ThemenBibelverständnis, Kritik der Bibelkritik

Und die intellektuelle Redlichkeit?

Mit seiner Theologenkritik hat Rudolf Augstein Recht

Die der historisch-kritischen Methode verpflichteten Kollegen des Faches Theologie sind wirklich zu bedauern. Einerseits sollen sie Pastoren ausbilden, die fest zu ihrem Ordinationsgelübde1 stehen. Andererseits sehen sie sich als Wissenschaftler genötigt, vorurteilslos an den Glauben und sein Basis-Buch, die Bibel, heranzugehen und es „glaubensfrei” zu untersuchen.

Was dabei herauskommt, empfindet Rudolf Augstein, Publizist und Herausgeber des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel”, als Schizophrenie. Man muss Augstein2 in dieser Hinsicht Recht geben, denn er deckt das „Hinken auf beiden Seiten” in der Theologie auf und brandmarkt es immer wieder als verfehltes Denken.

In der Ausgabe Nr. 50 von 1999 des Spiegels wird ein Interview mit dem renommierten evangelischen Neutestamentler Prof. Dr. Andreas Lindemann von der Kirchlichen Hochschule Bethel „über die Widersprüche zwischen Jesus-Forschung und kirchlichen Lehren” abgedruckt.

Andreas Lindemann3 ist Mitautor des mit 84.000 verkauften Exemplaren in Theologenkreisen weit verbreiteten „Arbeitsbuches zum Neuen Testament”4.

Hier auszugsweise einige wichtige Anfragen aus dem Interview, an die ich jeweils meine kommentierenden Überlegungen anschließe. Von Seiten des Spiegel wird nach Rudolf Augsteins Buch „Jesus Menschensohn”5 argumentiert.

Der Spiegel6: Stimmen Sie Augsteins Kernsatz zu: „Nicht, was ein Mensch namens Jesus gedacht, gewollt, getan hat, sondern was nach seinem Tode mit ihm gedacht, gewollt, getan worden ist, hat die christliche Religion und mit ihr die Geschichte des sogenannten christlichen Abendlandes bestimmt.” Stimmen Sie dem zu?

Prof. Dr. Andreas Lindemann: … Im Prinzip kann ich diesem Satz zustimmen.

Spiegel: Wenn sich nahezu alles, was über Jesus in der Bibel steht, als unhistorisch erwiese, könnte es Ihren Glauben erschüttern?

Lindemann: Nicht im geringsten …

Kommentar Gottfried Schröter: Ich hätte damit sehr große Schwierigkeiten. Vor allem wegen der für mich sehr wichtigen „intellektuellen Redlichkeit”. Ich empfinde Lindemanns Aussage so: „Wir haben es in der Bibel mit einem religiös bedeutsamen Legenden- und Märchenbuch zu tun. Unter uns Theologen gesagt: Nichts oder fast nichts stimmt in der Realität. In Wirklichkeit war alles natürlich ganz anders. Und doch ist mein Glaube an das in der Bibel Geschriebene unerschütterlich.”
Ich kenne aber keine Wissenschaft, in der ein nicht stattgefunden habendes Ereignis die Basis für einen hochbedeutsamen, ja den zentralen Lebens- und Forschungsbereich sein könnte.

Spiegel: In einer „Handreichung” des Vatikans wird behauptet, „dass es sich bei den Evangelien um Lebensbeschreibungen Jesu handelt”.

Lindemann: Das wird seit Jahrzehnten von keinem ernst zu nehmenden Exegeten mehr behauptet.

Kommentar: Dann sind die Mitglieder des Bibelbundes und die Autoren dieser Zeitschrift alle keine ernst zu nehmenden Bibelausleger (Exegeten). Was für ein Hochmut! Welche autorisierte theologische Stelle stellt denn fest, welche der ausgesprochen vielfarbigen Exegesen von Theologen an Universitäten, Kirchlichen Hochschulen, Theologischen Akademien und anderen Ausbildungsstellen für Pastoren ernst zu nehmen sind?

Nach meiner Lebens- und Literaturkenntnis sind die ernsthaftesten und ihren Glauben besonders intensiv auslebenden fröhlichen(!) Christen – insbesondere praktizierende Gemeindepastoren aller Art – jene, die die Heilige Schrift als heilige Schrift verstehen, die sie als historisch voll vertrauenswürdig erkannt haben.

Ich bekenne mich als Bibelbund-Mitglied zu der Leit-Aussage, die auf dem Umschlag jeder Ausgabe seiner Zeitschrift „Bibel und Gemeinde” abgedruckt ist: „Die Bibel: Ganze Inspiration – Ganze Wahrheit – Ganze Einheit!” Anders ausgedrückt: Die Christen des Bibelbundes vertreten eine Bibeltreue, wie sie auch Martin Luther in seinem ganzen Lebenswerk verkündigt hat. Dass diese Aussage für den denkenden Christen theologische und intellektuelle Probleme mit sich bringt und intensive Bemühungen des Nachdenkens erfordert, ist klar.7

Spiegel: Ihr Kollege Traugott Holtz … schreibt: „Über die Zeit bis zu Jesu erstem öffentlichen Auftreten wissen wir gar nichts.”

Lindemann: Holtz hat völlig recht. …

Kommentar: Also hält Lindemann beispielsweise alle Weihnachtsgeschichten für Erfindungen. Und trotzdem bemüht er sich nicht, das angeblich nur auf Unwahrheiten beruhende Weihnachtsfest mit Stall und Krippe aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit in der christlichen Gemeinde abzuschaffen! Warum nur?

Ach ja, da gibt es die scheinbar „hilfreiche” Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Matthäus, Lukas und auch Johannes zeichnen angeblich in ihren Weihnachts-Berichten keine Wirklichkeit nach, wohl aber eine Wahrheit, denn die Bethlehemsgeschichten haben ja einen tiefen religiösen Kern, den wir erhalten wollen.

Ich schließe daraus, dass historisch-kritisch geprägte Theologen weiterhin folgern: Deshalb glauben wir, was in Lukas 2 steht, wissen aber natürlich, dass nur kleine Kinder und schlichte Bildzeitungsleser dies für bare Münze nehmen.

Lassen Sie mich ironisch werden: Das Märchen „Vom Fischer und seiner Frau” hat ja auch einen tiefen religiösen Kern („Sein-wollen wie Gott”). Daher schlage ich vor, diese Geschichte in die Bibel aufzunehmen. Vielleicht auch einige fromme Legenden der Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf. Man könnte sie ja „nachkanonisieren”.

Im Ernst: Woher diese Kühnheit der Unrichtigkeitsbehauptung ausgerechnet von den Vertretern der Gottesgelehrsamkeit? Auch die Beobachtung, dass bestimmte Erzählungen in Sagensammlungen mancher Religionen Anklänge an diesen oder jenen biblischen Bericht haben, kann nicht als Beweis für die Unrichtigkeit des biblischen Textes anerkannt werden.

Folgende andere Deutungen könnten aber zutreffen:

Die Schöpfungsmythen vieler Religionen sind wahrscheinlich aus dem tatsächlichen Geschehen abgeleitet, wie es in der Bibel berichtet wird.
Bestimmte intellektuelle Probleme früherer Generationen haben sich gerade durch das Voranschreiten der Wissenschaften aufgelöst. Beispiel: Dass ein Bild sprechen könne, wie es in Offenbarung 13,15 zu lesen ist, war wissenschaftlich arbeitenden Menschen, die vor 300 Jahren lebten, noch undenkbar. In der Zeit des Fernsehens ist das kein Problem mehr. Auch dass eine Stadt aus Steinen in einer einzigen Stunde dahin sein kann (Offenbarung 18,10), war den Chemikern vor 150 Jahren noch unvorstellbar. Seit Hiroschima wissen wir, dass eine Stadt aus Steinen in wenigen Sekunden zerstört sein kann.

Spiegel: Viele halten die Legenden vom Kindermord des Herodes in Bethlehem und von der Flucht der so genannten Heiligen Familie nach Ägypten noch immer für Tatsachenberichte.

Lindemann: Unterschätzen Sie nicht die Allgemeinbildung der Deutschen? … Bethlehem wird wahrscheinlich nicht der Geburtsort Jesu gewesen sein. Bethlehem wird vermutlich nur deshalb genannt, weil es die Stadt Davids war und dort laut Altem Testament der Messias geboren werden sollte.

Spiegel: Ist Jesus in Nazaret geboren?

Lindemann: Das vermute ich und mit mir viele andere.

Kommentar: Wenn andere säkulare historische Geschehnisse von vor 2000 Jahren so gut und von mehreren Chronisten bezeugt worden wären wie die berichteten Ereignisse aus der Jugend Jesu, wären die Historiker erfreut. Sie würden ihre Faktizität nicht anzweifeln. Ich frage die Theologen, die wie Lindemann wesentliche Inhalte der Bibel als nur sehr schwach historisch bezeugt sehen: Welche Gegen-Beweise haben Sie dafür, dass Jesus nicht in Bethlehem geboren wurde und die anderen berichteten Ereignisse aus seiner Jugend (z.B. Kindermord, 12jähriger Jesus im Tempel) nicht stattfanden? Nur weil andere Literaten von damals darüber schwiegen?

Spiegel: Dass die Jungfrauengeburt nicht historisch ist, ist feste protestantische Überzeugung. Wie äußern sich heutzutage die katholischen Exegeten?

Lindemann: Nach meinem Eindruck halten nur wenige katholische Neutestamentler daran fest.

Kommentar: Professor Lindemann von der Kirchlichen Hochschule in Bethel bestätigt, es sei feste evangelische Überzeugung, dass die Jungfrauengeburt nicht stattgefunden hat. Kennt er einen klaren Beweis?

Eine Gegebenheit bewegt mich, seit ich Christ geworden bin: Ich kann wohl verstehen, dass man viele Berichte der Bibel nicht zu glauben vermag. Ein ehrlicher Atheist steht meinem Herzen deshalb näher als ein den Glauben nur lau akzeptierender Mensch. Ehe ich gläubig wurde, waren für mich viele Wundergeschichten des Wortes Gottes schwer fassbar. Dass man aber ausgerechnet dann, wenn man nach eigenem Bekenntnis die Heilige Schrift in ihren wichtigsten Passagen für unhistorisch hält, Pfarrer oder Theologieprofessor werden muss, werde ich nie begreifen.

Ist die Unmusikalität eines Menschen denn eine gute Basis, praktizierender Musiker oder Musiklehrer zu werden? Ist die Überzeugung, dass die Bibel voller Unrichtigkeiten steckt, eine gute Voraussetzung dafür, Pastor oder gar theologischer Hochschullehrer zu werden? Ich begreife diese Widersprüchlichkeit nicht. Ich könnte eine solche Haltung mit meiner intellektuellen und professionellen Redlichkeit nicht vereinbaren.

Aber noch einmal zur Möglichkeit der Jungfrauengeburt: Auch in kleineren Lexika findet man das Stichwort Jungfernzeugung (Parthenogenese). Im Internet tippte ich bei einer deutschsprachigen Suchmaschine das Suchwort „Parthenogenese” ein. Mir wurden 94 Artikel zu diesem Thema angeboten. Sie ist im Pflanzenbereich weit verbreitet, im Tierreich gibt es sie auch, allerdings bestehen dabei Dauer-Überlebensprobleme. Ich nehme an, dass unsere Forschung sie eines Tages meistern wird.

Mir geht es hier nicht darum, die Jungfrauengeburt zu beweisen, sondern zu begründen, dass ich es zumindest als Oberflächlichkeit empfinde, wenn ein Wissenschaftler sie nicht für möglich hält, und zwar deshalb, weil er sich diesen Tatbestand nicht vorstellen kann!

Eine andere Frage ist die hohe geistliche Bedeutung der Tatsache der Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria für das Bibelverständnis und das Glaubensleben eines Christen.

Spiegel: Ist es für Sie ein Problem … das Glaubensbekenntnis zu sprechen „Geboren von der Jungfrau Maria”?

Lindemann: Nein, überhaupt nicht. Glauben, das kann ich auch als kritischer Exeget. …

Kommentar: Das verstehe ich nicht, denn es bedeutet: Ich sage als Gottesdienstbesucher laut „Ich glaube …” und denke als wissenschaftlicher Exeget im Stillen: „Natürlich stimmt es in Wirklichkeit nicht.”

Das verstehe, wer will, ich nicht, Augstein auch nicht. Und mit dieser Theologenkritik hat der bekennende Ungläubige Rudolf Augstein Recht. Aber auf diesem schizophrenen Denken soll das Glaubensleben eines kritisch, d.h. wissenschaftlich arbeitenden Theologen beruhen?

Ich kann Rudolf Augstein verstehen, wenn er der Meinung ist, das sei unwissenschaftlich, ja, gegen jeden normalen Menschenverstand. Vielleicht sucht der Spiegel-Herausgeber in seinen manchmal geradezu rührend anmutenden Dauerkämpfen gegen den Glauben an Gott und seinen Sohn Jesus Christus einen kompetenten Partner, der ihm seinen Unglauben widerlegt, so wie sich viele jungen Leute zwischen 15 und 20 aus frommen Familien plötzlich gegen bisher akzeptierte Glaubenswahrheiten ihrer Eltern wenden. Aber Vater und Mutter merken nicht, dass ihr Heranwachsender eigentlich nur einen glaubens-vollmächtigen Gesprächspartner sucht, der ihm überzeugend darlegt, wie es in dem manchmal geschmähten Buchtitel heißt: „Und die Bibel hat doch recht!” Die jungen Leute wollen widerlegt werden. Vielleicht auch Herr Augstein?

Ich bekam dieser Tage unaufgefordert eine Werbeschrift der in Oberursel erscheinenden Zeitschrift „Publik-Forum”, die u.a. von Maria Jepsen, Eugen Drewermann und Antje Vollmer empfohlen wird. Die Redaktion berichtet von ihrem Vorhaben, persönliche Credos der Leser einzusammeln, sie zu sichten und in Auswahl zu veröffentlichen. („Was Publik-Forum-Leser wirklich glauben: Die persönlichen Credos.”)

Übrigens: Solche Versuche, das Glaubensbekenntnis neu zu schreiben, sind ja nicht unbekannt. Mancher Konfirmandenjahrgang hat versucht, neue Credos zu entwerfen und sie der Gemeinde vorgestellt. Ich empfand die Ergebnisse meist als dürftig. Mich interessiert vor allem, (1.) was weggelassen wurde, (2.) was hinzugefügt wurde und (3.) wie wenig von der biblischen Grundsubstanz übrig blieb.

Ein Beispiel aus dem erwähnten Credo-Projekt im Internet: „In Jesus Christus begegnet mir die menschgewordene Liebe Gottes am überzeugendsten. Aber auch in allen Heiligen, Weisen, Müttern, Künstlern, Kindern: von Buddha bis Bach und Bruckner, von Laotse bis Leonardo und van Gogh, von Platon bis Goethe und Solowjew, von Mirjam bis Teresa und Rigoberta, von Franziskus bis Gandhi und Dalai Lama erfahre ich Gottes Heiligen Geist.”8

Also pure Religionsverschmelzung (Synkretismus). Wo bleibt dabei die Einzigartigkeit Christi? –

Es gibt bei anderen Autoren auch erfreuliche Passagen: „Ich glaube an Jesus Christus, den Gott gesandt hat zu unserer Erlösung und als Zeichen des Weges, der Wahrheit und des Lebens.”9

Nur sehe ich in diesen Formulierungen eher Meditations-Ergebnisse als grundlegende Glaubensbekenntnisse der Christenheit.

Eine der 12 Autoren, Waltraud Wien aus Mötzingen, schreibt viermal: „Ich vertraue der Kraft…”, aber in ihrem Credo kommen weder „Gott” noch „Christus” andeutungsweise vor. Es ist ein rein humanistisches Glaubensbekenntnis.

In keinem der genannten Beispiele wird die Jungfrauengeburt erwähnt. Natürlich! Man lässt sie weg. Gottes Macht ist ja begrenzt, denken viele so klug Gewordenen.

Ich lege großen Wert darauf, dass in unserer Volkskirche das allsonntäglich gesprochene Credo erhalten bleibt. In der Dürre mancher glaubensschwacher Gottesdienste, in denen man geradezu geistlich zu verhungern meint, bleibt es ein stärkendes „Dennoch!”

In Landeskirchlichen Gemeinschaften und Freikirchen kann es als Woche für Woche zu wiederholendes Bekenntniswort meiner Ansicht nach entfallen. Denn die Gesamtheit der Gottesdienste stellen dort (in der Regel) ein permanentes Glaubensbekenntnis dar. Aber die weithin ausgetrocknete Volkskirche braucht es!

Spiegel: Hielt sich Jesus für Gottes Sohn?

Lindemann: Nein …

Kommentar: In meiner Bibel steht es an vielen Stellen. Jede Konkordanz lässt uns fündig werden. In Lukas 22,70 lesen wir z.B. von Jesu Verhör vor dem Hohen Rat (urtextgenau übersetzt): „Da sagten sie alle: ‚So bist du nun der Sohn Gottes?‘ Er entgegnete ihnen: ‚Ihr sagt es. Ich bin es.’” Gilt das Lukaswort nichts?

Als der damalige Ratsvorsitzende der EKD Bischof und Prof. Dr. theol. Klaus Engelhardt in den Ruhestand ging, gab er zum Abschied der evangelischen Zeitschrift „Idea-Spektrum” ein Interview, in dem er sich zur historisch-kritischen Interpretation der Bibel bekannte, denn es gehe ihr darum, „herauszubekommen: Was ist wirklich Wort Gottes, und was ist sogenannte Gemeindebildung, also erst nach dem Tod Jesu ihm in den Mund gelegt worden. Gerade jeder Pietist sollte doch leidenschaftlich daran interessiert sein, dem auf die Spur zu kommen, was Jesus wirklich gesagt hat.”10

Ich nahm die Idee in einem Leserbrief in der gleichen Zeitschrift11 auf und machte folgenden halb ernst, halb ironisch gemeinten Vorschlag: „Da die historisch-kritische Schule an unseren Universitäten seit 150 Jahren zunehmend das (fast) alleinige Sagen hat, schlage ich vor, dass das Bischofswort von ihr sogleich genutzt wird und der interessierten Öffentlichkeit, insbesondere den Evangelikalen, endlich einmal ein historisch-kritisches Arrangement der Bücher des Neuen Testaments angeboten wird.

In Anlehnung an Engelhardt ergäbe sich folgende Aufgliederung: Teil 1: Was wirklich Wort Gottes ist. Teil 2: Was die Gemeinde Jesus nachträglich in den Mund gelegt hat. Teil 3: Sonstiges.

Trotz zahlreicher Übersetzungen weiß der Pietist noch immer nicht, was wirklich Wort Gottes ist. Oder was die Universitätstheologie dafür hält.

Spiegel: Laut Bibel hat Jesus Tote auferweckt, einen Sturm gestillt, ist über Wasser gegangen, hat Fünftausend mit fünf Broten und zwei Fischen gesättigt, Wasser in Wein verwandelt. War Jesus zu solchen Wundern, also zu Taten fähig, die vor und nach ihm kein Mensch vollbracht hat?

Lindemann: Ich halte es für ausgeschlossen, dass Jesus die von Ihnen genannten Wunder getan hat …

Kommentar: Dahinter steht die Annahme: Gott, der von Juden und Christen seit Jahrtausenden als der Allmächtige bezeichnet wird, sei in den von ihm selbst geschaffenen Naturgesetzen gefangen. Gegenwärtig gibt es in der evangelischen Kirche eine Tendenz, die Bezeichnung „der Allmächtige” in Bezug auf Gott zu vermeiden. Ob Lindemann auch zu jenen gehört?

Es ist – um ein Beispiel zu nennen – zwar uns Menschen der Gegenwart täglich möglich, auf einer 16 Gramm schweren „metallbehauchten” Plastikscheibe alle 35 Millionen Daten der Telefonteilnehmer von ganz Deutschland zu speichern. Durch wenige Computer-Klicks können wir alle Anschriften nach Städten, Branchen, alphabetischer Reihenfolge, Straßen, Postleitzahlen arrangieren, wie wir es wollen, und die Ergebnisse ausdrucken lassen. An dieses Wunder der Gegenwart haben wir uns gewöhnt. Wir hantieren damit, obwohl nur wenige Experten die dahinterstehende elektronische Arbeitsweise wirklich verstehen. Unsere Vorfahren hätten dies für undurchführbar gehalten.

Aber Jesus, der Sohn Gottes, konnte „natürlich nicht” aus Wasser Wein machen! Welcher moderne Mensch kann das für möglich halten, zumal wenn er Universitätsprofessor für Theologie ist!

Dabei lässt uns Gott in jedem Frühjahr und Sommer in der Natur das gleiche „Wunder” erleben, indem er die im Winter kahlen Weinstöcke mit zu Wein verwandeltem Wasser füllt.

Eine andere Frage ist die, weshalb Jesus die Wunder tat. Pointiert formuliert: Mit seinen Wundern unterstreicht Gott wie mit Rotstift geistliche Wahrheiten, die sich besonders fest einprägen sollen.

Um es ganz deutlich zu sagen: Ich glaube fest daran, dass die Wunder so wie beschrieben geschehen sind und keine verlogenen Erfindungen der Gemeinde sind.

Spiegel: Was von all dem, was Christen sonst noch glauben oder glauben sollen, hat Jesus schon geglaubt? Dass er präexistent war, es ihn also schon gab, bevor er gezeugt wurde? Dass er wiederkehren werde am Ende der Tage?

Lindemann: All das ist christlicher Glaube, und Jesus hat dies nicht geglaubt. … Die urchristliche Gemeinde hat ihren Glauben in Worte Jesu gekleidet.

Kommentar: In einem bemerkenswerten Aufsatz „Jesus ist nicht nur eine Glaubensfrage” hat der Universitätsprofessor Carsten Peter Thiede in der „Frankfurter Allgemeinen” vom 24.7.1996 in überzeugender Weise deutlich gemacht, dass der Alleinvertretungsanspruch der historisch-kritischen Schule in den Theologischen Fakultäten aus der Sicht der Historiker und Altphilologen durchaus anfechtbar ist. Er ließ dabei viele Wissenschaftler zu Wort kommen und legte Wert auf die Feststellung, dass die biblischen Bücher seiner Auffassung nach nicht verhältnismäßig beliebige „Collagen phantasievoller Autorenkommitees” sind – wie Lindemann offenbar annimmt.

Ich formuliere verkürzt: „Wo Lukas drauf steht, da ist auch der geisterfüllte Lukas drin!” Es waren keine Autorenkomitees, die sich zusammensetzten und überlegten, auf welche Weise man der im Denken ungewohnten (und damit unterschätzten) Leserschaft mit Hilfe von Legenden und Wunder-Erfindungen einige Wahrheiten Gottes verkaufen könnte. Nein, es war tatsächlich ein „Akademiker seiner Zeit”, der Arzt Lukas, der am Anfang seines Berichtes viel Platz darauf verwendet, seine Forschungsmethode zu beschreiben.

Eine dichtende Autorengruppe wäre wirklich unverschämt, wenn sie sich als sorgsam recherchierender Einzelempiriker tarnte.

Den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Realität und Märchen, genaue Feststellung und Vermutung kannte man schon vor Jahrtausenden. Sonst wäre die Unwahrheit nicht schon in der biblischen Urzeit von allen Autoren deutlich abgelehnt und verboten worden. Selbst die Unehrlichkeiten der Erzväter Abraham und Jakob werden als Verfehlungen dargestellt, obwohl sie ein erstaunliches Maß an kreativer Phantasie verraten.

Ich halte es nicht für die feine Art, Jesus etwas in den Mund zu legen, damit der Text als wirkungsvoller empfunden wird.

Das taten auch nur wenige Unehrliche in der Urgemeinde: Lügen führten bei Hananias und Saphira zum plötzlichen Tod (Apg 5,1ff)! Ich pflegte auch als junger Assistent nicht, einige meiner eigenen Gedanken einem verstorbenen Professor in den Mund zu legen, um sie bedeutungsvoller erscheinen zu lassen. Und so viel vertrauensseliger waren die damaligen Zeitgenossen auch nicht. Sie fragten nach!

Natürlich gibt es bis heute hier und da Kujaus, Plagiatoren, Abschreiber und „Als-ob-Formulierer”. Aber sollten gerade die ersten Christen, die zu strikter Wahrheitsliebe aufriefen, so gehandelt haben? Mitnichten!

Spiegel: War das Grab denn leer?

Lindemann: Das weiß ich nicht. Aber selbst wenn das Grab und Reste des Leichnams Jesu gefunden würden, würde dies meinen Glauben an die Auferweckung durch Gott nicht berühren.

Kommentar: Ist das nicht die Argumentation jener Leute, die in „Des Kaisers neue Kleider” ihren Monarchen bekleidet sehen wollten, obwohl er nackt war, die selbst dort eine Auferstehung glauben können, wo der Augenschein dagegen steht?

Ich glaube an ihre Realität und an den heiligen Geist, der von dem Auferstandenen ausging und heute noch ausgeht.

Spiegel: Was halten Sie denn von den Visionen, die Paulus im 1. Korintherbrief aufzählt, dass, Christus gesehen worden sei? … Was wäre auf dem Film gewesen, wenn damals eine Kamera diese Visionen hätte aufnehmen können?

Lindemann: Man würde auf dem Film die von Paulus erwähnten Menschen, vielleicht ihre Reaktionen, aber gewiss kein filmisch wahrnehmbares Gegenüber sehen.

Kommentar: Lassen wir Paulus zu Wort kommen: „Jesus ist erschienen mehr als 500 Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch leben. (Fragt sie doch!) … Wenn aber Christus tot ist, dann ist euer ganzer Glaube an Christus Unsinn. Dann steckt ihr noch in eueren Sünden.” (1Kor 15,6+17, letzter Vers nach Zink.)

Spiegel: Reicht Ihnen als Basis für Ihren Glauben die Behauptung von Menschen, was sie erlebt haben? Ihr Glaube lebt vom Glauben dieser Urchristen?

Lindemann: So ist es.

Spiegel: Herr Professor Lindemann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

Kommentar: Auf Anfrage des Spiegels erklärt ein führender evangelischer Theologe an einer Kirchlichen Hochschule:

Es handelt sich in den vier Evangelien nicht um eine Lebensbeschreibung Jesu Christi. Über die Zeit vor dem ersten öffentlichen Auftreten Jesu (im Alter von ca. 30 Jahren) wissen wir gar nichts.

Damit wären auch alle zu Weihnachten in den Kirchen vorgelesenen und in Predigten behandelten Weihnachtsgeschichten aus den Evangelien bestenfalls die stark ausgeschmückten Aufzeichnungen von einfallsreichen Christen über einen Menschen namens Jesu. Sie hätten sich das nach seinem Tode einfach so vorgestellt und diese Vorstellungen aufgeschrieben.

Lindemann nimmt an, dass ein heutiger Deutscher mit einer gewissen Allgemeinbildung die „Legenden” vom Kindermord in Bethlehem sowie vom 12-jährigen Jesus im Tempel nicht als Wirklichkeit annehmen werde. Auch die Behauptung, Jesus sei von der Jungfrau Maria ohne Einwirken eines Mannes geboren worden, beruhe auf der Einbildungskraft seiner Jünger. Keines der naturwissenschaftlich nicht nachvollziehbaren Wunder habe Jesus getan. Und dass er präexistent war und nach Johannes 1,1 von Anfang an war, habe nicht einmal Jesus selber geglaubt. Nur seine Jünger hätten ihm solche Behauptungen als letztlich doch unehrliche Wahrheitsforderer in den Mund gelegt.

Da Lindemann nicht weiß, ob das Grab leer war, und er mit der leibhaftigen, tatsächlichen „fotografierbaren” Auferstehung nicht rechnet, entfällt auch das Fürwahrhalten der Auferstehung.

Was glaubt er denn? Er glaubt das alles trotzdem, obwohl seiner Auffassung nach nichts davon tatsächlich geschehen sei. Das vereinbaren zu können, ist für mich in der Tat ein unfassbares Wunder! Ich wäre aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit dazu nicht in der Lage. Ich darf aber mit Paulus bekennen: „Nun aber ist Christus von den Toten auferstanden!” (1Kor 15,20).

Noch wunderbarer: Lindemann kann ohne Skrupel öffentlich im Glaubens-Bekenntnis alle diese seiner Meinung nach niemals in der Realität geschehenen Glaubens-Dinge vor der sichtbaren und der unsichtbaren Welt als geglaubt bekennen.

Natürlich weiß ich: Selbst wenn ich wortgewandt genug wäre, die Richtigkeit der Bibel vollständig zu beweisen und auf jedes Anti-Argument eines Theologen der historisch-kritischen Schule oder der Zeitgenossen, die wie Rudolf Augstein denken, ein überzeugendes Gegenargument zur Verfügung hätte, könnte ich bei ihnen bestenfalls ein „intellektuelles Credo” erreichen. Und das hätte nur einen geringen Wert, denn wirklich gläubig würden ein Widerlegter dadurch nicht. Auch ein Hinweis auf die Geschichte des jüdischen Volkes als Beleg dafür, dass man Gottes Wirken in Segen und Gericht an Israel bestätigt finden kann, erkennen nur jene an, denen Gott zu dieser Einsicht „das Herz auftut” wie der Lydia.12

Dazu gehört die Willensentscheidung, sich Gott anzuvertrauen, in gewisser Weise wie ein Kind zu werden, um ins Himmelreich hineinzukommen. Dann bleibt die Grundüberzeugung: Ich bin ein von Gott angenommener Mensch. Durch die Menschwerdung seines Sohnes hat er mir den Zugang zu seinem Reich ermöglicht. Und sein Wort ist ein geistlicher Schatz, der durch den steten Gebrauch im Alltag Gestalt annimmt.

Aber von Zeit zu Zeit ist es für den intellektuell geprägten Menschen ganz heilsam, sich mit jenen geradezu unbarmherzigen Fragen auseinander zu setzen, die die Spiegel-Reporter an Augsteins Statt vorgetragen haben.

Ein katholischer Bischof hat einmal die Evangelikalen „das Salz in der Suppe der evangelischen Kirche” genannt. Es ist schade, dass gerade diese treuesten, besorgtesten, fleißigsten Stiefkinder der Kirche in der allgemeinen öffentlichen Diskussion nur selten zu Worte kommen. Gewiss, nicht wenige sind gern die „Stillen im Lande”. Aber wenn man sie nach ihrem Glauben fragt, hätten sie Vieles und Wichtiges zu sagen! Und sie sind klüger als viele Schriftgelehrte, weil sie ganz fest auch mit dem Wirken des Heiligen Geistes in Gottes heiligem Wort und in ihrem Leben rechnen.

Prof. Lindemann hat auf diese Kritik reagiert und es schloss sich eine Diskussion in Bibel und Gemeinde an, die wir mit anderen Beiträgen zum gleichen Themenbereich in dem Buch „Jesus, die Evangelien und der christliche Glaube“ veröffentlicht haben. Es kann über die Bestellseite erworben werden.


  1. Auszug aus der Urkunde über das Ordinationsgelübde der Nordelbischen Kirche: „…ist am heutigen Tage unter Gebet und Auflegung der Hände zum Amt der Kirche ordiniert worden. Er hat gelobt, das Amt der Kirche nach Gottes Willen in Treue zu führen, das Evangelium von Jesus Christus zu predigen, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und im Bekenntnis unserer evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist…” 

  2. Laut dpa-Meldung vom Dezember 1999 von 100 leitenden Pressejournalisten zum „Journalisten des Jahrhunderts” gewählt. 

  3. Nicht zu verwechseln mit dem Göttinger Theologie-Professor Gerd Lüdemann, der sich vom christlichen Glauben losgesagt hat. 

  4. 12.Auflage Göttingen:V&R, 1998. 

  5. 1999 erschien eine überarbeiteten Neuauflage bei Hoffmann und Campe. 

  6. Vertreten durch die Redakteure Werner Harenberg und Manfred Müller. 

  7. Ich habe mich mit diesen Problemen für den bibeltreuen Christen in den beiden kleinen Taschenbüchern „Kann man als Wissenschaftler der Bibel glauben?”, 1.Aufl. Wuppertal 1974, 2.Aufl. Aßlar 1986, und „Denken erwünscht! – Warum ich der Bibel glaube”, Wuppertal 1978, auseinandergesetzt. 

  8. Autor: Heinrich v. Bechtolsheim, Nonnenhorn. 

  9. Autorin: Viuva Tornow, Lauf 

  10. IDEA-Spektrum 44/1997 

  11. IDEA-Spektrum Nr.46/1997 

  12. Apg 16,14. Wie ich zum Glauben kam, habe ich in dem Buch „Leben läßt sich nicht zensieren” (2.Aufl. Wuppertal 1994) ausführlich dargestellt.