“; „Sind die Lichter angezündet“; „O Tannenbaum“… ↩
Beispiel: Als kurz nach der deutschen Einigung einer unserer Pastoren in den westlichen Bundesländern unterwegs war, las eine junge Frau im Vorbeigehen an seinem Auto den Aufkleber „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Sie blieb kopfschüttelnd stehen und sagte: „Aber ich habe doch gar keinen Streit mit ihm!“ ↩
Dietrich Bonhoeffer hat schon 1944 sehr kritisch eingeschätzt, dass wir scheinbar einer „religionslosen Zeit“ gegengehen, in der es nur noch „ein paar intellektuell Unredliche“ sind, „bei denen wir religiös landen können. Sollten das etwa die wenigen Auserwählten sein [von denen Jesus spricht]? Sollen wir uns eifernd, pikiert [= gekränkt] und entrüstet ausgerechnet auf diese zweifelhafte Gruppe von Menschen stürzen, um unsere Ware abzusetzen? Sollen wir ein paar Unglückliche in ihrer schwachen Stunde überfallen und sie sozusagen religiös vergewaltigen?“ (in: Widerstand und Ergebung, Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, Gütersloh 1983, S. 132f). ↩