Der Bitte des Schriftleiters, kurzfristig eine möglichst knappe Stellungnahme zur Diskussion abzugeben, die Prof. Lindemann Ende vergangenen Jahres mit seinem SPIEGEL-Interview ausgelöst hat1 komme ich gern nach. Dabei versuche ich, mich auf zwei oder drei Hauptgedanken zu beschränken. Im Kern dreht sich die Debatte meines Erachtens um die Frage, welche Rolle die Geschichte für den christlichen Glauben spielt (1). Eng damit verknüpft ist zum einen die historische Bewertung der Evangelien (2) und zum anderen die weltanschauliche Position zur Wunderfrage (3).
1. Glaube und Geschichte
Auf die Frage, auf welcher Basis ihr Glaube an Gott, die Vergebung der Sünden und das ewige Leben ruht, werden von modernen Christen zwei grundverschiedene Antworten gegeben. Die traditionelle Antwort lautet, Gott habe sich in der Geschichte seines Volkes bzw. seiner Gemeinde offenbart: Der Schöpfer hat in Raum und Zeit gehandelt und gesprochen, unmittelbar und durch seine Propheten. Ihren Höhepunkt erreichte die Offenbarung Gottes in den Worten und Taten, im Opfertod und in der Auferstehung seines Sohnes Jesus Christus. Dieses Handeln Gottes in der Geschichte ist der herkömmlichen christlichen Auffassung zufolge in den Schriften des Alten und Neuen Testaments zuverlässig dokumentiert worden. Diese Überzeugung wurde in unterschiedlichen Varianten von den Kirchenvätern und den Reformatoren geteilt und wird bis heute von der Mehrheit der aktiven Kirchenmitglieder festgehalten.
Etwa seit dem 18. Jahrhundert hat sich im Zuge der Aufklärung als Alternative zu diesem traditionellen Bekenntnis eine völlig andere Zuordnung von Glaube und Geschichte entwickelt. Die Vertreter dieser theologischen Strömung, die man häufig (etwas unscharf) als die „Liberalen” bezeichnet, lösen den Glauben weitgehend, manchmal sogar vollständig, von einem historischen Fundament. Eine Spielart dieses Ansatzes vertritt Prof. Lindemann. Die SPIEGEL-Redakteure konfrontierten ihn gegen Ende des Interviews mit der Frage: „Reicht Ihnen als Basis für Ihren Glauben die Behauptung von Menschen, was sie erlebt haben? Ihr Glaube lebt vom Glauben dieser Urchristen?” Die Antwort lautete: „So ist es”. Dieser Glaube ruht nicht auf historischen Heilstatsachen.
Herr Prof. Schröter hat die Frage aufgeworfen, ob eine solche Position intellektuell redlich sei. Das glaube ich schon. Rudolf Augstein hat Prof. Lindemann „Schizophrenie” vorgeworfen. Das ist ein bösartiger Angriff, der die theologischen Überzeugungen eines Theologieprofessors unterschwellig (aber sicher nicht ohne Absicht) in die Nähe einer Geisteskrankheit rückt. Berechtigt finde ich diese Kritik aber, insoweit sie konstatiert, dass bei nicht wenigen Theologen eine tiefe Kluft zwischen den historischen Ergebnissen ihrer wissenschaftlichen Forschung und den theologischen Inhalten ihrer christlichen Glaubensüberzeugungen klafft. Hinter Augsteins Kritik dürfte folgende Überlegung stehen: Träfen die Evangelienberichte historisch zu, wäre ein Festhalten am traditionellen Christentum nachvollziehbar. Da die neutestamentlichen Angaben über Jesus jedoch historisch unhaltbar sind, ist der christliche Glaube erledigt. Wer allerdings am Christentum festhält, obwohl er den Evangelienberichten nahezu jeden geschichtlichen Wert bestreitet, begibt sich intellektuell ins Abseits. Diesem Einwand hat sich Prof. Schröter angeschlossen. Und um diesen Punkt geht es.
2. Die Historizität der Evangelien
Es ist kein einziger antiker Leser nachweisbar, der den Evangelien eine historische Absicht abgesprochen hätte
Wer die Evangelien daraufhin untersucht, ob sie als historisches Fundament für den christlichen Glauben taugen, muss zwei Fragen beantworten, die jedem Profanhistoriker vertraut sind: Wollten die Evangelisten Geschichte schreiben? Und welchen historischen Wert haben ihre Bücher? Prof. Lindemann hat auf beide Fragen eine deutliche Antwort gegeben. Zunächst (im SPIEGEL): „Es ist … ein Missverständnis der biblischen Texte, wenn sie als Tatsachenberichte aufgefasst werden”. Diese These halte ich für falsch. Einer der Evangelisten hat sich dazu, ganz im Stil der antiken Historiographie, ausdrücklich geäußert: „Es erschien mir gut, nachdem ich allem bis auf die Anfänge nachgegangen war, es exakt und der Reihe nach aufzuschreiben” (Lk 1,3). Und es ist meines Wissens kein einziger antiker Leser nachweisbar, der den Evangelien eine historische Absicht abgesprochen hätte. Die christlichen Leser (von Papias bis Augustinus) haben den historischen Angaben der Evangelien zugestimmt; die nichtchristlichen Leser (wie Celsus, Galen und Porphyrius) haben ihnen widersprochen. Antike Stimmen, die behauptet hätte, die Evangelien wollten keine Tatsachenberichte sein, hat es nicht gegeben2.
Dass die Evangelisten ihr Material in einem gewissen Umfang thematisch geordnet haben, spricht nicht gegen die historische Qualität ihrer Berichte
Komplizierter ist die Frage, wie der historische Wert der Evangelien einzuschätzen ist und wie er sich bestimmen lässt. Eine Möglichkeit, von der Prof. Lindemann in seinem Beitrag für diese Zeitschrift Gebrauch gemacht hat, ist der synoptische Vergleich. Lindemann zufolge spricht gegen die historische Zuverlässigkeit der Evangelien beispielsweise, dass die erste Predigt Jesu, über die Matthäus berichtet, die Bergpredigt ist (Mt 5-7), während bei Lukas die Predigt in Nazareth am Anfang steht (Lk 4,16-30) und die Feldrede erst später folgt (Lk 6,20-49). Das ist unbestreitbar. Äußerst fraglich ist aber, ob sich daraus auf die historische Unzuverlässigkeit der neutestamentlichen Berichte schließen lässt. Denn diese Schlussfolgerung setzt voraus, dass Lukas und Matthäus die Absicht hatten, nicht nur allgemein (von der Geburt bis zur Auferstehung), sondern Perikope für Perikope in chronologischer Folge zu erzählen. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Es ist allgemein bekannt, dass Matthäus die Lehre Jesu in fünf großen Redeblöcken zusammengefasst hat; die Bergpredigt ist einer davon. Und ebenso offensichtlich hat Lukas seine Schilderung der öffentlichen Wirksamkeit Jesu damit eröffnet, dass er exemplarisch eine Predigt mit einer negativen Reaktion neben eine mit einer positiven Wirkung gestellt hat (Lk 4,14-44). Dass diesen beiden Predigten in Nazareth und Kapernaum keine anderen vorausgingen, hat er damit nicht behauptet. Die Evangelisten haben ihr Material ohne Frage in einem gewissen Umfang thematisch geordnet. Damit bewegten sie sich ganz im Rahmen der zeitgenössischen Konventionen für die Abfassung historischer und biographischer Werke. Dass dies gegen die historische Qualität ihrer Berichte spräche, kann ich nicht erkennen.
Ähnlich verhält es sich, um noch ein zweites Beispiel aufzugreifen, mit der Beobachtung, dass sich bei Markus und Johannes keine Bergpredigt findet. Wollten diese beiden Evangelisten damit sagen, dass Jesus keine Bergpredigt gehalten hat? Das finde ich alles andere als naheliegend. Wer aus diesem hier nur angedeuteten Befund ableitet, die Evangelien hätten das Leben Jesu „höchst unzuverlässig” wiedergegeben, wird ihrem narrativen und historischen Charakter nicht gerecht3
3. Die Möglichkeit von Wundern
Besonders zugespitzt stellt sich die Frage nach der historischen Zuverlässigkeit der Evangelien, wenn man sie auf die in ihnen enthaltenen Wunderberichte bezieht. Prof. Lindemann hat in seinem SPIEGEL-Interview in aller Deutlichkeit erklärt, er glaube weder, dass Jesus die von ihm im Neuen Testament berichteten Wunder getan, noch dass Gott ihn leibhaftig von den Toten auferweckt hat. Um zu belegen, dass Wunder möglich sind, hat Prof. Schröter in dieser Zeitschrift auf die „Wunder” der modernen Informationstechnologie und das Phänomen der Parthenogenese in der Tier- und Pflanzenwelt hingewiesen. Damit ist aber in der Tat nichts gewonnen. Denn unter einem Wunder versteht man nach philosophischem und theologischem Sprachgebrauch die Durchbrechung eines Naturgesetzes und damit einen einmaligen Vorgang, der keine innerweltliche, sondern eine übernatürliche Ursache hat. Computer-CDs und die Parthenogenese im Pflanzenreich fallen nicht unter diese Definition.
Warum jemand nicht an biblische Wunder glaubt: Entweder er betrachtet die historische Quellenlage als nicht ausreichend, oder er hält ein Wunder aus philosophischen Gründen für grundsätzlich unmöglich
Prof. Lindemann geht andererseits nicht näher darauf ein, warum er nicht an die im Neuen Testament berichteten Wunder glaubt. Zwei Antwortansätze wären denkbar. Entweder er betrachtet die historische Quellenlage als nicht ausreichend, oder er hält ein Wunder aus philosophischen Gründen für grundsätzlich unmöglich. Auf die Bewertung der neutestamentlichen Quellen bin ich im vorangehenden Punkt kurz eingegangen. Die Mehrheit der deutschen Neutestamentler lehnt die Tatsächlichkeit der Wunder Jesu meiner Einschätzung nach jedoch aus weltanschaulichen Gründen ab. Einige wenige Theologen sind Atheisten: Weil es keinen Gott gibt, der von außen in die Natur eingreifen könnte, kann es kein Wunder geben. Einige Bibelwissenschaftler denken (wie B. Spinoza, G. E. Lessing, F. D. E. Schleiermacher und wohl auch E. Drewermann) tendenziell pan(en)theistisch: Weil Gott und Natur im wesentlichen identisch sind, ist ein Wunder unmöglich. Die große Mehrzahl der liberalen Neutestamentler dürfte jedoch (wie D. F. Strauß und wohl auch R. Bultmann und G. Theissen) eine Spielart des Deismus vertreten: Gott hat sich von seiner Schöpfung zurückgezogen und greift prinzipiell nicht in die Natur ein.
Jeder Anhänger einer solchen Weltanschauung muss sich allerdings die Frage gefallen lassen, wie er begründet, dass er deistisch denkt, und woher er mit absoluter Sicherheit weiß, dass Gott kein Wunder tun kann oder will. Eine überzeugende philosophische Antwort auf diese Frage ist mir nicht bekannt. In meinen Augen handelt es sich beim deistischen Welt- und Gottesbild um ein nicht ausreichend begründbares Vorurteil, von dem man sich freimachen sollte4.
4. Fazit
Bis zum 18. Jahrhundert waren die Fronten in Theologie und Kirche noch relativ übersichtlich, links die gebildeten Gegner des Christentums, die die historische Zuverlässigkeit der Evangelien bestritten, rechts die christlichen Theologen, die ihren Glauben unter Berufung auf die Geschichtlichkeit der im Neuen Testament enthaltenen Berichte über das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu verteidigten. Seit der Aufklärung ist zu dieser zweipoligen Konstellation ein dritter Standpunkt hinzugekommen. Er verbindet den christlichen Glauben mit der Kritik seiner Gegner an seinem historischen Fundament. Diese drei Positionen sind auch in der hier kommentierten Debatte vertreten. Sie werden durch R. Augstein, G. Schröter und A. Lindemann repräsentiert.
Schwäche der liberalen Position: Sie begründet den Glauben fast ausschließlich subjektiv
Warum ich auf der Seite von Prof. Schröter stehe, habe ich oben kurz begründet. Eine entscheidende Schwäche der liberalen Position scheint mir über die genannten Argumente hinaus darin zu liegen, dass sie den Glauben (fast) ausschließlich subjektiv begründet. Das unterscheidet sie vom traditionellen christlichen Glauben. Warum bin ich Christ? Aus einem objektiven und einem subjektiven Grund: Weil Gott in der Geschichte gehandelt hat, und weil er mir durch seinen Geist die Wahrheit des Evangeliums bezeugt. Wenn ich richtig sehe, fällt die erste Hälfte dieser Antwort im liberalen Christentum aus. Daher rührt seine fatale Schwäche gegenüber all denen, die sich zur Begründung ganz anderer religiöser Überzeugungen in vergleichbarer Weise auf subjektive Erfahrungen berufen5.
Es steht außer Frage, dass die von Prof. Lindemann ausgelöste Debatte die Grundfesten des Christentums berührt. Die meisten Theologiestudenten, die im Sinne des historischen Christentums erzogen worden sind, werden im Laufe ihres Studiums durch diese und verwandte Fragestellungen erschüttert und gehen aus dieser Erschütterung gefestigt oder mit einem neuen, anderen Glauben hervor. Ich hoffe, dass eine solche Erschütterung nicht nur konservative, sondern auch liberale Studenten, Pfarrer und Professoren heimsucht. Der Theologe Ernst Troeltsch, vielen als Autor des Aufsatzes „Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie” bekannt, hat am 17. November 1904 in einem Brief an seinen Kollegen Rudolf Otto darüber geschrieben: „Sie haben … die Theologen-Krankheit, die mir ebenfalls sehr wohl bekannt ist. Es ist … die … immer naheliegende Idee, ob nicht vielleicht die offizielle Lehre im Recht ist und man vielleicht selbst der Tor ist, der sich die Wurzel der Christlichkeit abgeschnitten hat und dann noch ein paar Zweige des Baumes frisch halten möchte”. Und er fügte hinzu: „Ich kenne das, obwohl es mich eigentlich nie ernstlich umgeworfen hat”6 Das ist sehr zu bedauern.
Der Spiegel 50/1999, 130-136. Die Reaktion von Prof. Dr. G. Schröter in Bibel und Gemeinde 2-2000 hat die Diskussion eröffnet. ↩
Vgl. dazu A. D. Baum, „Die Diskussion der Authentizität von Herrenworten in altkirchlicher Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-Jesu-Forschung”, Theologische Beiträge, 30 (1999), 303-317. ↩
Siehe zu diesen und verwandten Fragen das solide und allgemeinverständliche Buch von C. Blomberg, The Historical Reliability of the Gospels, Leicester: InterVarsity, 1987 = Die historische Zuverlässigkeit der Evangelien, Nürnberg: VTR, 1998, bes. 136-177. ↩
Knapp und nachvollziehbar führt etwa Prof. R. Swinburne von der Universität Oxford in die verschiedenen Aspekte der Wunderfrage ein: The Existence of God, Oxford: Clarendon, 1979 = Die Existenz Gottes, Stuttgart: Reclam, 1987, hier 309-335. ↩
Zu den philosophischen Anfragen an diesen Standpunkt siehe H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, UTB 1609, Tübingen: Mohr, 51991, vor allem 124-155. ↩
Zitiert nach K.-E. Apfelbacher, Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm, BÖT 18, München: Schöningh, 1978, 59 ↩