Nachdem die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit ihrem Vorlauf zum Reformationsjubiläum 2017 immer wieder in der Kritik stand, hat sie im Mai 2014 mit ihrer Veröffentlichung Rechtfertigung und Freiheit (Gütersloh: Verlagshaus, 2014) nun auch theologisch Tiefe gewinnen wollen. Eine Kommission mit dem Berliner Theologen Christoph Markschies an der Spitze erarbeitete eine Erklärung der Rechtfertigungslehre für unsere Zeit.
Dabei fanden die Kommissionsmitglieder allerdings, dass die Frage nach dem „gnädigen Gott“ irgendwie mittelalterlich ist und deswegen erst in die moderne Zeit hinüber geholt werden muss. Gefragt wird deswegen:
Was kann das für Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts bedeuten, die nicht so sehr von Ängsten vor einer Hölle nach dem Tode geprägt sind, sondern eher die Hölle auf Erden fürchten, die Menschen nur allzu häufig füreinander sind (Jean-Paul Sartre)? (28-29)
Aber wenn das dann mit den Begriffen „Liebe, Anerkennung, Vergebung und Freiheit” versucht wird, dann bleiben die Überlegungen konsequent beim Menschen hängen. Es geht nämlich darum, dass der Mensch sich geliebt, gewürdigt und anerkannt weiß. Typisch Rechtfertigungslehre sei dann, dass das unabhängig sei von Bildung, Einkommen, Hintergrund oder gesellschaftlichem Ansehen.
Zu dem Wichtigsten aber scheint zu gehören, dass der Mensch auf keinen Fall in seiner Freiheit beschnitten werden darf. Das zeige sich auch „an der Transformation des reformatorischen Schriftprinzips in der Neuzeit” (37). Nachdem man angeblich erst im 16. Jahrhundert entdeckte, dass es bei der Bibelauslegung unterschiedliche „Nuancen” gab, führte die reformatorische Freiheit direkt zum „heutige[n] Pluralismus der Textauslegungsmethoden”, in dem die größte Bedeutung nicht mehr die Bibel hat und was sie sagt, sondern der Ausleger mit seinen Methoden und Ergebnissen. So wird dann auch ausdrücklich die „Frauenordination” zu einer „späte[n] Errungenschaft aus reformatorischen Einsichten” (42).
Diese eigenwillige Deutung liegt nicht daran, dass die beteiligten Theologen die Reformationsgeschichte und -theologie nicht kennen. Solange es um die Theologiegeschichte geht, kann man viel Gutes lesen. Es liegt vielmehr daran, dass man sich den reformatorischen Erkenntnissen gegenüber frei fühlt, obwohl deutlich ist, dass sie aus dem Studium der Bibel gewonnen wurden.
Wenn die Autoren gefordert sind, die Bibel auszulegen, dann fließen die Früchte eines bibelfernen Denkens in ein verquastes Theologen-Sprech.
Wenn aber die Autoren selber gefordert sind, die Bibel auszulegen, dann fließen die Früchte eines bibelfernen Denkens in ein verquastes Theologen-Sprech. Wie war das mit der Auferstehung von Jesus? Weil die „Jünger und Jüngerinnen” die Erfahrung machten, „er begegnet uns in einer lebendigen, direkten Weise”, darum „beschrieben” sie „diese Begegnung als Begegnung mit dem Auferstandenen” und sie „erzählen: Er war tot, aber er wurde von Gott auferweckt” (49-50). Richtig, in den Köpfen und in der Erfahrung der ersten Christen spielte sich die Auferstehung angeblich ab. Sie soll nur eine Deutung eines Erlebnisses sein, aber keine historische Tatsache. Was wohl Martin Luther, Johannes Calvin, Huldrych Zwingli und die anderen Reformatoren, die zitiert werden, dazu gesagt hätten?
Spätestens wenn man das „Christus allein” in den interreligiösen Dialog einbringen will (immerhin, es soll nicht verschwiegen werden), dann wird klar, dass mit dem Glauben, dass Christus „mein einziger Trost im Leben und im Sterben” ist, keine Gewissheit gemeint ist, die auf Tatsachen baut, sondern eine innere Überzeugung, die irgendwie da ist, wie „für den Anhänger der anderen Religion sein spezifischer Glaube” (58).
Und wie ist es dann mit dem sola scriptura (allein die Schrift)? Passend wird aus Luthers Schmalkaldischen Artikeln zitiert und viel Gutes zur Schrifthaltung der Reformatoren gesagt:
Es ist fest darauf zu bleiben, das Gott niemandem seinen Geist oder seine Gnade gibt ohne durch oder mit dem vorher ergehenden äußeren Wort. Damit hüten wir uns vor den Enthusiasten, d.h. vor jenen Geistern, die sich rühmen, ohne und vor dem Wort den Geist zu haben, und danach die Schrift oder mündliches Wort zu richten, deuten und nach ihrem Gefallen zurechtbiegen (83).
Dann aber folgt die Wende. Das sola scriptura müsse heute anders verstanden werden als zur Reformationszeit. Als Gründe dafür werden genannt, dass die Bibel selbst nur ein Ergebnis eines „Traditionsvorgangs“ sei und dass man aufgrund der historisch-kritischen Forschung die Bibel nicht mehr als „Wort Gottes“ verstehen könne. Es klingt direkt mitleidsvoll, wenn die Autoren schreiben:
„Die Reformatoren waren ja grundsätzlich davon ausgegangen, dass die biblischen Texte wirklich von Gott selbst gegeben waren“ (84).
Dabei schienen sie doch erkannt zu haben, dass die Reformatoren keine primitiven Vorstellungen von der Inspiration hatten, sondern sehr wohl die bezeugten Überlieferungswege kannten. Genau zu begründen, warum denn die Bibel nicht Gottes Wort sein soll, ist nicht mehr nötig, nachdem nur ehrfurchtsvoll die historisch-kritische Methode erwähnt wurde.
Genau zu begründen, warum denn die Bibel nicht Gottes Wort sein soll, ist nicht mehr nötig, nachdem nur ehrfurchtsvoll die historisch-kritische Methode erwähnt wurde.
Das sola scriptura soll dann dadurch neu gefüllt werden, dass es immer noch Menschen gibt, die „beim Lesen und Hören dieser Texte“ „spüren“, „dass sie Wahrheit enthalten …, die ihnen zum Leben hilft“ (85-86). „Das Wie und Warum“ müsse „dabei hermeneutisch immer wieder geklärt werden“ (86), aber damit wollte man sich wohl nicht aufhalten. Das ist ein evangelischer Offenbarungseid: Das Wort Gottes, das nach evangelischer Überzeugung die Kirche erst zur Kirche macht, das gibt es gar nicht. Es gibt nur das jeweilige innere Spüren, dass die biblischen Texte zum Leben helfen. Und der Glaube ist dann auch nur eine „existenzielle Haltung“, die Ja zur Liebe Gottes sagt (87).
Damit aber ist die biblische Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders verkauft worden. Das Urteil Gottes, das mich mit meiner Sünde ans Kreuz bringt, und das Urteil Gottes, das mich von aller meiner Sünde freispricht, weil Christus an meiner Stelle am Kreuz hängt, will man nicht mehr hören. Dann aber bleibt nur das, was sich der Mensch immer wieder selbst zuspricht. Er verliert Gottes Wort und hat am Ende nur menschliche Gedanken.