ThemenEhe und Familie, Weltanschauungen

Anthroposophie und Waldorf-Pädagogik

1. Aufschwung der Waldorf-Bewegung

Die Waldorf-Bewegung zeichnet sich seit mehreren Jahrzehnten durch einen bemerkenswerten Aufschwung aus. 1970 gab es in der BRD 28 Freie Waldorf-Schulen, 1986 schon 98, 1996 gab es 162 Schulen dieser Art, davon 16 in den neuen Ländern.

Die Neugründung und Nachfrage nach Waldorf-Kindergärten steigt immer noch. 1996 gab es noch ca. 30 neue Initiativen zur Gründung neuer Schulen. Es herrscht Andrang im Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke, an der Privatuniversität in Witten, die zwar finanziell ins Gerede gekommen ist, aber phasenweise mit Modellcharakter versehen wurde.

Begriffe wie Eurhythmie, Demeter-Landbauprodukte, Weleda-Medizin sind vielfach im Gespräch, mit oder ohne Bewusstsein, dass es einen anthroposophischen Zusammenhang gibt.

Was macht Waldorf-Einrichtungen so anziehend, dass sie zunehmend neue Freunde finden?

  • Da ist zunächst der Augenschein des elitären, aber auch überschaubar kleinen gegen die Masseneinrichtungen des herkömmlichen Bildungssystems.
  • Zum anderen reizt viele der vermeintlich ganzheitliche, naturverbundene Ansatz der Medizin.
  • Im Bezug auf die Schulen wirken anziehend im Besonderen (die folgenden Äußerungen sind eine nur unvollständige Liste):
  1. die Schulgröße: überschaubare Schülerzahlen statt Anonymität in einer Lernfabrik
  2. das angstfreie Lernen für die Kinder ohne Leistungsdruck, Zensurennöte (Gutachten statt Notenzeugnisse!) und Sitzenbleiben, verbunden mit pädagogischen Schlagworten wie: Angstfrei lernen – selbstbewusst handeln / Freies Geistesleben – Erziehung zur Freiheit / Lebensschule und Menschenschule / Von der Würde des Kindes u.v.a.
  3. die offensichtlich überdurchschnittlich engagierten Lehrer, was sichtbar wird an Monatsfeiern, Schulspielen, der intensiven Elternarbeit
  4. die starke Betonung des musisch-künstlerischen Bereiches, der Naturverbundenheit, der Einheit von Handeln und Denken

Dagegen stehen Stimmen aus beiden Kirchen, die einen Besuch dieser Schulen als „im Allgemeinen glaubensgefährdend“ ablehnen oder urteilen: „Die Anthroposophie verfehlt die Mitte biblischen Christentums“. Ich fand auch eine sehr harte Äußerung von Eltern mit Erfahrungen mit der Waldorf-Pädagogik, veröffentlicht im Schweizer Ökojournal:

„Der Schwindel ist so geschickt als Original-Menschenliebe getarnt, dass man jahrelang an ihm vorbeigehen kann, ohne die Fälschung zu erkennen.“

Was steht nun hinter der Waldorf-Pädagogik, was ist das mit der Anthroposophie? Wir wollen diesen Fragen in 3 Abschnitten nachgehen. Nach einem Blick auf den Begründer der Waldorf-Schulen soll es ansatzweise um die Frage nach der Anthroposophie gehen und dann um die eigentliche Fragestellung, die Waldorf-Schulen, wobei sich zeigen wird, dass dies alles untrennbar miteinander verknüpft ist.

2. Kurzbiografie Rudolf Steiners

Rudolf Steiner wurde 1861 in Kraljevec, damals Österreich-Ungarn, heute wohl Slowenien, als Sohn eines Bahnbeamten geboren. Neben der durch den Beruf des Vaters bedingten Begegnung mit der Technik und der Erfahrung der Natur in seinem zumeist ländlichen Lebensraum prägten drei Schlüsselerlebnisse seine Kindheit: die Begegnung mit der Geometrie in der Schule, der Ritus der katholischen Kirche und eine hellseherisch-übersinnliche Erfahrung. Sie sollten jede in ihrer Art seine weiteren Denkweisen und Vorlieben beeinflussen. Sie verwiesen ihn auf eine geistige Welt jenseits der sichtbaren, wahrnehmbaren Welt.

Steiner studierte Naturwissenschaften in Wien und wurde dort durch einen Literaturprofessor auf Goethe aufmerksam, der fortan einen beständigen Einfluss auf ihn ausübte. Schon sehr jung ging er nach Weimar, um für das Goethe-Archiv die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes herauszugeben. Er promovierte zum Dr. phil. Seit dieser Weimarer Zeit zeichnet sich Steiner durch einen ungeheuren Arbeitseifer aus. Als eine Universitätskarriere scheitert, geht er nach Berlin, um eine Literaturzeitschrift herauszugeben. Dort sammelt er auch erste pädagogische Erfahrungen durch Unterricht an einer Arbeiterschule. Er heiratet erstmals, es scheint sich aber – wenn man seinen eigenen Äußerungen folgt – nur um eine recht äußerliche Verbindung gehandelt zu haben.

In Berlin vertieft er seine Kontakte zur Theosophie und wird 1902 Generalsekretär der deutschen Sektion der theosophischen Gesellschaft bis zu seinem Ausschluss 1913. Die Theosophie, begründet vor allem durch Helena Blavatski, ist eine Art Geheimlehre, die spiritistische, asiatische und andere okkulte Praktiken dazu benutzte, um höhere geistige Erkenntnisse zu erzielen. Obwohl Steiner eigentlich eine kritische Distanz zur Theosophie äußert und auch später wegen der hinduistischen Strömung, die eine weitere Vertreterin der Theosophie – Annie Besant – hineinbringt, sich von der theosophischen Gesellschaft trennt, hat er sich doch von diesem Denken beeinflussen lassen, und es findet sich auch in seiner eigenen Philosophie, der Anthroposophie wieder. Vermutlich hat er sich vor allem wegen des Benutzens hellseherischer Fähigkeiten zum Erkenntnisgewinn verborgener Welten anziehen lassen.

1913 gründet er mit Marie von Sivers, die seine 2. Frau wird, die Anthroposophische Gesellschaft mit Sitz in Dornach bei Basel. Bis zu seinem Tod entfaltet Steiner jetzt eine rastlose Tätigkeit, für die folgende Stichworte stehen sollen:

  • Bau des ersten Goetheanums in Dornach, dem Zentrum der Anthroposophie
  • Beschäftigung mit der sozialen Frage: Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus (Staat, Wirtschaft, Geistesleben)
  • „Waldorf-Schulbewegung“, so genannt nach dem Initiator Emil Molt von der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, der eine Schule für seine Arbeiterkinder wollte.
  • Entwicklung der anthroposophischen Medizin (Weleda, Wala, Krankenhäuser)
  • „Heilpädagogische Bewegung“
  • biologisch-dynamischer Landbau (Demeter)
  • Christengemeinschaft als gemeindliche Ausprägung der Anthroposophie mit dem ev. Pfarrer Rittelmeyer als späterem „Erzoberlenker“, deren Glaubensbekenntnis und die im Gottesdienst verwendeten Texte Steiner verfasst.

Steiners letzte Jahre waren von vielfältigen Problemen gekennzeichnet, so wurde ein Anschlag auf ihn verübt, brannte das Goetheanum durch Brandstiftung ab, kam es zum Streit in der Anthroposophischen Gesellschaft, wurde er auf unklarem Hintergrund krank und starb im März 1925 in Dornach. Seine Todesursache ist bis heute von einem Geheimnis umgeben.

3. Grundgedanken der Anthroposophie, dargestellt am Menschenbild und Jesusbild Rudolf Steiners

Was ist überhaupt Anthroposophie?

Die Antwort auf die nahe liegende Frage: „Was ist überhaupt Anthroposophie?“ ist gar nicht so leicht. Die Wortbedeutung ist klar: Weisheit vom oder über den Menschen. Für Steiner ist das gleichbedeutend mit „Geisteswissenschaft“, ein Begriff den Steiner nicht im Sinne der klassischen Geisteswissenschaften unserer Universitäten gebraucht, sondern als Synonym für Anthroposophie. Steiner erforscht darin einen Bereich, der sinnlichem Erkenntnisvermögen nicht zugänglich ist. Es handelt sich also um eine Geheimwissenschaft, im eigentlichen Wortsinn eine okkulte Wissenschaft. In diesem Sinne versucht Anthroposophie den Menschen in seinem Bezug zur nicht-sichtbaren, nicht-materiellen, übersinnlichen, zur geistig-göttlichen Welt zu erforschen. Dabei legt Steiner Wert auf die Feststellung, dass es sich um wissenschaftliche Arbeitsweisen handelt. Er will zwar den Glauben im Sinne eines „Für-wahr-haltens“ überwinden, aber keine neue Religionsgemeinschaft gründen. So gesehen soll Anthroposophie ein Instrument zum vertieften Verstehen religiösen Lebens werden. Auffällig und zugleich problematisch ist dabei, dass letztlich nur er über die Maßstäbe und Möglichkeiten verfügt, sich diese „Erkenntnisse höherer Welten“ zu verschaffen. So ist es bis heute keinem Steiner-Schüler gelungen, den Erkenntnissen des Meisters trotz des Befolgens seiner Anleitungen in irgendeiner Form neue Erkenntnisse hinzuzufügen.

Kernstück des anthroposophischen Denkens ist der Entwicklungsgedanke des Menschen.

Kernstück des anthroposophischen Denkens ist der Entwicklungsgedanke des Menschen. In einem ausgeklügelten hierarchischen Gebäude werden verschiedene Weltsysteme (vorverklungenes / verklungenes / gegenwärtiges / zukünftiges Weltsystem) aufgestellt, die in Zyklen von verschiedenen Wesen durchlaufen werden, die sich dabei immer höher entwickeln. Im gegenwärtigen Weltsystem tritt der Mensch auf, der sich bis in das zukünftige Weltsystem hinein weiterentwickeln wird. Die Entwicklungsstufen sind an die Planeten und an so genannte Bewusstseinsformen gebunden, die sich nach Steiner gesetzmäßig weiterentwickeln. Im ganzen System ist der theosophisch-okkulte Hintergrund zu spüren, von dem Steiner einmal selber sagt:

„Man macht … leicht auf den Uneingeweihten, der sich von der Tatsächlichkeit einer besonderen Geisteswelt noch nicht durch eigene Erfahrung überzeugen kann, den Eindruck eines Fantasten, wenn nicht einen noch schlimmeren.“ (Aus der Akasha-Chronik, S, 17).

Hier ist ihm unbedingt zuzustimmen!

Wichtig in unserem Zusammenhang der Pädagogik in Waldorf-Schulen ist vor allem das Menschenbild der Anthroposophie.

Wichtig in unserem Zusammenhang der Pädagogik in Waldorf-Schulen ist vor allem das Menschenbild der Anthroposophie. Steiner teilt den Menschen in 4 Wesensglieder ein: den physischen Leib, den Ätherleib, den Astralleib und das „Ich“.

Der physische Leib entfaltet sich im 1. Lebensjahrsiebt und verbindet den Menschen mit dem Mineralischen. Er ist nur tote, materielle Hülle. In der Zeit zwischen Zahnwechsel und Pubertät, im 2. Lebensjahrsiebt, entwickelt sich der Ätherleib (auch Lebensleib), der den Menschen mit dem pflanzlichen Bereich verbindet und die einfachen Lebensfunktionen wie atmen, verdauen usw. bewirkt. Im folgenden Jahrsiebt entwickelt sich der Astralleib (Seelenleib), der Träger des Begehrens und der Affekte (Hass, Zorn, Liebe) ist und den Menschen mit dem Tierreich verbindet. Erst das Ich, das Bewusstsein, macht den Menschen zum Menschen, ermöglicht Wollen, Vorstellen, Denken. Die verschiedenen Tätigkeiten des Menschen sind so auf verschiedene Wesensglieder verteilt, begründen aber gleichzeitig auch eine steigernde Wertordnung.

Die ersten 3 Leiber „trägt“ der Mensch, erst das Ich „ist“ er. Das Ich wird auch nicht von den Eltern vererbt, sondern steigt jeweils aus der Geisteswelt herab, um sich mit einem Körper zu umgeben, zu inkarnieren. Nur der mit seinem Ich ausgestattete Mensch handelt voll verantwortlich, bildet ein Karma aus, die Plus-Minus-Bilanz seines Lebens, die seine nächste Inkarnation bestimmt. Auftrag der Erziehung, der Erwachsenen, ist es demzufolge, dem Heranwachsenden Inkarnationshilfen zu geben. Diesem Ziel fühlt sich natürlich vor allem die Waldorf-Pädagogik verpflichtet.

Für Steiner trennen sich schon im Schlafzustand die verschiedenen Wesensglieder. Astralleib und Ich erholen sich in ihrer Heimat, der geistigen Welt, der Ätherleib bessert den physischen Leib in dieser Zeit aus.

Im Tod setzt sich dieser Gedanke fort. Der physische Leib zersetzt sich, die anderen 3 Wesensglieder lösen sich von ihm. Der Verstorbene erlebt zunächst noch einmal sein Lebenspanorama als Ätherleib, der sich dann auch auflöst. Der Astralleib muss von verschiedensten Begierden geläutert werden. Dabei entscheidet sich durch Abwägen des Karma, in welcher Form er wieder auf die Erde zurückkehrt (= Reinkarnation). Insgesamt entwickelt sich der Mensch in diesen Stufen weiter, bis das Ich eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht hat, der Mensch sich hinaufentwickelt hat zur Gotteshöhe. Dies alles läuft nach Steiner nach strengen Gesetzmäßigkeiten ab.

Mir persönlich klingen hier stark buddhistische Motive und Evolutionsdenken nach Darwin an, aber auch Goethe’sches Selbsterlösungsdenken. Außerdem opfert Steiner hier die von ihm sonst geschätzte Freiheit der Persönlichkeit einem fast naturgesetzlichen Denken. Das Steinersche Menschenbild unterscheidet sich auf jeden Fall völlig von dem biblischen Menschenbild und der Erlösungsbedürftigkeit aus Gnade. Die Bibel kennt einen Anfang und ein Ende der Heilsgeschichte, keine Höherentwicklung. Jedes menschliche Leben ist vor Gott einmalig, unverwechselbar und unwiederholbar. Es gibt kein Davor mit Erfolgen in der Weiterentwicklung und kein Danach mit neuen Chancen. „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht.“ (Hebr. 9, 27)

Christlicher Glaube kennt keine Selbsterlösungsversuche, sondern nur das eine Erlösungsangebot Gottes, das Heil in Jesus Christus.

Christlicher Glaube kennt keine Selbsterlösungsversuche, sondern nur das eine Erlösungsangebot Gottes, das Heil in Jesus Christus. Hier gibt es auch keinen Spielraum für Kompromisse.

Ich möchte auch einen Blick auf Rudolf Steiners Jesusbild werfen.

Steiner unterscheidet hier zwischen Jesus und Christus. Er ist zwar am historischen Jesus von Nazareth wenig interessiert, unterscheidet aber zwei geborene Jesusknaben, den aus dem Matthäusevangelium und den aus dem Lukasevangelium, wobei er sich auf die unterschiedlichen Stammbäume beruft (salomonischer bzw. nathanischer Jesusknabe). Beide haben jeweils einen Josef und eine Maria als Eltern, wobei sich im Matthäus (= Salomo)- Jesus Zarathustra, im Lukas (= Nathan)- Jesus Buddha reinkarniert. Mit okkulten Zahlenspekulationen versucht Steiner nun, Jesus zur vervollkommneten Version des Abraham zu machen. Sehr schwierig nachzuvollziehen und nur für Anthroposophen akzeptabel ist dann die Ableitung des nathanischen Jesus von Adam und Eva. Mit 12 Jahren (Jesus im Tempel) geht das Ich des salomonischen in den nathanischen Jesus über. Erst in der Johannestaufe vereinigt sich dann nach Steiner die „Christuswesenheit“ mit Jesus von Nazareth. Deutlich bleibt bei Steiners Theorie, dass buddhistisches und zarathustrisches Gedankengut die geistige Grundlage bilden, dass nicht Gott Mensch wird und die Erlösung bringt, sondern der Mensch aktiv am Werk ist.

Steiner beschreibt dann in der Entwicklungsgeschichte seines Jesus von Nazareth auch ein Ereignis, in dem Jesus im Alter von 24 Jahren zum Priester eines heidnischen Kultes geweiht wird und dabei das „makrokosmische Vaterunser“ empfängt, das nach Steiner lautet (Steiner, Das fünfte Evangelium S. 4):

„Amen (oder auch AUM)
Es walten die Übel
Zeugen sich lösender Ichheit
Von anderen erschuldete Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote
In dem nicht waltet der Himmel Wille
Da der Mensch sich schied von Eurem Reich
Und vergaß Euren Namen
Ihr Väter in den Himmeln.“

Es ist augenfällig, wie Steiner hier das biblische Herrengebet „vom Kopf auf die Füße stellt“ und den Menschen über Gott erhebt.

Die Kreuzigung hat für Steiner sehr wohl Bedeutung, weil er mit dem Blut Jesu, das in die Erde floss, mystisch-okkulte Vorstellungen verbindet.

Steiner kennt auch ein „Mysterium von Golgatha“. Dort trennt sich die „Christuswesenheit“ wieder vom Jesusleib. Die Kreuzigung hat für Steiner sehr wohl Bedeutung, weil er mit dem Blut Jesu, das in die Erde floss, mystisch-okkulte Vorstellungen verbindet. Der Leib verschwindet nach dem Begräbnis als Folge eines Erdbebens in einer Erdspalte, sodass das Grab leer ist. Ein Wirbelwind ordnet die Grabtücher nach der beschriebenen Weise an. So lautet die Steinersche Version der biblischen Zentralfrage der Auferweckung Jesu im „Fünften Evangelium“. Seit Pfingsten lebt der Christusimpuls in den Jüngern, um sie und die Ichkräfte der nachfolgenden Menschen bei ihrem Selbsterlösungswerk zu stärken.

Hier wird ein starkes gnostisches Element spürbar, das schon das Neue Testament als Irrlehre verworfen hat. Außerdem ist zumindest für uns als an die Offenbarung der Schrift gebundene Menschen deutlich, dass hier mit menschlichen Spekulationen der Boden der Schrift verlassen wird. Hier finden wir, um ein Schlagwort der theologischen Auseinandersetzung der vergangenen Jahre abzuwandeln, „einen anderen Jesus“.

Ähnliche Uminterpretationen gibt es auch bei anderen zentralen biblischen Aussagen wie dem Gottesbild, dem Begriff der Sünde und der Gnade und anderen. Ich möchte hier nicht näher darauf eingehen, weil das bisher Gesagte als Bewertungsgrundlage für eine Beurteilung steinerscher Lehre aus biblischer Sicht ausreicht.

4. Grundzüge der Waldorf-Pädagogik

Waldorf-Pädagogik ist ihrem Anspruch nach ganzheitliche Pädagogik

Waldorf-Pädagogik ist ihrem Anspruch nach ganzheitliche Pädagogik, d. h. sie will den Menschen in seinem gesamten Sein, seiner gesamten Existenz erreichen. Waldorf-Schulen sind von Anfang an koedukative Gesamtschulen. Das, was sie heute so attraktiv macht gegenüber den staatlichen Schulformen (siehe oben), ist nun keineswegs alles auf „steinerschem Mist“ gewachsen, sondern beruht in vielen Einzelheiten auf pädagogischen Erkenntnissen der Reformschule und der Kunsterzieherbewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Gedanken veröffentlichte, also in der Zeit, in der ab 1919 Steiner sein pädagogisches Konzept entwickelte. Er übernahm hier viele Gedanken, formte sie dann nur in sein System um und überhöhte sie weltanschaulich oder in seiner Terminologie „geisteswissenschaftlich“. Zu nennen sind hier unter anderem Hugo Gaudig mit seiner ganzheitlichen Pädagogik, Georg Kerschensteiner mit seiner Arbeitsschule, Peter Petersen mit der Schulgemeinde aus Eltern und Lehrern in der Lebensgemeinschaftsschule. Wir wollen hier vor allem folgenden Fragen nachgehen:

  1. Was macht eine Waldorf-Schule aus?
  2. Ist die Waldorf-Schule eine freie alternative Schule oder ist sie Weltanschauungsschule?
  3. Ist die Waldorf-Schule eine christliche Schule?

4.1 Was macht eine Waldorf-Schule aus?

Die schon erwähnte ganzheitliche Pädagogik bedeutet, dass dem Schüler nicht nur Intellektuelles in Form eines Flickenteppichs vermittelt wird, sondern dass die Schule darauf abzielt, seine gesamten leiblichen, seelischen und geistigen Kräfte zu fördern. Alles steht im Zusammenhang der Lebensentwicklung des Schülers. Das bedeutet natürlich, dass Grundlage aller pädagogischen Arbeit in einer Waldorf-Schule das oben dargelegte Menschenbild Rudolf Steiners ist. Die erwähnte Viergliedrigkeit des Menschen wird durch eine andere Systematisierung ergänzt.

Leiblichkeit und geistig-seelischer Bereich sind durch 3 Systeme miteinander verbunden:

  • das Nerven-Sinnes-System,
  • das rhythmische System,
  • das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System

Das Nerven-Sinnes-System ist das oberste System mit dem Zentrum im Kopf. Hier hat seelisch das Vorstellen seinen Ort, der Geisteszustand ist Wachheit. Das rhythmische System nimmt die Mitte des Menschen ein (Körper, Leib). Hier werden Blutkreislauf und Atmung bewirkt. Seelisch ist hier das Gefühl, geistig ein träumender Zustand zugeordnet. Das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System ist das unterste System mit seinen Zentren im Unterleib und den Gliedmaßen. Seelisch ist hier das Wollen beheimatet, geistig ein dumpfer Zustand.
In diesem System werden also seelische Kräfte (Vorstellen – Fühlen – Wollen) und geistige Zustände (wach – träumend – dumpf) mit der Leiblichkeit des Menschen verknüpft.

Hinzu kommt noch die Einteilung der Kinder in die klassische Temperamentenlehre (Choleriker – Sanguiniker – Melancholiker – Phlegmatiker), die Steiner nur okkult begründet und neu deutet. An diesen Grundlagen hat sich bis heute nichts geändert. Das ist nach heutigem Stand der pädagogischen und Entwicklungspsychologie ein sehr karges Modell, das der Pädagogik an Waldorf-Schulen zu Grunde liegt.

Für die pädagogische Arbeit bedeutet das, dass die kindliche Entwicklung nur unterstützt werden muss

Für die pädagogische Arbeit bedeutet das, dass die kindliche Entwicklung nur unterstützt werden muss (im Sinne der erläuterten Inkarnationshilfe).

Demzufolge spielt der Lehrer eine sehr wichtige Rolle in der Waldorf-Schule. Er bekommt in manchen Äußerungen Steiners einen fast religiösen Rang im Sinne eines Priesters. So verkörpert er die Autorität, die nach Steiners Menschenbild 7-14-jährige zum gesunden Heranwachsen benötigen. In den Jahrgängen 1-8 haben deshalb Waldorf-Schüler einen Klassenlehrer, der auch alle Kernfächer selbst unterrichtet. Dies kann Vorteile, aber auch gravierende Nachteile haben, wenn die Schüler-Lehrer-Beziehung im persönlichen Bereich nicht stimmt oder man an ein verknöchertes Exemplar der Spezies Waldorf-Lehrer gerät.

Der Klassenlehrer hält den Kontakt mit den Eltern, lädt zu zahlreichen Elternabenden ein, versucht, die Eltern im Sinne der Mitarbeit bei schulischen Aktivitäten zu motivieren und besucht die Familien in deren Wohnungen.

Jeder Waldorf-Lehrer hält seinen Unterricht nach selbsterarbeiteten Materialien in Übereinstimmung mit den Lehrplananweisungen Rudolf Steiners, also mit jenen methodischen und inhaltlichen Angaben, die Rudolf Steiner den Lehrern der ersten Waldorf-Schule in den Jahren nach 1919 in Vorträgen, Kursen und Konferenzen gemacht hatte und die in verschiedenen Sammlungen aus Nachschriften veröffentlicht wurden.

Der Stundenplan eines jeden Tages gliedert sich in Haupt- und Fachunterricht. Im Hauptunterricht, den ersten beiden Stunden, wird für jeweils ca. 4 Wochen dasselbe Fach unterrichtet. Im Fachunterricht, der sich anschließt, wechselt die Thematik alle 45 Minuten wie auch sonst üblich.

Zu den Besonderheiten der Waldorf-Schule gehört der Verzicht auf Noten in Klassenarbeiten und Jahrgangszeugnissen.

Zu den Besonderheiten der Waldorf-Schule gehört der Verzicht auf Noten in Klassenarbeiten und Jahrgangszeugnissen. Deswegen können Schüler auch nicht sitzen bleiben. Diese – für manche Schüler sicher angenehme Regelung – hat zur Folge, dass an den Waldorf-Schulen nicht jener Leistungsdruck herrscht, der immer von öffentlichen Schulen behauptet wird. Das Ganze ist allerdings nur ein Nebeneffekt. Der eigentliche Grund für den Verzicht auf die Wiederholung der Klasse durch schwache Schüler liegt in der im Menschenbild begründeten Jahrgangspsychologie: Jedem Menschen muss in seiner Entwicklung ein bestimmter Stoff, eine bestimmte Form usw. zu einem bestimmten Zeitpunkt nahe gebracht werden.

Verzicht auf Noten heißt nun nicht Verzicht auf Beurteilung an einer Waldorf-Schule. Statt der Leistung des Schülers wird vielmehr seine Haltung, seine Entwicklung, ja sein ganzes Wesen beurteilt. Dies wird niedergelegt im Zeugnisspruch sowie in beurteilenden Sätzen zu jedem Fach. Ich denke mit Äußerungen aus der Fachliteratur, dass das einen Menschen sehr viel eingreifender und vielleicht auch festlegender beurteilt als eine reine Leistungsbeurteilung.

Auch im Lehrplan unterscheidet sich die Waldorf-Schule von anderen Schulen. Der Lehrplan ist nicht Gegenstand stetiger pädagogischer und fachwissenschaftlicher Diskussion, sondern steht als von Steiner herrührend nicht zur Disposition. Seine Anweisungen werden nur immer wieder neu interpretiert.

Der Unterricht beginnt schon in der ersten Klasse mit zwei Fremdsprachen, oft mit Englisch und Russisch. Die Sprachen werden singend und spielend eröffnet, Grammatik und Sprachanalyse stehen im Hintergrund – das gilt übrigens für die ganze Schulzeit.

Ein wesentlicher Schwerpunkt der ganzen schulischen Erziehung liegt auf dem musischen Bereich: Musizieren, Plastizieren und Theaterspielen nehmen einen großen Raum ein. Auch handwerkliche Fächer wie Weben, Buchbinden und Schmieden haben einen festen Platz im Unterricht.

In den Unterricht der oberen Klassen sind mehrwöchige Praktika eingeplant: Handwerkspraktikum, Garten- und Landwirtschaftspraktikum, Industrie- und Sozialpraktikum, Landvermessungspraktikum.

Nach 12 Schuljahren wird der Waldorf-Schulabschluss erreicht mit der Ausarbeitung einer Projektarbeit. Die Anerkennung dieses Unterrichtsabschlusses ist in den Bundesländern verschieden. Höhere Abschlüsse wie das Abitur müssen nach 1 oder 2 „Paukjahren“ extern erworben werden.

Die Lehrplanbesonderheiten bringen es mit sich, dass ein Schulwechsel an die öffentliche Schule schwierig und nur unter Verlust von 1 oder 2 Schuljahren möglich ist

Die Lehrplanbesonderheiten bringen es mit sich, dass ein Schulwechsel an die öffentliche Schule schwierig und nur unter Verlust von 1 oder 2 Schuljahren möglich ist, sodass verbunden mit der Einschulung mit 7 Jahren Ex-Waldorfschüler in Regelklassen älter sind als ihre Mitschüler. Diese Lehrplandiskrepanzen und die damit verbundenen Folgen für einen Schulwechsel sind übrigens durchaus bekannt, und manche Waldorf-Lehrer operieren damit geschickt. So werden Eltern unter Druck gesetzt, Verhaltensauffälligkeiten ihres Kindes baldmöglichst abzustellen, da sonst der Verbleib des Kindes an der Schule gefährdet sei. (Das ist sanfte Erpressung einer privaten Schule.)

Allerdings muss angesichts dieses anziehenden Schulbildes gesagt werden, dass die Wahrheit, sprich der Alltag an einer Waldorf-Schule oft anders aussieht. Ein ehemaliger Schulpsychologe aus Wuppertal, Fritz Beckmannshagen, hat das in einem Buch ausführlich dargestellt und kommt zu dem Schluss:

„Nirgends ist mir die Spaltung zwischen Wunschbild und Realität so extrem deutlich entgegengetreten wie in der Waldorf-Bewegung.“

Zur Organisationsform der Waldorf-Schulen ist zu sagen, dass sie Schulen in freier Trägerschaft sind, die vom Staat genehmigt und finanziell unterstützt werden, wie freie christliche Bekenntnisschulen auch. Die fehlenden Kosten werden über individuell berechnete Elternbeiträge aufgebracht. Von daher sind auch nicht alle Schulen gleich. Sie sind aber alle im Bund der Freien Waldorf-Schulen in Stuttgart zusammengeschlossen.

Herausragend in der Schulhierarchie ist das Lehrerkollegium, dass – oft satzungsmäßig abgesichert – auch von den Eltern im Vorstand nicht überstimmt werden kann. Waldorf-Schule haben keinen Direktor, sondern alle wesentliche Fragen werden auf den wöchentlich donnerstags stattfindenden Konferenzen erörtert und beschlossen. Hier gibt es aber noch Differenzierungen; zur entscheidenden internen Schulleitungskonferenz sind nicht einmal alle Waldorf-Lehrer zugelassen.

Waldorf-Lehrer erhalten ihre Ausbildung an einem der Lehrerbildungsseminare des Bundes Freier Waldorf-Schulen. Die Eingangsvoraussetzungen sind sehr breit gefächert und mit staatlichen Anforderungen nur z. T. vergleichbar.

4.2 Ist die Waldorf-Schule eine freie alternative Schule oder ist sie Weltanschauungsschule?

Ich möchte mich an dieser Stelle kurz fassen und nur eine These nennen, die ich noch kurz erläutere. „Die Waldorf-Pädagogik ist aus der Anthroposophie Rudolf Steiners hervorgegangen und ohne sie nicht zu denken.“ Diese These unterstreicht die Aussage eines „Internen“ (Ernst Michael Kranich, Leiter des Pädagogischen Seminars des Bundes der Freien Waldorfschulen):

„Zieht man in Betracht, dass Waldorf-Pädagogik nicht ohne Anthroposophie denkbar ist und bis in viele praktische Handhabungen nur verständlich wird, wenn man die Wurzeln in der anthroposophisch erweiterten Anthropolgie aufsucht, kann der Verdacht entstehen, die Waldorf-Schulen seien Weltanschauungsschulen und würden als solche ihren Schülern auch Lehren der Anthroposophie offen oder versteckt beibringen“.1

Hier wird die ganze Tragweite deutlich. Zwar leugnen alle Waldorfianer wie auch Ernst Michael Kranich Anthroposophie zu vermitteln, aber mindestens indirekt ist das gar nicht anders möglich. Dazu noch einmal folgende Stichworte aus dem bisher Gesagten:

  • Das anthroposophische Menschenbild Steiners ist alleinige Grundlage der Pädagogik.
  • Die Rolle des Lehrers in der Waldorf-Pädagogik ist sehr prägend: „Das Kollegium versteht sich als ein Block, der allein die pädagogischen Geschicke der Waldorf-Schule bestimmt, ohne sich in irgendeiner Weise um Meinung und Wünsche von Eltern oder anderen Außenstehenden zu kümmern.“ (Waldorf geschädigte Mutter). Lehrer müssen die Grundgedanken Steiners bejahen und nach ihnen arbeiten.
  • Die grundsätzliche Festlegung der Lehrinhalte durch Rudolf Steiner. An ihnen wird auch nichts weiterentwickelt, sondern nur interpretiert. So gilt bis heute – was alle Modernisierung der Inhalte abblockt – uneingeschränkt Steiners Satz: „Vor dem 21. Jahr darf in der Zukunft nichts an den Menschen herangetragen werden, was nur Forscherergebnis ist, was von der Spezialisierung im Wissenschaftlichen herkommt.“
  • Vieles an Inhalten, z. B. auch die Eurhythmie2, zeugt von einem bemerkenswerten Verkrampftsein im Bewusstsein. Alle pädagogischen Äußerungen Steiners – und er wird als großer Denker und ideenreicher Pädagoge gewürdigt werden müssen – sind nur verständlich, wenn man erkennt, dass sie aus seiner Weltanschauung, der Anthroposophie hervorgegangen sind.
  • Wo bleibt die so häufig postulierte Freiheit, wenn alles vorgegeben ist?
  • Wie stark auf der Grundlage des steinerschen Menschenbildes und Denkschemas die Schule in die Abläufe auch zu Hause eingreift, möchte ich an folgenden Beispielen, bezogen auf Eltern einer Waldorf-Sonderschule, aber durchaus zu verallgemeinern, klar machen: „Keine Nutella-Brote für das Kind … überhaupt keine Kunstprodukte … auch kein Fleisch … keine Konserven … keine Kartoffeln … keine Kunststoffkleidung … kein Plastikspielzeug … keine Buntstifte, Filzstifte Kugelschreiber … kein Fußballspielen … kein Kassettenrecorder … kein Ketchup … keine pommes frites … kein Coca Cola … Kein! … Kein! … Kein! …“3 Natürlich sind bei weitem nicht alle diese Dinge für Kinder wünschenswert, aber Eltern werden auf diesem Weg unter Missachtung ihrer Argumente Schuldgefühle suggeriert, „weil die Geisteswissenschaft bis auf die einzelnen Nahrungsmittel alles anzugeben wissen (wird), was hier in Betracht kommt.“ (R. Steiner) Ähnliches gilt für die Einflussnahme auf das Elternhaus bei fast kontrollartigen Hausbesuchen. Ebenfalls Beckmannshagen schildert das recht drastisch: „Nach der Besuchsankündigung bemühen sich die Eltern, möglichst alles Unerwünschte wie Fernsehgeräte u.a. zu verstecken, was aber selten vollen Erfolg hat. … Der Wohnung wird, so gut oder so schlecht es gehen wird, ein etwas anthroposophisches Aussehen verliehen. Aber dem aufmerksamen Hausbesucher entgeht wenig: Da ist die ungeeignete Tapete im Kinderzimmer! … Und dort erst die aufgehängten Poster! … Dann die Spielsachen … die Schallplatten … der Recorder … der Wandschmuck im Schlafzimmer der Eltern … die falsche Seife im Badezimmer … und gar Vaters Bierflaschen, die unter dem Vorhang doch sichtbar sind!“4
  • Sogar Details im Unterricht sind festgelegt. Besonders deutlich wird das im Kunstunterricht, bei dem die Produkte in allen Waldorf-Schulen weltweit ähnlich aussehen, weil sie von „oben nach unten“ innerhalb des Systems unter strenger Anleitung angefertigt werden. Ein Waldorf-Oberstufenschüler sagte einmal: „Selbst wenn Chagall bei uns zufällig als Kunstlehrer anfinge, würde er spätestens nach einem halben Jahr wieder entlassen, weil er alles falsch macht.“
  • Wie stark Anthroposophie die vorgegebene Denkrichtung ist, macht folgendes Zitat sehr offensichtlich. Es stammt aus einem Arbeitsgerichtsprozess vom Anwalt der Waldorf-Schule: „Ein Mensch, der sich vornherein nicht klar hinter die Waldorf-Idee stellt, ist in einer Waldorf-Schule falsch am Platz. Die Waldorf-Schule ist nun einmal ein Tendenzbetrieb …“ Dabei ging es um den Arbeitsplatz einer Sekretärin!
  • Diese verengte, nur nachvollziehende Festlegung auf die Gedanken Steiners, insbesondere auch auf sein Menschenbild, führt dazu, dass ein Kritiker der Waldorf-Pädagogik aus Erfahrung sagt: „Im allgemeinen wird gar nicht eigentlich auf das Kind eingegangen. Die Lehrerschaft scheint sich vielmehr an die von Steiner beschriebenen Altersgruppen und Temperamente zu halten. Die Persönlichkeit des Kindes wird überlagert von einer Schemavorstellung. Das ist nicht nur nicht menschengerecht, sondern führt zu einer geistigen Sackgasse. In dieser Sackgasse befinden sich die Lehrer bereits und sind deshalb selbst bei gutem Willen nicht mehr im Stande, den Blick auf das Ganze zu behalten.“
  • Nachteilig aus heutiger Sicht ist auch die von Steiner abgeleitete hohe Klassenfrequenz von 35-45 Schülern: „dass größere Schulklassen mit Lehrern, die voll des von wahrer Menschenerkenntnis angeregten Lebens sind, bessere Erfolge erzielen werden als kleine Klassen mit Lehrern, die von einer Normpädagogik ausgehend, solches Lebens nicht zu entfalten vermögen.“

Der schon einmal zitierte Waldorf-Kritiker schreibt zu unserer Frage nach der „freien“ Schule: „Dass sich die Waldorf-Schulen freie Schulen nennen, ist ebenso unrichtig, wie wenn sich eine katholische Schule frei statt katholisch nennen würde. Von einem freien Geistesleben kann sowohl in der anthroposophischen Theorie wie auch der Praxis keine Rede sein. Hier findet gleich von Anfang an eine wesentliche Irreführung des Publikums statt. „

4.3 Ist die Waldorf-Schule eine christliche Schule?

Auch diese Frage beantwortet sich nach dem bisher Gesagten fast von selbst. Über die falschen theologischen Ansätze hinaus, die gewiss noch vertieft werden könnten, kann eine weltanschaulich anthroposophisch gebundene Schule keine christliche Schule sein. Zwar tauchen überall im Unterricht der Waldorf-Schulen religiöse Elemente auf, auch biblische Inhalte, aber religiös meint mit Sicherheit nicht christlich, vor allem nicht in unserem biblischen Verständnis von christlich. So treten in der Erzählzeit des Deutschunterrichtes in der 3. Klasse Geschichten des Alten Testaments auf.

„Im ersten Schuljahr erscheinen hier Märchen … An die Stelle der Märchen treten im zweiten Schuljahr Fabeln und Legenden, die im dritten Schuljahr wiederum abgelöst werden von den Geschichten des Alten Testamentes.“5

Wenn dann im vierten Schuljahr nordische Sagen und im fünften Sagen des klassischen Altertums folgen, wird deutlich, welcher Rang dem biblischen Inhalt zugebilligt wird.

Wenn dann im vierten Schuljahr nordische Sagen und im fünften Sagen des klassischen Altertums folgen, wird deutlich, welcher Rang dem biblischen Inhalt zugebilligt wird.

Jeder Unterrichtstag beginnt mit dem Morgenspruch, der gebetsgleich von Schülern und Lehrern gesprochen wird. In der Oberstufe ist es an allen Waldorf-Schulen ein Wort Steiners:

„Ich schaue in die Welt,
In der die Sonne leuchtet,
In der die Sterne funkeln,
In der die Steine lagern,
Die Pflanzen lebend wachsen,
Die Tiere fühlend leben,
In der der Mensch beseelt
Dem Geiste Wohnung gibt.
Ich schaue in die Seele,
Die mir im Innern lebet.
Der Gottesgeist, er webet
Im Sonn- und Seelenlicht,
Im Weltenraum da draußen.
In Seelentiefen drinnen.
Zu dir, oh Gottesgeist,
Will ich bittend mich wenden,
Dass Kraft und Segen mir
Zum Lernen und zur Arbeit
In meinem Innern wachse.“

Hier wird das Steinersche Gedankengut von der Dreigliederung der Welt immer neu vorgeführt: Weltenraum als Makrokosmos mit den astralischen Himmelskörpern, die Bereiche des Mineralischen, Pflanzlichen, Tierischen, schließlich der Mensch mit seinem Bewusstsein aus der geistigen Welt. Der Mikrokosmos: der Mensch in seinem Innern, in seiner Verbindung zum geistig-göttlichen Bereich. Das sind pantheistische Vorstellungen, aber nicht mit einer Silbe christliche.

Das Fazit kann deshalb nur lauten, dass die Waldorf-Schule eine Weltanschauungsschule und mit Sicherheit keine christliche Schule ist. Waldorf-Pädagogik ist ohne Anthroposophie nicht zu haben. Da zudem der Einfluss der Schule versucht, den Erziehungseinfluss der Eltern, wenn er nicht anthroposophisch bestimmt ist, zu untergraben, kann aus meiner Sicht nur davor gewarnt werden, Kinder aus gläubigen Familien, diese Schulen besuchen zu lassen.


  1. Handbuch Freie Schulen, rororo 6297, S. 210f. 

  2. Beckmannshagen. S. 16f. 

  3. Beckmanns. S. 39 ff. 

  4. S.o. S. 40. 

  5. Zitat bei Badewien, Waldorf-Pädagogik, S. 43.