ThemenZeitgeist und Bibel

Gnostisches Denken gestern und heute am Beispiel des „Da-Vinci-Codes“

Das Buch „Da-Vinci-Code“ von Dan Brown transportiert gnostische Ideen und Konzepte in unsere Zeit und unser Denken.

Dieser Vortrag wurde zum Seminartag am 23.9.2006 am Lutherischen Theologischen Seminar in Leipzig gehalten. Der Verfasser war theologischer Dozent am Biblicum in Uppsala und seit 1987 Gymnasiallehrer in Schweden. Er lebt jetzt im Ruhestand in Västeras/Schweden. Wir übernehmen hier nur den ersten Teil des Vortrags mit freundlicher Genehmigung aus „Theologische Handreichung und Information“ 2007/1. Für die Übersetzung ist Herrn Hendrik Landgraf/Göteborg zu danken.

Anstelle des „Kommentars zu falschen Behauptungen, Zitaten und Kommentaren von Dan Brown“, der den zweiten Teil des Vortrags ausmachte (abgedruckt in „Theologische Handreichung und Information“ 2007/2), verweisen wir auf Michael Kotsch: „Dan Brown und das Sakrileg. Bibelkritik in der Unterhaltungsliteratur“ in „Bibel und Gemeinde“ 2006 Heft 1 und 2.

Ein Buch, das für besonders viele Schlagzeilen sorgte, ist Dan Browns „The Da Vinci Code“ (Der Da-Vinci-Code), im Original herausgegeben von Bantam Press in Großbritannien (2003, 592 Seiten). Von diesem Buch wurden bisher mehr als 50 Millionen Exemplare in 45 verschiedenen Sprachen verkauft. Die deutsche Ausgabe erhielt den Titel „Sakrileg“ und wurde 2004 auf den Markt gebracht. Die im Mai 2006 publizierte Taschenbuchausgabe enthielt ein „Interview mit Dan Brown“ (Seiten 610-618). Der Film zum Buch kam am 18. Mai 2006 nahezu weltweit in die Kinos.

Warum weckte das Buch Da-Vinci-Code ein so außergewöhnliches Interesse? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Dass es sich um einen spannenden Thriller handelt, dürfte wohl kaum Ausschlag gegeben haben. Ich denke es hängt eher damit zusammen, dass in diesem Buch Meinungen vertreten werden, die immer mehr Menschen in unserer Zeit anziehen und die eine Loslösung von der Autorität der Bibel und dem Christus der Bibel zum Inhalt haben. Deshalb will ich mich in diesem Vortrag auf die Überzeugungen Browns konzentrieren, die er in seinem Buch zum Ausdruck bringt und auf die er alle seine Schlussfolgerungen baut.

Der Roman erhebt den Anspruch, historische Fakten mit Fiktion zu verknüpfen. In der literarischen Form des Romans lässt Brown scheinbar gut informierte und intelligente Personen die Auffassungen vertreten, von denen er selbst überzeugt ist – Fakten, welche sowohl die Bibel als auch die christliche Kirche als unbequeme Tatsachen angeblich verborgen haben sollen. Schon einleitend behauptet Brown, dass die fiktiven Figuren Auffassungen verträten, die ihren Grund in historischen Tatsachen hätten (Seite 11). Besonders spannend wird es, wenn die Kirche, wie im Buch beschrieben, mit Hilfe von Manipulation und sogar Mord versucht, die wirklichen Verhältnisse zu vertuschen.

Die Sichtweisen, die hinter den von Brown in Romanform beschriebenen Auffassungen liegen und von denen unsere Zeit durchdrungen ist, haben meiner Meinung nach ihre Wurzeln im gnostischen Denken. Auch der von Brown propagierte Feminismus kann teilweise vom Gnostizismus hergeleitet werden. Bevor ich jedoch näher auf das gnostische Denken eingehe und an Beispielen erläutere, wie „Sakrileg“ von diesem Denken geprägt wird, will ich kurz zusammenfassen, worum es im Buch geht.

1 Kurze Zusammenfassung des Buchinhaltes

Robert Langdon, ein Symbol-Forscher von der amerikanischen Harvard-Universität, befindet sich aus beruflichen Gründen in Paris, als er eines Morgens einen merkwürdigen Anruf erhält: Der Chefkurator des Louvre-Museums, mit dem Langdon für diesen Abend verabredet war, wurde mitten in der Nacht vor dem Gemälde der Mona Lisa ermordet aufgefunden. Langdon begibt sich zum Tatort und erkennt schon bald, dass der Tote durch eine Reihe von versteckten Hinweisen auf die Werke Leonardo da Vincis aufmerksam machen wollte – Hinweise, die seinen gewaltsamen Tod erklären und auf eine finstere Verschwörung deuten. Bei seiner Suche nach Hintergründen der Tat wird Robert Langdon von Sophie Neveu unterstützt, einer jungen Frau, die als Kryptologin in der Dechiffrierabteilung der Pariser Polizei arbeitet und die Enkelin des ermordeten Kurators ist. Von ihr erfährt er, dass der Kurator der geheimnisumwitterten Zions-Bruderschaft (Prieuré de Sion), angehörte – ebenso wie Leonardo da Vinci, Victor Hugo und Isaac Newton.

Sophie Neveu lässt Langdon auch wissen, dass er als Hauptverdächtiger in diesem Mordfall gilt. Sie hält den Amerikaner jedoch für unschuldig und tut, was sie kann, um eine Verhaftung Langdons zu verhindern. Das ganze Buch hindurch werden Langdon und Neveu von der Polizei gejagt. Während ihrer Flucht versuchen sie, die Botschaft des Kurators zu entschlüsseln und Klarheit darüber zu bekommen, worum es bei dem sensationellen Geheimnis geht, das nur der Kurator und die Prieuré de Sion kennen, das aber von der Katholischen Kirche via die Geheimorganisation „Opus Dei“ mit allen Mitteln unter Verschluss gehalten werden soll. Bei ihren Recherchen stoßen Langdon und Sophie immer wieder auf verborgene Zeichen und Symbole in den Werken Leonardo da Vincis, die zum einen auf den „Heiligen Gral“1 hindeuten, zum anderen die These stützen, dass Jesus Christus und Maria Magdalena eine gemeinsame Tochter hatten. Beides würde die Grundfesten der Kirche erschüttern.

Eine wichtige Rolle im Buch spielt auch Sir Leigh Teabing, ein Freund Langdons, der in der Nähe von Versailles lebt.

Auf ihrer Flucht vor der Polizei wenden sich Langdon und Sophie an den Briten, der als führender Experte in Sachen „Heiliger Gral“ gilt. Er erklärt der unwissenden Sophie, was es in Wahrheit mit dem Gral auf sich hat und weiter, dass unter anderem Jesus überhaupt nicht Gottes Sohn gewesen sei, dass die echten Quellen über das Leben Jesu von der (Katholischen) Kirche manipuliert und vernichtet, (er nennt die gnostischen Evangelien die echten Quellen) und an ihrer Stelle spätere Fälschungen in die Bibel aufgenommen worden seien.

Folgende bemerkenswerte Thesen lässt Brown seine Protagonisten vertreten:

  • Maria Magdalena repräsentiere den Kult der Muttergöttin, der innerhalb der frühen Christenheit existiert haben soll.
  • Maria Magdalena sei Jesu Ehefrau und die Mutter seiner Tochter gewesen. Ihr Leib, der Jesu Nachkommenschaft getragen habe, sei der legendäre Heilige Gral.
  • Es sei ursprünglich Maria Magdalena gewesen, die von Jesus ausersehen wurde, die Kirche zu gründen und zu leiten.
  • Es sei Kaiser Konstantin gewesen, der mit Hilfe des Konzils in Nizäa im Jahre 325 Jesus zu Gottes Sohn gemacht und damit nur eigennützige Ziele verfolgt habe. Jesu Jünger hätten ihn nicht als Gott angesehen.
  • Die geheimen Dokumente, welche die wirkliche Geschichte erzählten, seien auf dem Tempelberg gefunden worden, als Jerusalem im ersten Kreuzzug erobert wurde. Diese Wahrheit über Jesus und Maria Magdalena sei durch eine geheime, vom Templerorden gegründete Bruderschaft namens „Prieuré de Sion“ bewahrt worden.
  • Die Merowinger, ein nach Merowig (ca. 450) benanntes fränkisches Königsgeschlecht, stammten von Maria Magdalena und Jesus ab und ihre Nachkommen lebten heute noch in Frankreich. Sophie Neveu sei selbst eine Nachfahrin der Merowinger und stamme damit von Jesus ab.

2 Jesus und die gnostischen Evangelien

Bevor ich näher darauf eingehe, wie Browns Buch vom Gnostizismus durchzogen wird, will ich erklären, was ich mit Gnostizismus meine. Beim Gnostizismus handelt es sich um eine bunte Mischreligion mit Einflüssen vor allem aus Indien, Persien und Ägypten in Kombination mit griechischer Philosophie. Der Gnostizismus hat seinen Ursprung im Hellenismus, dem Kultur- und Religionsgemisch, das durch das Weltreich Alexander des Großen im 4. Jahrhundert v. Chr. entstanden war.

Der Gnostizismus geht davon aus, dass es eine ganze Reihe von Gottheiten gibt, die sich zwischen dem höchsten Geistwesen und der Welt befinden

Im Gnostizismus geht man wie auch im Hinduismus von einem höchsten göttlichen Bewusstsein aus. Diese Gottheit hat nichts mit der Schöpfung der Welt und dem Physischen (Materiellen) zu tun. Stattdessen geht der Gnostizismus davon aus, dass es eine ganze Reihe von Gottheiten gibt, die sich zwischen dem höchsten Geistwesen und der Welt befinden. Diese göttlichen Zwischenwesen (Äonen genannt) gehen aus dem Höchsten hervor (Emanationen) und pflanzen sich in absteigender Tendenz fort. Je weiter sie sich von der göttlichen Lichtquelle entfernt haben, desto schwächer ist ihr Licht. Der jüngste der Äonen produzierte einen Äon, der zur missglückten oder bösen Gottheit wurde. Dieser böse und missglückte Äon wurde zum Schöpfergott (sogenannter Demiurg). In seinem Streben nach dem Sichtbaren schuf er die Welt mit ihrer Materie und damit auch den Körper für den menschlichen Geist.

Der Geist des Menschen wird als Ausfluss aus der Äonenwelt des Lichtes angesehen, der nun vom Körper umschlossen und gefangen gehalten wird, den der Demiurg geschaffen hat. Folglich ist die Schöpfung nicht wie in der Bibel beschrieben etwas, das von einem guten Schöpfer gemacht wurde. Das Problem des Menschen und der Welt ist auch nicht die Sünde des Menschen und sein Abfall vom guten Schöpfer. Das Problem ist, dass der böse Schöpfergott eine physische (materielle) Welt geschaffen und dem Menschengeist einen Körper gegeben hat, der den Geist gefangen hält und ihn von der Lichtwelt und dem höchsten Geist trennt.

Der Mensch braucht sich also nicht einem Gott unterzuordnen, der außerhalb und über ihm steht

Die Erlösung im Gnostizismus besteht darin, dass der Mensch Gnosis (= Wissen, Einsicht) erhält, und sich damit des göttlichen Ursprungs seines Geistes bewusst wird und versucht, seinen Geist aus dem Gefängnis des Körpers zu befreien. Der gute göttliche Funke im Menschen, sein göttlicher Kern, kann nur durch die Befreiung vom bösen Körper erlöst werden. Hat der Mensch Gnosis über sein inneres Wesen als Teil des höchsten Lichtes gewonnen, kann und muss er eine geistliche Reise in sein Inneres beginnen, um dort Gott zu finden. Er braucht sich also nicht einem Gott unterzuordnen, der außerhalb und über ihm steht. Der Mensch kann sich auf sich selbst konzentrieren und sein eigenes Selbst die höchste Autorität sein lassen. Die Wahrheit findet er in sich selbst. Er ist ja von Natur aus ein Gottwesen, unschuldig und gut. Einen Erlöser, der stellvertretend des Menschen Sünden sühnt, hat er gar nicht nötig.

Als sich das Christentum in der hellenistischen Welt ausbreitete und dabei in Kontakt mit dem Gnostizismus kam, versuchten die Gnostiker Teile der christlichen Lehre in ihr Menschenbild und ihr Erlösungssystem einzugliedern. Sie meinten, Christus als einen Erlöser annehmen zu können, wenn man ihn als Vermittler der erlösenden Gnosis betrachten würde. Es war ihnen jedoch nicht möglich, Christus als wahren Gott und wahren Menschen zugleich zu akzeptieren. Er wäre dann ja ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, ein Geschöpf des bösen Schöpfergottes. Christus wurde als ein Befreier vom Gefängnis des Leibes gesehen und als solcher konnte er nur ein himmlisches Geistwesen sein, das aus den höheren Äonen hervorgegangen war. Aus diesem Grund sahen die Gnostiker in Christi Leib nur einen Scheinleib. Als Geistwesen konnte er nicht leiden und sterben. Der Gnostiker Valentinus (gestorben ca. 160 n.Chr.) meinte, der Äon Christus hätte sich mit dem Menschen Jesus erst bei der Taufe vereinigt und ihn vor seinem letzten Leiden und Kreuzestod wieder verlassen.

Mit Valentinus begannen auch andere gnostische Lehrer ihre Ideen mit Hilfe einer Reihe gnostischer „Evangelien“ zu verbreiten. Das sind Schriften, die versuchen, auf trügerische Weise an die neutestamentlichen Schriften anzuknüpfen und sich als Werke der Apostel oder anderer bekannter christlicher Lehrer auszugeben. Diese Umstände zwangen die christliche Kirche, deutlich zu machen, welche Schriften echtes apostolisches Zeugnis darstellen und gleichzeitig die gnostischen Werke als Fälschungen zu entlarven. Wahrscheinlich ist Valentinus der Verfasser des gnostischen „Evangelium Veritatis“ (Evangelium der Wahrheit).

Das Evangelium Veritatis enthält keine Angaben über Jesu Wirken. Es finden sich darin auch keine Worte Jesu, wie es z. B. im Thomasevangelium der Fall ist. Stattdessen präsentiert Valentinus umfassende Spekulationen über die Geisterwelt und die Entstehung der materiellen Welt. Seine Äonenlehre ist Teil eines detaillierten metaphysischen Systems, in dem die höchste Gottheit völlig abstrakt verstanden wird. Er verwirft den Glauben an einen einzigen Gott, der die Welt geschaffen und sich den Propheten offenbart hat, wie er im Alten und Neuen Testament gelehrt wird. Das höchste Geistwesen ist weit von dieser Welt entfernt, die er als Werk des bösen Schöpfergottes der Juden und des Alten Testamentes ansieht. Christus ist aus einem der höchsten Äonen entstanden mit der Aufgabe, die Menschenseelen von der Gefangenschaft der Materie zu befreien und sie zur Geistwelt zurückzuführen. Die Erlösung beinhaltet „Befreiung des Geistes von der Materie, Reinigung der menschlichen Seele und Erhöhung zum Göttlichen, aus dem sie hervorgegangen ist“.2

1945 wurde in der Gegend von Nag Hammadi in Ägypten ein Krug entdeckt, der zwölf eingebundene Codices (Handschriften in Buchform) enthielt. Einige lose Blätter eines dreizehnten Codex wurden im sechsten gefunden, sodass insgesamt 13 Codices ganz oder teilweise im Krug erhalten waren. Jeder Codex enthielt mehr als eine Schrift. Durch die Funde bei Nag Hammadi 1945 wurden mehr als vierzig neue Schriften bekannt. Schon um 1896 hatte man einen Codex entdeckt, der zwei Texte enthielt, die sich auch unter den Nag-Hammadi-Funden fanden und außerdem zwei zusätzliche Texte: Maria Magdalenas Evangelium und eine weitere gnostische Schrift.

Die Schriften, die „Evangelien“ genannt werden (es sind keine Evangelien im eigentlichen Sinne), sind folgende:

Die Schriften, die „Evangelien” genannt werden, sind keine
Evangelien im eigentlichen Sinn

Das Evangelium Veritatis, das Philippusevangelium, das Thomasevangelium, das Ägypterevangelium und das Mariaevangelium.

  • Das Evangelium Veritatis wurde entweder von Valentinus persönlich verfasst oder von einem seiner nächsten Mitarbeiter. Es kann auf ca. 150 n. Chr. datiert werden. Zum Inhalt dieser Schrift habe ich mich schon geäußert.
  • Das Philippusevangelium kann auf die Zeit zwischen 250 und 300 datiert werden. Es trägt den Namen des Apostels Philippus. In ihm ist nichts über Jesu Wirken enthalten. Man erfährt in dieser Schrift, wie in einer gnostischen Gemeinde im 3. Jahrhundert über die Aufnahme ins Christentum gelehrt wurde und wie diese Weihe durchgeführt werden sollte. Innerhalb dieser Unterweisung, die katechetischen Charakter hat, tauchen einige Aussagen Jesu auf.
  • Auch das Thomasevangelium enthält keine Erzählungen über Jesus, sondern nur 114 Jesusworte (sogenannte Logien), die ohne systematische Ordnung aneinander gereiht werden.3 Ungefähr die Hälfte der Logien knüpfen mehr oder weniger an neutestamentliche Jesusworte an. Die meisten der Logien tragen deutliche Züge von gnostischem Gedankengut, z. B. dass ein Stück des himmlischen Lichts im Menschen gefangen sei. Zitate aus dem Alten Testament fehlen ganz. Höchstwahrscheinlich ist das Thomasevangelium ca. 140-150 n. Chr. entstanden.
  • Am wenigsten gleicht das Ägypterevangelium einem gewöhnlichen Evangelium. Ihm fehlen nicht nur Informationen über Jesus, es handelt überhaupt nicht von ihm, sondern von Adams Sohn Set. Das Ägypterevangelium enthält u.a. mythologische Vorstellungen aus der Zeit vor der Schöpfung der Welt und Set wird in dieser Schrift als Vater der Gnostiker dargestellt. Das Ägypterevangelium ist wahrscheinlich im 3. Jahrhundert entstanden.
  • Das Mariaevangelium erinnert an das Thomasevangelium, weil es nur Dialoge zwischen den Jüngern und Jesus enthält, ohne dabei auf Ort oder Zeit einzugehen. Jesus fordert Petrus auf, die Menschen darüber zu belehren, dass sie die rechte Wahrheit, den Menschensohn, in sich selbst tragen. Weiterhin wird von einer Vision Maria Magdalenas berichtet und von der Reaktion des Petrus darauf. In dieser Vision geht es um den Aufstieg der Seele in die Welt Gottes und die Hindernisse, denen sie auf ihrer Reinigungswanderung begegnet. Die Jünger sind skeptisch gegenüber Maria als Übermittlerin von Offenbarungserkenntnis, die sie als „fremdartig“ empfinden. Die Entstehung des Mariaevangeliums wird normalerweise zwischen 100 und 200 n. Chr. angesetzt.
  • Judasevangelium wird ein koptisches Papyrusmanuskript aus dem 4. oder 5. Jahrhundert genannt. Ich erwähne es in diesem Zusammenhang, weil es neulich besondere Aufmerksamkeit erhielt. Es gehört nicht zu den Nag-Hammadi-Funden, sondern wurde 1978 in einer Höhle am Nil in der Nähe von Minya in Ägypten gefunden. Seine Existenz war schon 180 n. Chr. bekannt, als der Kirchenvater Irenaeus es als unecht und ketzerisch verwarf. Das Judasevangelium nimmt nicht für sich in Anspruch, den Glauben der frühen christlichen Kirche zu repräsentieren. Im Gegensatz dazu will es deutlich machen, dass die Jünger Jesus nicht verstanden haben. Judas Iskariot dagegen habe Jesus recht verstanden. Nur er allein begriff, worauf Jesu Unterweisung eigentlich abzielte und bekam von Jesus heimlich den Auftrag, ihn zu verraten. Judas wird dafür besonders belohnt, indem er in einer glänzenden Wolke verschwindet, in der er eine göttliche Stimme hört. Irenaeus schreibt, diese Version sei eine gänzlich erdichtete Geschichte, die von den Gnostikern erfunden worden sei.

Kennzeichnend für gnostische Evangelien ist, dass sie Dialoge zwischen Jesus und einigen ausgewählten Jüngern enthalten

Kennzeichnend für gnostische Evangelien ist, dass sie in der Regel Dialoge zwischen Jesus und einigen ausgewählten Jüngern enthalten. Der folgende Dialog aus dem Judasevangelium zeigt deutlich, welches Gottesbild im Judasevangelium zum Ausdruck kommt:

Jesus sieht und hört, dass die Jünger ihre Mahlzeit mit dem jüdischen Tischgebet beginnen:

„Gepriesen bist du, Herr unser Gott, Schöpfer der Welt, der du das Brot der Erde hervorbringst … Gepriesen bist du in Ewigkeit, Herr unser Gott.”4

Jesus lächelt, als er dieses Gebet hört. Und auf die Frage, warum er lache, antwortet er den Jüngern:

Sie glaubten offenbar, dass sie zum wahren Gott beten, wenn sie dem Schöpfer dankten. Doch das sei falsch. Der Schöpfergott, der Gott des Alten Testamentes und Gott der Juden, sei nicht der höchste Gott und er sei nicht der Gott, von dem Jesus komme. Der Gott, von dem Jesus komme, habe nichts mit der Schöpfung zu tun, sondern sein Ziel sei es, die auserwählte Generation von Menschenseelen aus dem Gefängnis der Schöpfung zu befreien. Judas gehöre zu dieser auserwählten Generation, die anderen Jünger jedoch nicht. Sie seien Juden, die sich vom Schöpfer, dem Gott der Juden, verführen lassen hätten.

Das Judasevangelium präsentiert also Jesus als einen gnostischen Prediger, und das ist gar nicht so verwunderlich, weil es seinen Ursprung in einer gnostischen Sekte Ägyptens hat. Es besteht aus 13 Papyrusblättern und ist vermutlich eine Übersetzung eines älteren griechischen Textes. Laut National Geographic Society in Washington, die am 6. April 2006 eine komplette englische Übersetzung herausgab, gibt der Text Gespräche zwischen Judas und Jesus wieder und berichtet von den letzten Tagen Jesu. Das Judasevangelium wurde wahrscheinlich um 160 verfasst.

Die Erlösung wird zur Selbsterlösung mit Hilfe der von Jesus vermittelten Gnosis

Der Jesus der sogenannten „gnostischen Evangelien“ hat, wie man sieht, sehr wenig und oftmals gar nichts mit dem Jesus gemeinsam, von dem die Apostel in ihren Augenzeugenberichten erzählen. Als Christus und Erlöser wird Jesus zum Geistwesen ohne Fleisch und Blut. Es wird geleugnet, dass Gottes ewiger Sohn wahrhaftig Mensch wurde. Als Geistwesen, so die Gnostiker, konnte Christus nur einen Scheinkörper haben und auch niemals als Versöhnung für die Sünden aller Menschen leiden und am Kreuz sterben. Die Erlösung wird so zur Selbsterlösung mit Hilfe der von Jesus vermittelten Gnosis (Wissen vom göttlichen Wesen im Inneren des Menschen), und sie besteht in der Befreiung aus dem Gefängnis des Leibes. Einen Bericht von Jesu Leben, Leiden, Sterben und Auferstehung liefern die Gnostiker nicht.

An einige Worte Jesu knüpfen die Gnostiker allerdings an und passen sie an ihre Kosmologie und an ihr Menschenbild an. Wenn Jesus z. B. von sich als vom „Licht der Welt“ spricht, sehen das die Gnostiker als einen Beweis für ihre Äonenlehre – dafür, dass Jesus ein Lichtäon aus der höchsten Lichtwelt sei. Wenn Jesus von sich und seinem Vater sagt „Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Joh 14,23), wird dies in eine Aussage über das Wohnen des Christusäons im Innern des Menschen umgewandelt. Christus kann keinesfalls eins mit dem Vater, dem Schöpfer, sein, doch der „Christusgeist“ wohnt im Menschen, und zwar schon vor der Entstehung des Glaubens. Dem Menschen muss nur bewusst gemacht werden, was in seinem Inneren schon vorhanden ist. Und er muss von den Ketten des Leibes befreit werden. Jesu Wort „von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen heraus böse Gedanken“ (Mk 7,21) passt nicht in das gnostische System. Auch ist nach ihrer Meinung für einen Menschen nicht unmöglich, sich selbst zu erlösen, sich selbst wiederzugebären. „Wer kann dann selig werden?“ wendeten schon die Menschen in den Tagen Jesu (Mk 10,26) ein, und dies tun auch die Gnostiker. Die Antwort Jesu „Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott“ (Mk 10,27) und die Tatsache, dass die Wiedergeburt einzig und allein Gottes Werk ist (Joh 3,3ff), sind ein Stein des Anstoßes für alle, die an eine Erlösung glauben, die in Selbstvertiefung und Befreiung des eigenen Ichs besteht.

3 Einige Punkte über gnostisches Denken heute

Die Anarcho-Feministen
nehmen diese gnostischen
Gedanken auf und haben die Zerstörung von Staat und
Patriarchat zum Ziel

(1) Nach Meinung der Gnostiker finden wir die göttliche Autorität in uns selbst, nicht in den heiligen Schriften der Bibel. Wir sollen uns nicht an einen allwissenden und allmächtigen Schöpfer außerhalb von uns wenden und seiner Unterweisung folgen. Die höchste Autorität befindet sich stattdessen in uns selbst. Dein Inneres, dein Geist, ist ein Teil des wahren Lichtes, der wahren Wirklichkeit. Folge deinem inneren Licht! Diese gnostischen Gedanken sind heute sehr beliebt. Sie machen frei von allen äußeren Autoritäten, die als einengend und versklavend empfunden werden. Die Anarcho-Feministen nehmen diese Gedanken auf und haben die Zerstörung von Staat und Patriarchat zum Ziel.

(2) Von einer Schöpfungsordnung, die von „Gott dem Vater, dem Schöpfer Himmels und der Erde“ gegeben ist, will der Gnostizismus nichts wissen. Dass die Unterscheidung von Männlichem und Weiblichem (hebr. zakar und neqeva, Gen 1,27) Gottes gute Schöpfung und Ordnung ist, wird zurückgewiesen. Nur das geistliche Innere des Menschen ist gut. Männliches und Weibliches sind Teil der Schöpfung des bösen Schöpfergottes. Und diese Schöpfung hält den Geist gefangen und unterdrückt ihn. Nach der Meinung radikaler Feministen sind Ehe und Familie schädliche Schöpfungsordnungen, die zu Kontrolle und Unterdrückung führen. Die sogenannten „theologischen Feministen“ bekämpfen das patriarchalische Frauenbild der Bibel und legen die biblischen Texte anders aus. Laut Queer-Feministen5 ist nicht nur das Geschlecht, sondern auch die Sexualität eine soziale Konstruktion. Laut Öko-Feministen ist Heterosexualität ein großes Problem, weil es für Heterosexuelle wichtig ist, Frauen und Männer zu unterscheiden.

(3) Der Gebrauch der Sexualität als einer wichtigen Gabe Gottes innerhalb der Ehe zwischen Mann und Frau führe zu einer unterdrückenden Machtordnung. Da das Leibliche im Gnostizismus Schöpfung des bösen Gottes ist, muss die Sexualität zu etwas Geistigem emanzipiert (befreit) werden, um akzeptiert werden zu können. Einige Gnostiker befürworten Ehelosigkeit, aber andere meinen, die Befreiung bestehe darin, die Sexualität in verschiedenen freien Formen auszuleben. Sie sehen die Sexualität als einen Weg zur Vereinigung des Geistes mit dem höchsten Göttlichen, man wird „geistig heil“, oder wie es der Hinduismus ausdrückt: Es kommt zur Vereinigung mit der Weltseele „Brahman“. Durch das sexuelle Ausleben erhält man Gnosis vom wahren Göttlichen und erfährt Gott. Hier gibt es Berührungspunkte mit Göttinnenkult, Fruchtbarkeitsriten und Hieros-Gamos-Zeremonien (Tempelprostitution) alter heidnischer Kulturen.


  1. Nach einer mittelalterlichen Legende angeblich ein Gefäß, in dem etwas Heiliges aufbewahrt wird (vgl. Erklärung im Folgenden). 

  2. Bengt Hägglund, Teologins historia, 1956, S. 20 (dt. Ausgabe: Geschichte der Theologie, Berlin 1983, S. 28f). Vgl. diese Auffassung mit Menschenbild und Erlösungslehre der Mormonen. 

  3. Vgl. Bertil Gärtner, Ett nytt Evangelium? Thomasevangeliets hemliga Jesusord [Ein neues Evangelium? Die heimlichen Jesusworte des Thomasevangeliums] (1960). 

  4. Vgl. zum Text des Gebets:  (Teil III). 

  5. Ein Queer-Feminist akzeptiert nicht, dass sexuelle Identität eine persönliche Eigenschaft ist und verwirft Heterosexualität als Norm [engl. queer = abweichend von der Norm].