Es wurde viel zu häufig gesagt, dass Johannes Calvin kein Interesse an Mission gehabt hätte. Solche Stellungnahmen entstehen meist aus Unkenntnis, unabsichtlich: eine bekannte Geschichte wird wiederholt. In manchen Fällen jedoch entsteht so eine Meinung, weil der Maßstab des Urteils nicht ganz fair ist, denn es basiert auf moderner missionarischer Aktivität und Organisation. D.H.-W. Gensichen hat berechtigte Fragen gestellt:
„Könnte es sein, dass die moderne Form und Struktur der Mission nicht die einzig mögliche Norm für Missionen darstellt? Sollten moderne missionarische Konzeptionen und Praktiken nicht besser aus dem Blickwinkel der Reformation beurteilt werden, anstatt die Haltung der Reformer aus einem Blickwinkel zu beurteilen, der für den einzigen legitimierten Standard für Mission gehalten wird? Das sind berechtigte Fragen, die wir in Erinnerung behalten sollten, solange wir nicht versuchen werden, sie direkt zu beantworten.“
In Calvins Gedanken hat die Kirche eine Bedeutung, die im heutigen Verständnis von Mission oft nicht zu finden ist. Er schreibt von der Kirche:
„Es gibt keinen anderen Weg, ins Leben einzutreten, außer dass diese Mutter uns in ihrem Leib behält, uns gebiert, uns an ihrer Brust ernährt und uns letztlich in ihrer Pflege und Führung hält, bis wir aus unserem sterblichen Fleisch austreten und wie Engel werden (Mt 22,30). Unsere Schwachheit erlaubt es uns nicht, aus ihrer Schule auszutreten bis wir unser ganzes Leben lang Schüler gewesen sind. Außerdem kann man nicht auf irgendwelche Vergebung der Sünden oder auf irgend eine Errettung hoffen, wenn man von ihrer Brust fern ist …“
Es gibt für Calvin zwei Merkmale der Kirche: das Wort Gottes rein zu predigen und zu hören und die Sakramente in Übereinstimmung mit Christi Institutionen zu handhaben. Diese Zeichen der wahren Kirche sind nicht nur Beleg für ihre Existenz, sondern auch Pflichten und Ziele der Kirche. Sie sind im wesentlichen die ursprüngliche Mission der Kirche. Nach Calvins Verständnis kann die Kirche nicht existieren, ohne in örtlicher Mission verwickelt zu sein.
Um die Lehre rein zu halten, sind in eine feste Kirche eingegliederte Pastoren und Lehrer wichtig, wobei Apostel und Propheten jedoch keinen Platz haben, wie Calvin erklärt:
„Das Wesen der Wirkungsweise der Apostel ist klar in dem Satz ausgedrückt: ‚Geht hin und predigt das Evangelium aller Kreatur‘ (Mk 16,15). Ihnen sind keine festen Grenzen gesetzt, sondern die ganze Erde ist ihnen anvertraut, um sie Christus gegenüber gehorsam zu machen, damit sie, wo auch immer sie das Evangelium unter den Nationen verbreiten können, sein Königreich aufbauen mögen.“
Calvin fährt auf diese Weise mit seiner Definition fort:
„Evangelisten sind, obwohl in der Rangordnung niedriger als Apostel, jene, welche ihnen in Amt und Funktion am nächsten waren.“ Calvin glaubte sehr wohl, dass es auch zu seiner Zeit Evangelisten gab, wie die folgenden Worte zeigen: „Ich bestreite nicht, dass der Herr manchmal auch in späteren Zeiten Apostel berufen, oder wenigstens Evangelisten an ihren Platz gestellt hat, wie es in unserer jetzigen Zeit geschehen ist.“
Die Kirche (mit ihren verschiedenen Diensten) hatte einen lebenswichtigen Platz in den missionarischen Gedanken des Reformators.
Calvin betonte auch die Verantwortung, welche das einzelne Mitglied der Kirche für die Mission hatte. Er tat das durch das besondere Hervorheben der Beziehung eines Christen gegenüber seinem Nächsten. Der Begriff „der Nächste“ umfasst alle heidnischen Frauen und Männer:
„Christus hat im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gezeigt, dass der Begriff ‚der Nächste‘ sogar die geringsten Personen mit erfasst.“ (Lk 10,36) „Wir sollten ohne Ausnahme alle menschlichen Rassen in einem einzigen Gefühl der Liebe erreichen.“
Der Christ hat eine Verantwortung, für „alle Menschen, die auf der Erde leben“, zu beten. „Wenn wir nur an unsere eigenen Nöte denken und dafür beten und uns nicht an die Nöte der Nächsten erinnern, schneiden wir uns selbst vom Leib Jesu Christi, unseres Herrn, ab. Wie können wir dann mit Gott verbunden sein?“ In einer Predigt über 1. Timotheus sagt er:
„Wir dürfen nicht nur für Gläubige beten, die schon unsere Glaubensgeschwister sind, sondern auch für die, welche weit davon entfernt sind, wie die armen Ungläubigen: Obwohl es so scheint, als wäre eine große Entfernung und eine dicke Mauer zwischen beiden, sollten wir dennoch Mitleid mit ihrer Verderbung haben und zu Gott beten, dass er sie wieder zu sich ziehen möge. So gesehen, lasst uns hervorheben, wie schlimm es für jedermann ist, nur mit seinen eigenen Problemen beschäftigt zu sein und keinen Blick und keine Besorgnis für seine Nächsten zu haben.“
Calvin machte klar, dass Mission nicht nur die Angelegenheit der Kirche sein sollte, sondern auch die jedes einzelnen Mitgliedes.
Das vorrangige Motiv für Mission war nach Calvins Meinung die Verherrlichung Gottes. In seiner Erklärung zum Gebet des Herrn schreibt er:
„Wir sollten wünschen, dass Gott die Ehrung erhält, die er verdient.“
„Wenn Heiligkeit mit Gottes Namen verbunden ist, atmet er reinen Ruhm; hier sind wir aufgefordert, Gott nicht nur zu bitten, seinen geheiligten Namen vor Schande und Unehre zu rechtfertigen, sondern dass er die ganze Menschheit dazu bringt, ihn zu verehren.“
Er schließt die ersten drei Bitten des Gebets mit diesen Worten: „Beim Hervorbringen dieser Bitten halten wir uns allein Gottes Herrlichkeit vor Augen.“
Ein weiteres Motiv für Mission war das Mitleid für den Nächsten. Die Motive sind nebeneinander im folgenden Zitat aus einer Predigt über 5 Mose 33,18-19 zu erkennen:
„Wir müssen, so viel es uns möglich ist, danach streben, alle Menschen der Erde zu Gott zu ziehen, dass alle Menschen ihn fürchten und ihn einstimmig anbeten. Und wenn wir tatsächlich Güte in uns haben, und wenn wir sehen, dass Menschen der Vernichtung entgegengehen, bis Gott sie unter seinem Gehorsam hat: sollten wir uns nicht mit Mitleid darum bemühen, sie aus der Hölle zu ziehen und sie auf den Weg der Errettung bringen? Und auf der anderen Seite, wenn wir wissen, dass Gott unser Vater ist, sollten wir nicht Verlangen danach haben, dass Gott dies für jeden Menschen ist? Und wenn wir in unserem Herzen nicht erkennen, dass alle Kreaturen ihm die Ehre bringen sollen, ist das nicht ein Zeichen dafür, dass wir keinen Blick dafür haben, ihn zu preisen?“
Jeder Bericht von Calvins Missionspraxis, wäre unvollständig, wenn der Hinweis auf die praktischen Probleme seiner Zeit weggelassen würde. Aber der Raum erlaubt es nicht. Es soll uns genügen, dass Calvin trotz großer praktischer Probleme immer noch großen Eifer für Mission bewies. Vor 1555 wurden nur einige Menschen von Geneva in andere Länder „gewöhnlich von Calvin selbst“ ausgesandt. Im April 1555 wurde die erste formelle Missionsarbeit in Pidmont begonnen. Später, im gleichen Jahr, wurde eine Mission in Frankreich gegründet. 1556 gingen drei weitere Missionare hinaus, einer nach Bourges und zwei in französische Kolonien. Die Arbeit wurde auf einer Insel bei Rio de Janeiro (Brasilien) aufgebaut. Als 1556 die Missionare ausgesandt wurden, besuchte Calvin gerade die Frankfurter Messe in Deutschland. Durch einen Brief von Nicolas des Gallars, einem Pastor, der als Stellvertreter Calvins während dessen Abwesenheit eingesetzt war, wurde er davon unterrichtet. Des Gallers versuchte, eine Zweigstelle in Brasilien zu gründen und daraus eine Station für Missionsarbeit unter den Topinombon-Indianern zu machen. Als 1558 drei Calvinisten den Märtyrertod starben, führte das aber zu einem traurigen Ende.
„1557 wurde die Aussendung von Boten zu einem regelmäßigen Teil der Aufgaben der Geneva Company. In diesem Jahr bekamen elf Kirchen Pastoren; im Jahr 1558 zweiundzwanzig; im Jahr 1559 zweiunddreißig. In den Jahren 1560, 1561, 1562 bekamen pro Jahr zwölf Kirchen einen Pastor. (Diese Angaben, die aus dem offiziellen Register der Company entnommen sind, belegen nicht, dass 1561 tatsächlich das Jahr des Höhepunktes war, als mehr als 100 Menschen ausgesandt wurden, wie wir dem Bericht, der das Register ergänzt, entnehmen konnten.)“
Jener Bericht berücksichtigt auch nicht den direkten Einfluss von Calvins Predigten und Korrespondenz auf Menschen, die sie lasen. Es kann nicht angezweifelt werden, dass viele von ihnen sicherlich wegen dieses Einflusses später Calvinisten wurden.
Beim obigen Bericht von Calvins missionarischen Gedanken und dessen Ausübung wollen wir die Aktivitäten von Menschen nicht überbewerten. Der Reformator sah jedoch keinen Widerspruch in der Sicht, „dass Christi Königreich durch den Fleiß der Menschen weder beschleunigt, noch unterstützt wird, sondern Gottes Werk allein ist; denn Gläubige werden gelehrt, sich einzig und allein auf seinen Segen zu stützen.“
Obiges ist nicht nur ein positiver Bericht von Calvins missionarischen Gedanken und dessen Ausübung. Es ist auch eine Herausforderung, unser gegenwärtiges Verständnis von Mission durch die Mitwirkung eines Theologen der Vergangenheit zu bereichern, dass die ganze Welt ein „Schauplatz SEINES Ruhmes durch die Verbreitung SEINES Evangeliums wird.“
aus "The Banner of Truth" mit freundlicher Genehmigung übersetzt von Markus Walter