Am 5. Mai dieses Jahres (1988) jährte sich zum 100. Male der Todestag eines Mannes, der, obwohl heute viel zu wenig bekannt, sicherlich zu den größten Schriftauslegern gehörte, die dem Deutschland des 19. Jahrhunderts geschenkt wurden: Johann Carl Friedrich Keil.
Carl Friedrich Keil wurde am 26. Februar 1807 in Lauterbach bei Oelsnitz/Vogtland als einziger überlebender Sohn einfacher Landarbeiter geboren. Sein Wunsch war, das Tischlerhandwerk zu ergreifen. Darum ging er, den damaligen Gepflogenheiten folgend, auf die Wanderschaft. Sein Ziel war Petersburg, denn dort lebte ein Onkel Keils als Tischlermeister.
Am 7. Mai 1821 begab er sich gemeinsam mit einem Glauchauer Goldschmiedegesellen auf die Fußwanderung nach Lübeck. Von dort ging die Reise per Schiff weiter. Bei seinem Onkel eingetroffen, zeigte sich aber bald, dass er für die Hobelbank noch zu klein und zu schwach war. Darum beschloss der Onkel, ihn abermals auf die Schulbank zu setzen. Zunächst, um Russisch und Französisch zu lernen.
Hier in der deutschen Petrischule zu Petersburg zeichnete er sich aber durch Fleiß und Begabung so aus, dass er, dank der kräftigen Unterstützung durch die Kaiserin Maria Feodorowna (sie war die Schwester Wilhelms I.) zuerst in der deutsch-russischen Universität Dorpat und später in Berlin Theologie studieren durfte.
Sowohl in Dorpat wie in Berlin fand er Männer, durch die er zum lebendigen Glauben kam, und deren väterlicher Freundschaft er viel zu verdanken hatte. In Berlin war es besonders Ernst Wilhelm Hengstenberg, der ihm zu jenem konservativ-bibeltreuen Standpunkt verhalf, den Keil als Christ wie als Wissenschaftler bis zu seinem Lebensende vertrat. Gelegentlich redigierte er dessen einflussreiche, aber auch heftig befeindete „Evangelische Kirchenzeitung“.
Alexander von Humboldt bemühte sich vergeblich, den jungen hochbegabten Gelehrten für die Orientalistik zu gewinnen. Keil folgte 1833 einem Ruf an die theologische Fakultät nach Dorpat. Dort wirkte er 25 Jahre lang als ein beliebter Lehrer der alt- und neutestamentlichen Exegese, sowie der orientalischen Sprachen. 1859 begab er sich dann nach Leipzig. Hier wurden ihm nahezu volle dreißig weitere Lebensjahre geschenkt, in denen er bei bester körperlicher und geistiger Frische als Privatgelehrter weiterarbeitete. Zugleich nahm er auch am praktischen kirchlichen Leben regen Anteil. Vor allem hatte er ein Herz für die Aufgaben der Mission. In dieser Zeit nahm er auch das Hauptwerk seines Lebens in Angriff, den gemeinsam mit seinem Freund Franz Delitzsch herausgegebenen „Biblischen Kommentar über das Alte Testament“.
Keils Schriften sind noch heute ein Gewinn für einen jeden Christen, der ernsthaft an einer bibeltreuen und zugleich wissenschaftlichen Auslegung der Heiligen Schrift interessiert ist. „Er war“, so sagt Franz Delitzsch, „ein langsam und bedächtig sich fortbewegender Forscher, nicht phantastisch, aber umso verständiger und verständlicher, nicht geistreich, aber umso gesünder in der Lehre und der Bezauberung durch blendende Theorien unzugänglich.“
Unter seinen Schriften sind besonders zu erwähnen seine „Einleitung in die kanonischen und apokryphischen Schriften des Alten Testaments“, die auch nach Gleason Archers „Einleitung“ (Bad Liebenzell, 1987) noch nicht überflüssig wird; ferner „Biblische Archäologie“ und dann natürlich die stattliche Reihe seiner Kommentare zu den einzelnen biblischen Büchern. Außer Jesaja, Prediger, Hohelied, Psalmen, Sprüche und Hiob, die Franz Delitzsch bearbeitete, schuf Keil in ungemein fleißiger Arbeit die Kommentare zu allen anderen alttestamentlichen Büchern. Auch I. und II. Makkabäer, alle vier Evangelien, die Petrus- und Judasbriefe und der Hebräerbrief sind von ihm kommentiert.
Keils Ideal von theologischer Arbeit war ein vom Glauben beherrschtes, aber gleichwohl mit allen Mitteln historischer und philologischer Wissenschaft ausgerüstetes Streben nach einem vollen Verständnis der biblischen Texte. So ist denn auch das Charakteristische an Keils Kommentaren die scharfe und entschiedene Betonung des Gotteswortcharakters aller Teile des Kanons, bei gleichzeitiger Zurückweisung der kritischen Hypothesen.
Antworten auf neuere Fragestellungen kann man in diesen Kommentaren natürlich noch nicht finden. Dennoch werden sie als eine noch immer erfrischende Quelle der uns von Gott geschenkten Schriftwahrheit empfunden. Die Erläuterung bleibt nicht einfach im Historischen und Altphilologischen hängen. Stets wird dem interessierten Leser auch die Tür zu Bibelstunde und Predigt aufgetan.
Franz Delitzsch bemerkt im Vorwort zu Keils „Kleinen Propheten“ (3. Aufl. 1888), er habe aus dem Munde wissenschaftlich weiterarbeitender Geistlicher öfter gehört, dass sie Keils Kommentare allen anderen, auch den seinigen, vorziehen würden. Diesem Satz werden auch heute noch viele zustimmen wollen. Dem Theologischen Verlag Rolf Brockhaus/ Wuppertal ist jedenfalls zu danken, dass er durch die Neuherausgabe der Kommentare von Keil/ Delitzsch einem weiteren Kreis von Interessenten in unserer Zeit den Zugang zu diesen wertvollen Büchern wieder ermöglicht hat.
Schließlich möchte ich mit Dankbarkeit bekennen, dass Keils Jeremiakommentar vor Jahren das von Gott benutzte Mittel war, um mir aus einer tiefen geistlichen Krise, die ich damals durch die Beschäftigung mit moderner historisch-kritischer Einleitungsliteratur geriet, wieder herauszuhelfen. Gern erinnere ich daher an diesen gesegneten Ausleger der Heiligen Schrift. Wenn Gott unserer kaputten und glaubenslosen Zeit doch noch etliche solcher Bibelgelehrter schenken möchte!