„… das AT … wird als vertrauenswürdiges und verlässliches Dokument verstanden.“ Mit diesen Worten wird die Herausgabe eines weiteren Buches zur Geschichte Israels begründet.1 Sofort folgt die Frage, ob man denn das AT überhaupt anders bewerten kann, ob Bücher über die Geschichte Israels aus einem anderen Blickwinkel geschrieben werden können? Man kann! Und es ist sogar üblich. Deswegen darf es als erfreuliche Abgrenzung Merrills verstanden werden, eine Geschichte Israels mit diesem Ansatz zu schreiben. Immerhin ist er Professor für semitische Sprachen und Altes Testament und somit Kenner der Debatten und Argumente – ein qualifizierter Fachmann also.
Merrill weist auf den engen Zusammenhang von Geschichte und Theologie des AT. Dabei besteht gewöhnlich breite Übereinstimmung darüber, dass das AT theologische Literatur ist. Als solche beschreibt sie die Bundesbeziehung Gottes zu seinem Volk und seine Anweisung zur Lebensgestaltung in großer Breite. Aber das AT ist nicht nur theologische Literatur, sondern berichtet auch Geschichte. Genau darüber gehen die Meinungen jedoch weit auseinander.
Selbstverständlich genügen die alttestamentlichen Berichte den Kriterien moderner Geschichtsschreibung nicht. Doch dies ist ohnehin unstatthaft. Man kann doch nicht erwarten, dass Berichterstatter vor mehr als 3000 Jahren sich auf unsere Anforderungen einstellen würden!
Müssen die Berichte deswegen aber sogleich unglaubhaft und unzuverlässig sein? Keineswegs! Um Fragen der Zuverlässigkeit soll es nachfolgend noch weiter gehen.
Zuvor jedoch noch eine andere Überlegung: Wie wichtig sind denn diese Fragen überhaupt? Muss man sich damit Kopf und Herz schwer machen? Ist nicht viel wichtiger, die richtigen Konsequenzen aus den Ereignissen zu ziehen, den Prophezeiungen zu glauben usw.? In der Tat ist der Inhalt das Entscheidende. Für die Inhalte ist die Biblische Theologie zuständig. Sie widmet sich der Untersuchung und Deutung der Berichte. Dennoch ist unübersehbar, „dass das AT trotzdem den Anspruch hat, zuverlässig Geschichte zu berichten, da es als Urkunde über Jahwes Bundesbeziehung zu seinem Volk Israel verstanden werden will, ein Bericht, der immer wieder geschichtliche Ereignisse aus der Sicht Gottes interpretiert und sie als vorhergesagt erzählt. Dabei wird vorausgesetzt, dass sie in Raum und Zeit geschehen sind, und somit die theologische Botschaft ihre Basis in tatsächlicher Geschichte hat.“2
Damit haben wir einen wesentlichen Zusammenhang vor Augen. Geschichte mit ihren Ereignissen ist die Basis für die theologische Botschaft. Das war damals so und das gilt auch heute den Lesern der Bibel. Weshalb sollte denn beispielsweise eine Umkehr zu Gott hin vollzogen werden, der sein Volk als Reaktion auf ihren Götzendienst gestraft hatte, wenn dies so gar nicht stattfand? Wenn etwa gar kein eindeutiger Zusammenhang bestand zwischen dem Treuebruch Israels und der angekündigten Strafe Gottes für diesen Fall3 Wenn alles nur Interpretation war ohne Bezug zu den Tatsächlichkeiten, welches Gewicht hätten Ermutigung und Segensverheißung für die Treuen?
Offenbar trifft das AT von vornherein auf eine Situation des Misstrauens und Zweifels. Als Geschichtswerk wird es nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Nun könnte man sagen, dass dies einfach dem Umstand geschuldet ist, dass man früher ein anderes Verständnis über Geschichtsschreibung hatte als wir heute. Erst dann, wenn für Berichte der Bibel unabhängige Bestätigungen oder wenigstens Indizien zu finden wären, könnte man „mit einem guten Gefühl“ von Tatsachen sprechen. Man mag dieser Überlegung bis zu einem gewissen Grad folgen können. In der Tat veränderten Funde von Archäologen und deren Bewertung als Bestätigung biblischer Darstellungen die zwangvolle Ausgangssituation. Dennoch bleibt oft genug die erhoffte Änderung in der Bewertung der Berichte aus, Zweifel bleibt. Wieso eigentlich? Sollte der Zweifel an der Geschichtlichkeit der berichteten Ereignisse nicht gerne preisgegeben werden?
Dass dem nicht so ist, gehört zu den Merkwürdigkeiten theologischer Wissenschaft. Nach einer Periode beinahe grundsätzlicher Abwertung geschichtlicher Bedeutsamkeit des AT kam es zu einem Wechsel. Er ist mit dem Namen des Theologen Gerhard von Rad verknüpft. Er zeigte die Verbindung von Israels Geschichte und Glaube auf und wie dieser in der Geschichte eingewurzelt sei. Damit erlangte das AT einen bis dahin verlorenen Stellenwert.
So weit, so gut. Dennoch überschritt v. Rad eine bestimmte Linie nicht. Er wertete nämlich die historischen Berichte nur als heilsgeschichtliche Berichte. Das ist zwar wesentlich mehr, als in den Jahrzehnten vorher erfolgte, blieb aber dennoch hinter dem Anspruch der entsprechenden alttestamentlichen Texte zurück. Denn diese wollen wirkliche Geschichte berichten. Bei v. Rad wird über Bedeutung für Heilsgeschichte nachgedacht, aber unter Verzicht auf historische Faktizität. Dies sei nicht möglich. Tradenten knüpfen in ihrem Nachdenken an bestimmte Ereignisse oder Erzählungen darüber an und formen daraus die Glaubensinhalte für das Volk Israel. Dabei formen sie die Vorlagen um oder schmücken sie aus. Das Ergebnis gilt als Wahrheit.
Ein interessanter Entwurf, der relativ viel biblische Substanz wahrt (heilsgeschichtliche Perspektive) und zugleich aus der Spannung von Geschichte und Glaube herausführt. Aus diesem Grund erfreute sich dieses Konzept recht großer und erleichterter Zustimmung. Dennoch bleibt der Mangel unübersehbar: es verkürzt unzulässig die Faktizität der Berichte, ihrer Geschichtlichkeit. Dem Anspruch der Texte wird nicht Rechnung getragen, sozusagen gegen ihren erklärten Willen verstoßen.
Ein weiteres Problem erwächst aus diesem Konzept. Es schafft wohl ein größeres, als es zu lösen vorgibt. Geschichte im AT zerfällt in zwei Ebenen. Einmal die des tatsächlichen Geschehens und zum anderen die des Bekenntnisses (Geschichte, die zum Glaubensinhalt wurde). Das ist verwirrend und stellt vor die Frage, ob dies nicht doch in eine Sackgasse führt.
Erschwerend kommt noch hinzu, worauf Merrill nachdrücklich verweist: „Doch wenn Geschichtsschreibung vom Interpreten fordert, er solle selbst entscheiden, was geschehen sei oder sich ereignet habe, öffnet sie sich radikalem Subjektivismus. Und das AT besitzt dann keine echte historische und theologische Autorität mehr.“4 Mir der möglicherweise wohlmeinenden Absicht, eines zu retten, verliert man auch das andere. Man kann natürlich so tun, als wäre dies nicht der Fall und Theologie ohne Fundament betreiben. Doch widerspricht dies ihrer Bestimmung und sie muss sich zudem nach ihrer Verantwortung fragen lassen.
Immer wieder hörten wir es: Die Bibel will kein Geschichtsbuch sein. Dass sie dennoch Geschichte berichtet, haben wir gesehen. Die Frage ist aber, was lässt sich denn im konkreten Fall aus den Angaben des AT zu geschichtlichen Problemen gewinnen? Bringt es tatsächliche und nennenswerte Ergebnisse etwa bei Datierungsfragen? Stellt es eine brauchbare Informationsquelle dar?
In einem Beispiel geht es um die Datierung des Einmarsches Israels ins verheißene Land. Bei dieser Frage prallen zwei Meinungen aufeinander. Zum einen macht man geltend, dass eine Landnahme im 13. Jh. erfolgte (sogenannte Spätdatierung). Zum anderen widerspricht man dieser Einordnung energisch und plädiert für eine deutlich frühere Landnahme, nämlich bereits zu Beginn des 14. Jh. (Frühdatierung). Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, jedwede Auseinandersetzung darüber zu unterlassen, da die Informationen ohnehin höchst bescheiden sein dürften. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Faktenlage.
Von den Vertretern der Spätdatierung verweist man auf ein gewichtiges Problem: In der Zeit der Eroberung im 14. Jh. lassen sich regelmäßig keine Spuren kriegerischer Auseinandersetzungen in den Ortschaften nachweisen (Zerstörungs- und Brandschichten). Diese findet man später – für das 13. Jh. Deswegen gibt man die gewohnte Datierung preis und spricht von einer durch die archäologischen Befunde vorgegebenen Spätdatierung. Auf ganz exakt wissenschaftlichem Weg gelangt man zu dieser Feststellung.
Traditionelle biblische Chronologie steckt in der Klemme. Denn sie vertritt eben die Frühdatierung und steht im Widerspruch zu den archäologischen Befunden. Es gilt nun, den Widerspruch näher in Augenschein zu nehmen. Solche Vorgehensweise ist nicht anrüchig. Es sei denn, sie zielt darauf, „gewaltsam“ die archäologischen Fakten „passend zu biegen“. Doch hier geht es um sachliches Analysieren und Bewerten.
Interessant ist die Vorgehensweise der Verteidiger der Frühdatierung. Sie ignorieren selbstverständlich archäologische Befunde nicht. Aber sie nehmen auch das AT als Quelle ernst. Deswegen stellten sie Beobachtungen über die Vorgehensweise Israels, über Josuas Taktik der Eroberung an. In der Tat verhielt sich Josua reichlich unerwartet, nimmt man damalige Eroberungsstrategie zum Maßstab. Josua folgte den Anweisungen Moses für genau diese Situation.5 In der Regel sollten die Ortschaften unzerstört bleiben und der sofortigen Besiedelung verfügbar sein. Lediglich drei Ausnahmen gab es, auf die hier aber nicht näher eingegangen wird. Josua befolgte diese Anweisung peinlich genau, wovon während seiner Feldzüge6 detailliert berichtet wird. Als Josua die Zeit seines Todes kommen sieht, richtet er das Wort (im Auftrag Gottes) an das Volk. Neben den wichtigen Ermahnungen zur Treue und Warnungen vor den verheerenden Folgen bei Bundesbruch führt er Segen für das Volk an, den Gott an ihnen wahrmachte: sie wohnten in Städten, die sie erbauten und ernährten sich von Früchten, deren Bäumen sie nicht pflanzten.7
Was heißt das aber? Wenn die Israeliten bei ihrer Eroberung die Städte zwar plünderten aber nicht verwüsteten, also unzerstört ließen, dann ist auch nicht mit dem Auffinden von Brand- und Schuttschichten in der ersten Hälfte des 14. Jh. zu rechnen. Israel verfolgte diese Taktik konsequent. Gott hatte seinem Volk nicht nur über die Feinde Sieg geschenkt, sondern ihnen zugleich ein „Startkapital“ mitgegeben.
Für die gefundenen Zerstörungsschichten aus dem 13. Jh., die man als Indiz für die Spätdatierung wertete, kommt als Erklärung eine der zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen der Richterzeit in Frage.
Sicherlich ist damit noch nicht die komplette Debatte um die Eroberung geklärt. Eines der Hauptargumente der Spätdatierungsbefürworter konnte jedoch entschärft werden. Bemerkenswert daran ist, dass es gerade dadurch geschah, dass das AT als historische Quelle ernst genommen und auf seinen Informationsgehalt hin geprüft wurde.
Wie wir über das AT zu denken haben, muss sich von dessen Anspruch her klären. Will es Geschichte und Glauben vermitteln, dann ist es unrecht, daran Abstriche zu machen oder Umdeutungen vorzunehmen. Nur die Einheit von Theologie und Geschichte stellt die rechte Perspektive dar.
Eugene H. Merrill, Die Geschichte Israels, Hänssler 2001, Hg. Helmuth Pehlke, S.13 ↩
a.a.O. S. 15 ↩
vgl. 5Mo 29,15-27 ↩
a.a.O. S.35 ↩
5Mo 6,10f Und es soll geschehen, wenn der HERR, dein Gott, dich in das Land bringt, das er deinen Vätern, Abraham, Isaak und Jakob, geschworen hat, dir zu geben: große und gute Städte, die du nicht gebaut hast, und Häuser voll von allem Guten, die du nicht gefüllt hast, und ausgehauene Zisternen, die du nicht ausgehauen hast, Weinberge und Olivenbäume, die du nicht gepflanzt hast, und du dann essen und satt werden wirst … ↩
Jos 10,35 Und sie nahmen es an demselben Tag ein und schlugen es mit der Schärfe des Schwertes. Und an allem Leben, das darin war, vollstreckte er den Bann an demselben Tag, genauso, wie er es mit Lachisch gemacht hatte. Jos 10,37 Und sie nahmen es ein und schlugen es mit der Schärfe des Schwertes mitsamt seinem König und allen seinen Städten und allem Leben, das darin war: er ließ keinen Entronnenen übrig, genauso, wie er es mit Eglon gemacht hatte: er vollstreckte den Bann an ihm und an allem Leben, das darin war. ↩
Jos 24,13 Und ich gab euch ein Land, um das du dich nicht gemüht hattest, und Städte, die ihr nicht gebaut hattet und in denen ihr wohnt. Von Weinbergen und Ölbäumen, die ihr nicht gepflanzt habt, esst ihr. ↩