1 Zur gegenwärtigen Situation
Von Berufung zu einer Tätigkeit kann heute kaum mehr die Rede sein, höchstens im Blick auf Künstler mit Ausnahmetalent. (Bei der Berufung in ein akademisches Lehramt handelt es sich lediglich um einen verwaltungstechnischen Fachbegriff.)
Auch die Bedeutung des Wortes Beruf ist zurückgegangen. Der Herkunft nach handelt es sich bei diesem Wort um eine Kurzform von „Berufung“. „Beruf“ ist daher ursprünglich ein in gleicher Weise sinndurchtränktes Wort. In der Idealvorstellung ergreift man einen Beruf, zu dem man Talent hat, in dem man sich ausbildet, der die ganze Person ausfüllt und den man ein Leben lang ausübt. Ganzheitlichkeit, Dauer, Qualifikation und Sinnerfüllung sind Merkmale der beruflichen Erwerbstätigkeit im klassischen bürgerlichen Sinn. In der arbeitsteiligen Produktions- und Dienstleistungsgesellschaft sind diese Merkmale jedoch weithin verlorengegangen. Der Beruf wandelte sich zum
- Beruf(ung) verpflichtet zur Nächstenliebe
- Der Ideologie des Individualismus verschärft das Problem der Arbeitslosigkeit
- Stärkung der Familie als kleinster Zelle der Gütergemeinschaft
„Job“, zur Tätigkeit, die keineswegs lebenslang bindet, die auch nicht sinnvoll sein muss. Vielmehr geht es darum, ein finanzielles Einkommen zu erzielen. – Der Begriff „Beruf“ blieb dennoch erhalten als Bezeichnung für eine Tätigkeit, die ausgeübt wird, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Auf Formularen, etwa bei Angaben für Behörden, wird nach dem „Beruf“ gefragt. Das Wort „Beruf“ meint dabei jedoch lediglich die Art der Erwerbstätigkeit.
In der Umgangssprache wird entsprechend kaum noch vom „Beruf“ geredet, sondern von Arbeit. Man fragt einander nicht: „Übst du einen Beruf aus?“, sondern kurz: „Arbeitest du?“ bzw. in Zeiten der Arbeitslosigkeit: „Hast du Arbeit?“
Dabei erfährt das Wort „Arbeit“ eine spezifische Einengung. Gemeint ist nämlich die außerhäusliche Erwerbstätigkeit.
Daher kommt es zu merkwürdigen Verschiebungen: Es hat sich durchgesetzt, dass auf Formularen unter „Beruf“ auch „Hausfrau“ angegeben werden kann; jedoch ist das eine Verlegenheitslösung. Jedenfalls heißt es im allgemeinen Sprachgebrauch über eine Hausfrau: „Sie arbeitet nicht“. Das ist natürlich Unsinn, denn eine Hausfrau, insbesondere mit Kindern, arbeitet erwiesenermaßen mehr als viele außerhäuslich Erwerbstätige. Aber wir sehen hier, dass die Vorstellung von „Arbeit“ mit bezahlter Erwerbsarbeit fest verknüpft worden ist. – Das heißt wiederum, dass ein Arbeitsloser keineswegs stets nichts zu tun, also nichts zu arbeiten hat. Ein Arbeitsloser kann außerordentlich tätig und sehr fleißig sein; nur erzielt er eben kein finanzielles Einkommen.
Zur grundlegenden Systemänderung fehlt der Politik Kraft, Mut und Ehrlichkeit
Diese Verschiebungen im Sprachgebrauch haben zwei Ursachen, nämlich erstens die Produktionsweise in der modernen arbeitsteiligen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, zweitens die weitgehende Verknüpfung des Sozialsystems (insbesondere in Deutschland) mit der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit.
Zum ersten Kriterium: In der vorindustriellen Gesellschaft waren Wohn- und Arbeitswelt nicht getrennt. „Familienbetrieb“ und „Produktionsbetrieb“ lagen unter demselben Dach. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, über eine Bauersfrau auf dem Hof zu sagen: „Sie arbeitet nicht“. Dasselbe gilt für die „Frau Meisterin“ in einer Handwerkerfamilie. Erst die bürgerliche Kleinfamilie nach der industriellen Revolution schuf die „Hausfrau“, ebenso aber auch die Arbeiterfrau, die ihre Arbeitskraft verkaufen muss, um die Familie finanziell durchzubringen. Die Spaltung von Familientätigkeit und außerhäuslicher Berufstätigkeit samt der Doppelbelastung für „berufstätige“ Frauen hat hier ihre Wurzel.
Zum zweiten Kriterium: Das Alterseinkommen über die Renten- und Pensionsbezüge wurde mit der vorangehenden außerhäuslichen Erwerbsarbeit verknüpft. Auch die Höhe hängt vom früher erzielten Erwerbseinkommen ab. Dabei sind insbesondere Hausfrauen, die Kinder großgezogen haben (in seltenen Fällen auch Hausmänner), erheblich benachteiligt. Fälschlicherweise wird ja von der „Rentenversicherung“ gesprochen, während es sich in Wahrheit nicht um eine Rücklagen bildende Versicherung, sondern um ein Umlageverfahren handelt, bei dem die jeweils erwerbstätige Generation die Altersbezüge der Elterngeneration finanziert. Daher haben nur diejenigen, die Kinder großgezogen haben, für ihre eigene Rente „gespart“, indem sie nämlich für das Umlageverfahren vorgesorgt haben.
Man spricht auch vom „Generationenvertrag“. Wegen des demographischen Wandels, verursacht durch Kinderarmut, geraten folglich die Sozialsysteme in die Krise, von der heute allenthalben die Rede ist und derer die Politik nicht Herr wird, weil zu einer (freilich Schritt für Schritt zu vollziehenden) grundlegenden Systemänderung Kraft, Mut und Ehrlichkeit fehlen. Insbesondere die Ehrlichkeit wird zusätzlich durch die Ideologie verhindert, von der noch zu reden sein wird.
2 Ein Blick zurück
Die Arbeit ist eine Grundlage menschlichen Lebens. Da der Mensch im Gegensatz zum Tier nicht in die ihn umgebende Natur eingepasst ist, muss er sich durch Arbeit das schaffen, was ihm das Leben in einer oft schwierigen Umwelt ermöglicht. Nach einem Wort von Martin Luther ist der Mensch „zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen“. Da die Arbeit jedoch mit Mühe und Schweiß verbunden ist, hat die Arbeitsteilung in menschlichen Gemeinschaften zur Delegierung von Arbeit geführt, sich also mit Herrschaft verbunden. Nach altorientalischen Mythen erschufen die Götter die Menschen, um sich von ihnen bedienen zu lassen. Den Göttern war es zu anstrengend, selbst zu arbeiten. Entsprechend galt die Arbeit in antiken Gesellschaften für Höhergestellte als unwürdig. Man wälzte sie auf niedere Volksschichten und Sklaven ab. Im antiken Griechenland galt Handarbeit als „banausisch“ („banausos“ = „Handwerker“).
Diese Einstellung prägte auch die abendländische Geschichte. Sie wurde aber überlagert von der biblischen Sicht. Im Unterschied nämlich zur außerbiblischen Umwelt gehört nach dem Alten Testament die Arbeit zu den positiven Aufgaben des Menschen. Der Schöpfer setzte den Menschen in den Garten Eden, „um ihn zu bebauen und bewahren“ (1Mose 2,15). Arbeit ist paradiesisch! Die Mühe und die Last kamen erst durch den Sündenfall hinzu (1Mose 3,16-19). Deshalb unterschied sich die Haltung zur Arbeit im Judentum in der Zeit von Jesus Christus deutlich von der der hellenistischen Umgebung. Ein Rabbi sollte einen Beruf ausüben. Jesus erlernte das Zimmermannshandwerk, Paulus war Zeltmacher.
Jesus berief die Jünger in seine Nachfolge. Er machte aus Fischern „Menschenfischer“ (Mk 1,17; Mt 4,19). Sie erhielten durch ihre Berufung einen neuen Beruf. Die Berufung war das Umfassendere, der Beruf Ausdruck dieser Berufung. In diesem Sinne waren die Jünger von Jesus „die ersten Berufsarbeiter der Geschichte“ (Walther Bienert). In der Tradition des Mittelalters wurde dies aber so interpretiert, als seien nur Mönche und Kleriker Berufene. Die Berufung wurde im Rahmen einer Ständegesellschaft auf die Geistlichkeit beschränkt.
Die Haltung zur Arbeit unterschied das evangelische Christentum wesentlich von der antiken und der mittelalterlichen Gesellschaft
Martin Luther war es, der diese Mauern zerbrach. Sein Kriterium war die Nächstenliebe. Jeder soll in seinem Stand mit seiner Arbeit dem Nächsten dienen. Darum dient nach einem berühmten Wort Luthers die Magd, die die Stube fegt, dem Nächsten mehr als der Mönch, der hinter Klostermauern nur für sein eigenes Seelenheil „arbeitet“. Die Magd ist daher nicht weniger berufen als der Kleriker. In diesem Sinne übersetzte Luther in 1Kor 7,20 das griechische Wort „klêsis“ mit „Beruf“:
„Ein jeglicher bleibe in dem Beruf, darin er berufen ist.“ [In der revidierten Ausgabe von 1985 heißt es: „Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde.“]
Er meinte damit, dass jeder an dem Platz, an den Gott ihn hingestellt hat, bestrebt sein soll, mit seinem ganzen Tun, also auch seiner Arbeit, seiner geistlichen Berufung als Christ zu folgen und dem Nächsten darin zu dienen.
Der neuzeitliche Berufsbegriff leitet sich also von der Berufung zur Nachfolge von Jesus Christus ab. Nachfolge verpflichtet zum Dienst am Nächsten. Luthers Ausweitung über den Stand der Kleriker hinaus wertete die weltlichen Tätigkeiten auf und machte sie zu „Berufen“.
In der nachfolgenden Geschichte geschah aber ein weiterer Wandel. Humanismus und Idealismus stellten nicht die Berufung durch Jesus Christus und den Dienst am Nächsten in den Mittelpunkt ihres ursprünglich von Luther hergeleiteten Berufsbegriffs, sondern die persönlichen Anlagen, Begabungen und Interessen des einzelnen Menschen. Jeder sollte sich entfalten und seine Gaben entwickeln – die Aufklärung meinte noch zum Nutzen der Gesamtgesellschaft, die sie organisch als einen Leib auffasste, in dessen Rahmen jeder seine Pflicht nach Stand und Begabung erfüllt. In der modernen Industriegesellschaft ließ sich die organische Sicht jedoch nicht mehr aufrechterhalten. Der Schuster, der dem Schneider die Schuhe machte, und der Schneider, der dem Schuster den Rock nähte, konnte in seiner Arbeit noch eine direkte Beziehung zur Nächstenliebe sehen. Wer am Fließband immer dieselben Handgriffe verrichtet, weiß nicht, für wen er arbeitet und kennt vielleicht nicht einmal das Endprodukt. Die Arbeit dient zum Broterwerb, sie ist nicht sinnerfüllt; der Beruf wird zum Job.
Im bürgerlichen Berufsverständnis trat an die Stelle der Nächstenliebe der Gedanke der Selbstverwirklichung
Das Ideal des Berufes aber blieb bestehen. Im bürgerlichen Berufsverständnis trat allerdings an die Stelle der Nächstenliebe der Gedanke der Selbstverwirklichung. – Nach wie vor sehnen sich die Menschen auch heute nach einer Erwerbstätigkeit, in der sie ihre persönlichen Interessen zwecks Selbstverwirklichung entfalten können. Mehr und mehr sind jedoch auf dem Arbeitsmarkt nicht Berufe gefragt, sondern es werden, oft zeitlich begrenzt, Jobs angeboten. So endet die bisherige Geschichte des Berufes „in einer nie dagewesenen Berufskrisis“ (Karl Dunkmann).
3 Christsein und Beruf in unserer Zeit
Christen sind von der gegenwärtigen Situation mitbetroffen. Auch sie stehen in der Spannung zwischen Berufung und Job, auch unter ihnen gibt es Erwerbslose. Wer nicht Reichtümer geerbt hat, muss zusehen, wie er seinen Lebensunterhalt erwirbt.
In dieser Situation gilt es als erstes, nüchtern den neuzeitlichen Ideologien entgegenzutreten. Zwar gehört die Arbeit zum Menschsein; doch die Arbeit ist weder der Himmel der Selbstverwirklichung noch die Hölle der Selbstentfremdung. Nach dem Sündenfall gilt beides: Arbeit heißt einerseits, mitwirken zu dürfen an Gottes Schöpfungswerk und am Werk seiner Welterhaltung; andererseits steht Arbeit unter dem Zwiespalt von Mühe, Schweiß und teilweise auch Vergeblichkeit. Mühe, Schweiß und Vergeblichkeit gelten selbst in dem optimalen Fall, dass ein Mensch eine Berufsarbeit ausübt, in der er seine Talente voll entfalten kann. Nehmen wir nur das Beispiel eines Genies wie Michelangelo, der aus einem Marmorblock die Gestalt des Mose herausmeißelt, dem manchmal der Stein zerspringt, oder der auf hartem Gerüst, auf dem Rücken liegend, monatelang die Decke der Sixtinischen Kapelle ausmalt. – Auch intellektuelle Arbeit ist mit Mühe, Selbstdisziplin, teilweise Askese verbunden, wenn sie erfolgreich sein soll. Auch hier gibt es vergebliche Anstrengungen, wenn das Forschen in eine Sackgasse gerät und man von neuem ansetzen muss.
Die Arbeitslosigkeit ist ein großes persönliches und gesellschaftliches Problem. Sie wird jedoch durch die modernen Ideologien verschärft statt gemildert. Grundfehler ist, dass der Gemeinschaftsgedanke – angefangen bei der kleinsten Einheit, Ehe und Familie – zugunsten des puren Individualismus aufgegeben wurde. Die Ideologie lautet:
Du musst dich selbst verwirklichen, und das kannst du nur durch außerhäusliche Erwerbstätigkeit. Diese Ideologie zerstört Ehen und Familien. Das angestrebte Ideal kann schon deshalb nicht erreicht werden, weil es nicht genügend bezahlte Arbeitsplätze gibt. Vom Familieneinkommen ist nicht die Rede, nur von den individuellen Arbeitsverdiensten.
Der übertriebene Individualismus verleitet dazu, dass jeder an sich rafft, was er kann, ohne bereit zu sein, das Erworbene zu teilen. Der Staat muss mit Zwangsabgabesystemen eingreifen. Diesen wiederum versucht sich jeder zu entziehen, so gut er kann, seien es Arbeitgeber oder Arbeitnehmer. Das System gerät in die Dauerkrise.
Die Familie hingegen ist die kleinste Zelle der Gütergemeinschaft. Das ist wichtig, gerade auch über die Generationen hinweg: von Alt nach Jung und Jung nach Alt. Die Familie kann durch keinen staatlichen Eingriff und keine Arbeitsmarktpolitik ersetzt werden. Darum muss endlich mit der Diffamierung der Familienarbeit Schluss sein.
Christen sollten sich der Lüge widersetzen, dass Kleinkinder in Horten mit außerhäuslicher Ganztagsbetreuung besser gedeihen und mehr gefördert werden als in intakten Familien. Das Gegenteil ist der Fall und wurde vielfach nachgewiesen (Lorenz, Meves u. a.).
Nur in Notsituationen kann eine Betreuung im Hort ein Notpflaster sein
Nur in Notsituationen von Alleinerziehenden oder bei zerrütteten Familienverhältnissen kann eine Betreuung im Hort ein Notpflaster sein, aber eben nur ein Notpflaster. (Es geht nicht primär um finanzielle Fragen, wie manchmal suggeriert wird, denn zerrüttete Familienverhältnisse gibt es auch in reichen, ja wohlhabenden Familien.) Totalitäre Staaten streben danach, die Kinder möglichst früh aus den Familien zu entfernen, um sie in den Horten zu indoktrinieren. Es muss deshalb nachdenklich stimmen, dass der heutige politische Trend in diese Richtung zielt.
Die Familie kann durch keine Arbeitsmarktpolitik
ersetzt werden. Darum muss mit der Diffamierung der Familienarbeit Schluss sein.
Die außerhäusliche Erwerbstätigkeit ist neben der Erzielung von Einkommen ein Mittel der gesellschaftlichen Teilhabe. Wer seinen Arbeitsplatz verliert, büßt diese Möglichkeit der Teilhabe ein. Jedoch gilt dasselbe auch für Rentner, Pensionäre und Hausfrauen/Hausmänner. Die moderne offene Gesellschaft bietet dennoch vielfache Möglichkeiten an, sich außerhalb des Erwerbslebens gesellschaftlich zu engagieren: von der Nachbarschaftshilfe über Bürgerinitiativen bis hin zu ehrenamtlichen Tätigkeiten in Vereinen, Gemeinden und Politik.
Es gibt keine christliche Patentlösung für die Knappheit an bezahlten Arbeitsplätzen in unserem Land, die durch Produktionsfortschritte und wirtschaftliche Globalisierung mitbedingt ist. Jedoch gibt es keinen Mangel an Arbeit. Es wird eher zu wenig als zu viel gearbeitet. Damit ist freilich nicht die gewerkschaftlich ausgehandelte Arbeitszeit gemeint. Vielmehr: Immer wieder wird nach Hilfe gerufen. Viele Menschen sind allein. Darum ist es wichtig, Luthers biblischen Ansatz im Blick auf Arbeit, Arbeitslosigkeit, Berufung und Beruf wiederzugewinnen. Es gilt, in der jeweiligen Situation, in welcher der Einzelne sich vorfindet, dem isolierenden Individualismus abzusagen und nach Gottes Willen zu fragen. Die Aufgabe eines jeden Christen ist es, Jesus Christus nachzufolgen und dem Nächsten zu dienen mit den Gaben, die er empfangen hat. In diesem Sinne fallen Berufung und Beruf des Christen stets in eins.