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Hören, spüren, fühlen, erleben – sonst ist Gott tot?! oder: „Spürst Du Gott schon oder liest Du noch die Bibel?!

Der Autor greift ein wichtiges Thema für Christen auf: die sogenannte Stille Zeit. Welchen Stellenwert haben Bibel und Gebet dabei? Im Zusammenhang mit dem für 2010 ausgerufenen „Jahr der Stille“ machte er einige erschre­ckende Beobachtungen bei führenden Evangelikalen in Deutschland. Mag sein, dass er dabei einiges überinterpretiert hat, aber seine Überlegungen müssen zu denken geben.

Gott erleben ist heute „in“. Das „Jahr der Stille“ will dazu anleiten, „Gottes Lebensrhythmus neu einzuüben“1 . Die Stille soll helfen, neu auf Gott zu hören – eben ganz neu und nicht wie gewohnt durch die so genannte „Stille Zeit“ mit dem herkömmlichen Bibellesen.

Das Neue zeigt sich vor allem im „Auf-Gott-hören“. Wie dies funktioniert, erklärt Holger Mix in der Jugendzeitschrift „dran Nr. 3/2010“. Er ist Jugendpastor der EFG Wölmersen, einer durch Evangelist Anton Schulte einst gesegneten Brüdergemeinde.

Mix betont die Wichtigkeit, Gott „wirklich zuzuhören“2 . Dies kann man lernen und einüben. Das Wort Gottes allein scheint uns nicht weiterzubringen, denn: „Bibellesen ist das Ableisten einer Pflichtlektüre zu Informationszwecken.“3 Da haben wir das Problem: Die Bibel informiert nur, ist bloße Erkenntnis, trockene Theorie, und die regelmäßige Lektüre entspricht keinem echten, eigenen Verlangen, sondern ist eine lästige, aber wohl notwendige Pflicht, weil man das als Christ halt so macht.

„Dabei hat Gott eine unendliche Sehnsucht, mit uns in einen lebendigen Kontakt zu treten.“4 , erklärt Mix. – Stichwort: „Lebendiger Kontakt“. „Er, der seinem Wesen nach selbst ‚das Wort‘ ist (Johannes 1,1), will mit mir in einer Weise kommunizieren, die meinem Wesen entspricht.“5 – Stichwort: „Meinem Wesen entspricht“.

Mix will Lebendigkeit, und die ist mit einer Pflichtlektüre nicht zu haben. Das Wort mag ja Gottes Wesen sein, aber was macht mein Wesen aus?

Mix erklärt schließlich die Alternative zum bloßen Bibellesen: Das unmittelbare Erleben des Heiligen Geistes: „Genauso erfuhren es Paulus und die ersten Christen und lebten aus dem Reden des Heiligen Geistes. (Apostelgeschichte 13,2).“6

Welche Hilfsmittel sind dazu erforderlich: Stille, das Verborgene, Träume in der Nacht, ein Nichtunterdrücken von Gedanken und Stimmungen sowie ein bewusstes Ausrichten auf die Gegenwart Gottes.7

Ein weiteres Hilfsmittel oder eher Kennzeichen ist, dass ich etwas fühle:

„Dann – ganz allmählich – tauche ich ein in seine Gegenwart. Manchmal fühlt sich das heilig an, manchmal auch ganz schlicht.“8

Wie sich dieses „heilig anfühlen“ konkret äußert, verrät Mix nicht. Aber schließlich hat er es geschafft – er verfügt über Gottes unmittelbare Ge­genwart mit echten Ergebnissen:

„Ich frage etwas, er antwortet. Diese Antwort ist oft ein Gedanke, mein eigenes lautes Reden oder ein innerer Eindruck.“

„Ich unterhalte mich dann einfach mit ihm. Ich frage etwas, er antwortet. Diese Antwort ist oft ein Gedanke, mein eigenes lautes Reden oder ein innerer Eindruck.“9

Damit wird deutlich, dass sich alles im Inneren abspielt: Eigener Gedanke, eigenes Reden, eigener Eindruck. Dies seien die Antworten Gottes, der aber nicht von außen, akustisch hörbar, antwortet. Hier nennt Mix „das sogenannte ‚Hörende Gebet‘“10 , das er als „das Ergebnis einer lebendigen Beziehung zu unserem himmlischen Vater“11  bezeichnet. Im Umkehrschluss hat damit jeder, der nichts hört, spürt, fühlt oder sonst wie erlebt, keine lebendige Beziehung zu Gott. Man könnte fast fragen: „Spürst Du Gott schon oder liest Du noch die Bibel?!“ Das Gehörte müsse zwar dem gesamten biblischen Wort untergeordnet werden, aber Fakt ist: „Gott redet damals wie auch heute aus der Ewigkeit in die Zeit hinein.“12

Wie ist dieses Hören und Fühlen im Licht der Heiligen Schrift zu bewerten?

Wir stoßen hier auf das Problem der Gottesunmittelbarkeit bzw. der Schwärmerei. Der Mensch meint, über Gott verfügen zu können, indem er ihn selbst herbeiholt oder durch bestimmte Mittel manipuliert. Das äußere Mittel, das Gott gewählt hat, um sich dem Menschen von heute zu offenbaren, ist allein sein Wort, die nach Hebr 1,1-2 abgeschlossene Offenbarungserkenntnis. Und das Verstehen dieser Offenbarung schafft nicht der Mensch selbst, sondern wird ihm durch das souveräne Wirken des Heiligen Geistes geschenkt (1Kor 2,14). Der Heilige Geist bleibt also unverfügbar. Der Mensch kann auch nicht durch eine bestimmte Gebetshaltung oder andere Übungen äußerlich zu diesem Wirken beitragen und es dadurch erst erreichen. Dieses Beeinflussenwollen einer Geisteswirkung durch bestimmte Übungen, Rituale oder auch Gebetshaltungen stammt aus dem esoterischen und mystischen Umfeld, wo es eher um das Erleben anstatt um das Verstehen des Übernatürlichen geht.

Die Erkenntnisseite des Glaubens wird als „lästige Pflichtübung“ gesehen, wie hier noch mehrfach bezeugt wird. Die Erfahrungsseite dagegen ist „in“ – Sie bietet Neues, Frisches, Spannendes und ist einfacher und schneller zu haben. Doch kommt es darauf an?

Mehrfach wird im Neuen Testament dazu aufgefordert, nicht subjektive Erfahrungen, sondern die objektive Wahrheit des Wortes Gottes festzuhalten: 2Thes 2,15; 2Tim 1,13; 3,14; 2Petr 1,19; Offb 2,25; 3,11.

Abschied von der Bibel?

Im Aufatmen-Sonderheft Stille 2010 wird unterschieden zwischen einer Stille in Freiheit und der herkömmlichen Morgenandacht:

„Nicht ‚Stille Zeit‘ als gequältes Pflichtprogramm, sondern Stille in großer Freiheit und mit einer Entdeckerfreude, die ahnt, dass es für ganz unterschiedliche Leute auch ganz unterschiedliche Wege gibt, Stille zu suchen – und in ihr zu sich selbst und zu Gott zu finden.“13

Es ist erstaunlich, wie viele Autoren ihre Abkehr von der „Stillen Zeit“ bezeugen. Sie wollen mehr als nur ein „gequältes Pflichtprogramm“. Stille heißt nicht nur Bibellesen und Beten, sondern Neues entdecken. Die Bibel kennen alle schon; von daher heißt es, sich aufmachen nach dem Abenteuer der Mystik, des Entdeckens der Sinnlichkeit und des Experimentierens mit Meditations- und Suggestionstechniken.

Und weil es „ganz unterschiedliche Leute“14 gibt, gibt es eben nicht nur einen Weg, Gott zu hören oder zu verstehen. Er hat sich damit den unterschiedlichen Neigungen, Interessen oder Gefühlen der Menschen anzupassen. Eine „entschiedene Christin“ sagte einmal: „Jeder sieht den Himmel anders, der eine so, der andere so!“ Damit wird die eine Wahrheit aufgelöst. Sie kann nicht mehr beansprucht werden. Weil jeder eine andere Sichtweise und Position hat, von der er etwas sieht oder versteht, ist jede Aussage und Erkenntnis auch über Gott nur noch relativ. Damit wird der Wert der Offenbarungserkenntnis nicht nur geschmälert, sondern schlichtweg aufgelöst. Die unterschiedlichen Ausgangspositionen führen zu Auslegungsvarianten, an denen der Makel der Subjektivität und damit der Relativität klebt.

Die Stille zu suchen hat nach dem Aufatmen-Sonderheft das Ziel „in ihr zu sich selbst und zu Gott zu finden.“15 Man beachte die Reihenfolge!

Was sagt die Bibel zur Selbstfindung?

Wer sein Leben findet, der wird es verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden! (Mt 10,39)

Wer sein Leben zu retten sucht, der wird es verlieren, und wer es verliert, der wird es erhalten. (Lk 17,33)

Astrid Eichler erklärt, dass wir heutzutage nicht mehr nur die Bibel brauchen. Es ist fatal, wenn wir allein an dem festhalten, was geschrieben steht: „Vielleicht denken Sie: Aber Gott hat ja schon geredet – alles, was er uns zu sagen hatte, steht doch in der Bibel! Wozu soll er denn dann jetzt noch reden? Sein Wort enthält doch genug Anweisungen.“16

Astrid Eichler bezieht sich hier auf Hebr 1,1-2, wo in der Vergangenheitsform beschrieben ist, dass Gott durch die Propheten und seinen Sohn geredet hat. Diese nun vorliegende und abgeschlossene Offenbarungserkenntnis gilt es – wie bereits erwähnt – festzuhalten.

Doch gibt es immer noch einige Unverbesserliche, die gemäß dem reformatorischen Grundsatz „Sola scriptura“ letztendlich krank sind:

Manche Christen „sperren Gott zwischen den zwei Buchdeckeln in ihrer Bibel ein“

„Aber selbst, wer in diesem kostbaren Wort Gottes tatsächlich liest, leidet manchmal an einer Krankheit. Wissen Sie, was wir manchmal mit Gott machen? Wir sperren ihn ein! Ich habe Gott schon oft bei Menschen gefunden – aber er ist eingesperrt zwischen den zwei Buchdeckeln ihrer Bibel. Denn da ist er ja drin! Und wir wissen ja, was er gesagt hat! Wir wissen, was er zu den anderen sagt, und wir wissen, was er über die anderen sagt. Wir müssen neu wahrnehmen, wie das mit dem Wort Gottes und seinem Reden ist.“17

Nicht das zählt, was einmal war – wir brauchen etwas Neues, eben über die Schrift hinaus, wovor jedoch 2Joh 9 warnt.

„In Jesus Christus hat Gott zu uns geredet – und in Jesus Christus redet er auch heute zu uns. Dass wir das Buch des Herrn nur nicht mit dem Herrn des Buches verwechseln! Dass wir Gott nur nicht einsperren und meinen, für alle Zeiten zu wissen, was er geredet hat!“18

Hier zeigt sich die alte, aus dem antiken griechischen Denken stammende Trennung von Geist und Buchstabe in der Heiligen Schrift, die diese gewissermaßen entautorisiert.

„Aber es geht doch darum, dass wir Gott heute und jetzt in unser Leben hinein reden hören – mitten in unserem Alltag! Jesus ist nicht gekommen, um uns eine religiöse Lehre, sondern Leben zu bringen. Leben meint uns ganz. Leben hat mit Leidenschaft zu tun.“19

Wie soll dieses Hören funktionieren? Die weiteren Autoren des Aufatmen-Sonderheftes sprechen, wie die noch folgenden Beispiele belegen, immer wieder vom „In sich hineinhören“.

„Offensichtlich haben sich manche daran gewöhnt, dass in unserer Beziehung zu Gott der Tod im Topf ist. Wir sagen: ‚Hauptsache, wir haben das Wort!‘“20

Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass bibeltreue Christen einerseits und Astrid Eichler andererseits aus unterschiedlichen Quellen schöpfen. Wer im Glaubensleben nur am Wort festhält, ist also tot.

„Wir haben es nötig, ihn wieder ganz neu zu entde­cken!“21

Das funktioniert am besten oder eigentlich ausschließlich durch das Wort. Neue, frische und belebende Erkenntnis hält den Glaubenden am Leben und nicht im Tod.

„Lassen wir Gott doch herauskommen aus der Enge, in die wir ihn oft eingesperrt haben. Lassen wir ihn doch hineinkommen in unseren Alltag. Nehmen wir uns doch Zeit, zu üben, seine Stimme zu hören. Geben wir ihm doch den Freiraum der Stille, um aufmerksam zu werden. Dann wird das Leben spannend. Die kirchliche Langeweile hat damit zu tun, dass wir Gott so wenig in unser Leben, in unseren Alltag hinein lassen und so wenig erwarten, dass er dort redet.“22

Diese Vorstellung geht davon aus, dass der Mensch Gott in sein Leben einbeziehen könne

Diese Vorstellung geht davon aus, dass der Mensch Gott in sein Leben einbeziehen könne. Der Mensch lebt sein eigenes Leben und erlaubt Gott, daran teilzuhaben – oder, wie es Christina Brudereck bei der Missionale 2010 ausdrückte, seinem „eigenen Herzen folgen und erwarten, dass Gott sich einmischt“23 .

Astrid Eichler will Spannung im Leben und keine Langeweile. Diese Spannung ist mit der Bibel nicht zu haben; also gilt es, Neues einzuüben.

Die weiteren Autoren geben hier konkrete Beispiele. Henri Nouwen erklärt, wie der Mensch die Grundlagen schaffen kann:

„Einsamkeit, Gemeinschaft und Dienst – wenn wir diese Freiräume schaffen, in denen Gott handeln und reden kann, wird Überraschendes passieren.“24

„Beten heißt, diese Stimme, die Stimme deines Liebhabers, ins Zentrum deines Seins sprechen zu lassen, tief in dein Inneres hinein, sie widerhallen zu lassen in deiner gesamten Existenz.“25

Diese abstrakte Formulierung lässt noch nicht erahnen, wie dieses „sprechen lassen“ sich denn nun konkret ereignen soll.

„Sobald man allerdings die Stille sucht und sitzt und ruhig wird, kommen ärgerlicher Weise häufig solche Gedanken … Es ist nicht einfach, die Stille zu suchen und darauf zu vertrauen, dass Gott in der Einsamkeit zu dir redet – nicht als magische Stimme, sondern so, dass er dich nach und nach etwas wissen lässt. In diesem Wort Gottes wirst du den inneren Platz finden, von dem aus du dein Leben gestalten kannst.“26

An dieser Stelle sei an ein Luther-Zitat erinnert, wo es auch ums stille Sitzen geht:

„Deshalb mahne ich euch vor solchen verderblichen Geistern – die sagen, ein Mensch empfängt den Heiligen Geist durch stilles Sitzen in der Ecke – auf der Hut zu sein. Hunderttausend Teufel wird er empfangen und nicht zu Gott kommen.“27

Nouwen … zitiert Gott mehrfach – nicht aus der Heiligen Schrift, sondern aus seiner Fantasie

Henri Nouwen erwähnt zwar, dass es keine magische Stimme sei, die da zu ihm spricht. Aber er zitiert Gott mehrfach – nicht aus der Heiligen Schrift, sondern aus seiner Fantasie:

„Aber Gott sagt: ‚Fang doch in der Nabe an, lebe im Mittelpunkt. Dann bist du mit allen Speichen verbunden und brauchst nicht so schnell zu laufen.‘“28

„Jesus sagt: ‚Weine über deine Schmerzen und du wirst entdecken, dass ich da bin – mitten in deinen Tränen. Und du wirst dankbar sein für meine Gegenwart in deiner Schwäche.‘“29

Diese Zitate entstammen – wie gesagt – nicht dem Wort Gottes, sondern sollen direktes, unmittelbares, aktuelles Reden Gottes heute sein. Bei diesem Reden hat man nicht das tatsächliche Reden Gottes, das durch den Heiligen Geist inspiriert in der Heiligen Schrift vorliegt, sondern eine bloße Vorstellung, eine Einbildung, ein Bild und damit letztlich nur einen Götzen.

Ulrich Eggers greift in seinem Artikel noch einmal die „gequälte Pflicht“ vom Beginn des Sonderheftes auf:

„Manch einer hat schlechte Er­fahrungen mit Pflichtprogrammen wie ‚Stille Zeit‘ oder Bibellesen.‘“30

An dieser Stelle wiederholt sich die Auffassung zu Beginn des Sonderheftes von der lästigen Pflicht. Und durch die „Abschiede“ der Autoren von der herkömmlichen „Stillen Zeit“ setzt sich diese Auffassung beim Leser fest und wird praktisch als Mehrheitsmeinung suggeriert. Im übrigen ist die Pflicht eine Last. Der Mensch ist unabhängig und frei von jeder Verpflichtung. Auch der Christ hat keinen Pflichten nachzugehen; alles ist frei und unverbindlich. Wie oft aber hat der Apostel Paulus die Gläubigen ermahnt, konkrete Pflichten zu beachten und einzuhalten?! Ulrich Eggers hat schließlich die Alternative zu dem alten Pflichtprogramm:

„Man muss experimentieren und Erfahrungen sammeln, bis man die Art der Stille vor Gott findet, die zu mir und meinem Lebensstil passt.“31

Auch hier wiederholt sich etwas: Der Mensch geht vor. Gott hat sich dessen Bedürfnissen, Neigungen, unterschiedlichen Stilen und Gefühlen anzupassen. Wenn der eine lieber Bibel liest, kann der andere eben die Zeit mit Gott im Wald spazierend oder still sitzend in der Passivität verbringen.

„Wie aber kann das gelingen – wenn man nun mal kein disziplinierter Pflicht-Typ ist und mit regelmäßigen Stille-Zeiten oder geistlichen Übungen nicht klarkommt?“32

Letztendlich lautet hier die Antwort: Wem biblische Vorgaben nicht passen, der darf sich seinen eigenen Stil suchen und kann irgendwie Zeit mit Gott verbringen, egal wie.

Eggers kommt zu der nicht mehr überraschenden Erkenntnis:

„Im Lauf der Zeit habe ich begriffen, dass jeder Mensch eine zu ihm passende Art und Weise hat, Stille wahrzunehmen und Gott zu begegnen. Gottesdienste, Bücher, Gespräch, Spaziergänge, Lieder, aktiver Einsatz – es gibt viele Wege, um Gott nahe zu kommen und mehr von ihm zu begreifen.“33

Diese verschiedenen Formen können natürlich immer auch Ergänzung sein, aber niemals Ersatz für das Bibellesen.

Entscheidend ist nach Eggers nicht Form und Stil, schon gar nicht aktives Tun, sondern geduldiges Warten in Passivität:

„Es ist völlig egal, welche Form Sie finden – Stille wirkt, wenn ich mich ihr ohne Erwartungs-Überdruck und Produktions-Zwang überlasse, Gott bewusst suche – und geduldig warte.“34

Auch Marieluise Bierbaum meint, die Gegenwart Gottes bzw. die Bedingungen dafür „schaffen“ zu können:

„Aber ich empfinde: Wir können ihm besser begegnen, wenn wir dafür einen passenden Rahmen schaffen.“35

Sogar an einem Platz in der Wohnung will sie Gottes Gegen­wart „merkbar“ werden lassen:

„Es täte uns gut … einen Winkel zu haben, in dem Gottes Gegen- wart merkbar wird“

„Ich meine, es täte uns gut (und nebenbei: auch allen anderen, die in der Wohnung leben …), einen solchen Winkel zu haben, in dem Gott sichtbar und zeichenhaft die Ehre gegeben und seine Gegenwart merkbar wird.“36

Schließlich gibt sie konkrete Ratschläge, damit das Spüren der Gegenwart Gottes „funktioniert“:

„Ein Fensterplatz oder eine Zimmerecke eignen sich gut, da, wo nicht unbedingt der Abwasch oder die ungemachten Betten ablenken.“37

Ablenken darf jedoch etwas anderes:

„Es hilft, den Ort schön zu gestalten – am besten mit einem Kreuz, vielleicht ein Hocker oder gar eine Kniebank.“38

Mit Dr. Reinhard Deichgräber ist im Aufatmen-Sonderheft wieder ein Autor an der Reihe, der das Plädoyer gegen das vermeintliche „gequälte Pflichtprogramm“ aufgreift:

„Jeder kann selbst herausfinden, was ihm gut tut. Auch bei Gebet und Stille ist es wichtig, dass ich meinen persönlichen Stil und mein persönliches Maß finde.“39

Verpflichtungen und Disziplin in der Christusnachfolge: Nein, Unabhängigkeit und Bedürfnisorientiertheit: Ja

Der Tenor bleibt also gleich: Verpflichtungen und Disziplin in der Christusnachfolge Nein, Unabhängigkeit und Bedürfnisorientiertheit Ja. Das klingt insgesamt nach sinnlichem Wellness-Christentum und einer „Pipi Langstrumpf-Theologie“: „Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt.“

Mut, sich bei Bibellese und Gebet zu disziplinieren, macht auch Ansgar Hörs­ting, Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, nicht. Sich um regelmäßige „Stille Zeit“ zu bemühen, sei „zwanghaft“, „versklavend“ und „kleinlich“:

„Natürlich kann ich auf diese Zeit am Morgen auch mal verzichten. Ab und zu. Hier und dann. Auch für ein paar Tage. Ich gehe nicht zwanghaft daran. Ich konstruiere nicht jenen versklavenden Zusammenhang, als könne Gottes Segen nur dann auf dem Tag liegen, wenn ich morgens Zeit zum Gebet hatte. So etwas macht Gott unendlich klein und kleinlich.“40

Im achten von zehn Tipps zum „Stille-­Tagebuch“ heißt es:

„Gott die Zeit der stillen Begegnung im Tagebuch bewusst hinhalten und ihn bitten, Gedanken zu lenken und Einsichten zu geben. Wer sich bewusst macht, dass Gott dieses Mittel und den dahinter stehenden Wunsch nach Begegnung gebrauchen will, dem fällt es leichter, wichtige Erkenntnisse aus dieser Begegnung nicht als Zufall abzutun, sondern darin Reden Gottes ernst zu nehmen.“41

Hier geht es also wieder um das „In sich Hineinhören“, dass Gott nicht nur durch sein Wort geredet hat, sondern auch heute unmittelbar reden würde.

Mit Manfred Pagel ist der nächste Autor an der Reihe, der das „In sich Hineinhören“ der biblischen Pflichtlektüre vorzieht:

Die Bibel zählt nun zu den „Vorschriften“, die es gilt, hinter sich zu lassen

„Wenn ich verkrampft ein Programm abspule, mir nicht genügend Zeit lasse, in mich hineinzuhorchen, wenn ich die Erfahrungen anderer kopieren oder auf jeden Fall aufregende Entdeckungen oder besondere Gefühle erleben will, werde ich nicht frei werden, werde ich bei mir selbst bleiben. Ich werde mich nur loslassen können, wenn ich alle ‚Vorschriften‘ hinter mir lasse und alles ‚Tun-müssen‘ zur Seite lege. Nichts tun, alles, was mich beschäftigt, an Gott abgeben und auf ihn warten, darum geht es.“42

Dieses sich selber „leer-machen“, sprich Passivität, ist die Voraussetzung, Gott zu begegnen. Sein geoffenbartes Wort, die bereits abgeschlossene Offenbarungserkenntis, zählt nur zu den „Vorschriften“, die es gilt, hinter sich zu lassen.

Susanne Geiger kommt wie Astrid Eichler noch mal auf die abgeschlossene Offenbarung nach Hebr 1 zu sprechen:

„Ich hatte gelernt, dass nach dem Wort aus Hebräer 1,1+2 ‚Gott zuletzt durch seinen Sohn gesprochen‘ hatte. Für mich, ein Kind der Zeit nach Christus, gäbe es das geschriebene Wort in der Bibel – mehr nicht, aber auch nicht weniger. Also: Gib dich zufrieden!“43

Und Susanne Geiger will sich nicht zufrieden geben.

„Und dann geschah es: Mein Mann und ich besuchen eine Konferenz zum Thema ‚Heilwerden in Gottes Gegenwart‘. Wir hörten, dass die Stille Zeit der Ort des vertrauten Zwiegesprächs zwischen Gott und seinem geliebten Mensch sei. Ich traute meinen Ohren kaum: In der Stillen Zeit hören auf den Gott, der sich in meinen Gedanken offenbaren und meinem Herzen begegnen will? Wir wurden eingeladen, jeden Tag ein kleines Gebet zu sprechen: ‚Sprich zu meinem Herzen, verwandele mein Leben und mache mich heil.‘ Und so betete ich diese wenigen Zeilen jeden Tag, wann immer sie mir einfielen.“44

Durch Suggestion versuchte Susanne Geiger nun, ein „Inneres Hören“ einzuüben, doch es funktionierte nicht:

„In einer Therapie erkannte ich, dass ich keinen Zugang zu meinen Gefühlen hatte. Meine vernunftgesteuerte Erziehung hatte mich völlig taub gemacht für ein inneres Hören. In meinem christlichen Umfeld hatte ich gelehrt bekommen, dass der Mensch gefallen und böse sei und nur durch stetes Abtöten der ‚inneren Triebe‘ (der inneren Stimmen) die Möglichkeit hätte, ‚geistlich‘ und ‚geheiligt‘ zu werden. Und nun musste ich feststellen, dass diese Art, mein Leben für Gott zu führen, mich hatte krank werden lassen.“45

Susanne Geiger feiert damit auch einen Abschied von dem eindeutig biblischen Menschenbild der gefallenen Schöpfung und beschreibt ihre Heilung wie folgt:

„In diesem erschütternden Prozess aber passierte etwas Erstaunliches: Ich hörte Gottes Stimme! Bibelworte ‚beauftragten‘ mich nicht mehr – die, die mich ansprachen, trösteten mich. Im Gottesdienst während des Lobpreises ‚sah‘ ich vor meinem inneren Auge eine Szene und wusste, durch sie redet Gott zu mir.“46

Wollen die Autoren in „Aufatmen“ ihr Christsein frei von Verpflichtungen machen?

Die Heilung führte S. Geiger also zu den in der charismatischen Bewegung bekannten „inneren Eindrücken“. Und was so schlimm daran ist, dass Bibelworte „beauftragen“, erklärt sich mit der Haltung, dass die Autoren in Aufatmen durchweg alle ihr Christsein frei von Verpflichtungen machen wollen, denn Pflicht ist Qual und Zwang.

Statt in der Heiligen Schrift erkannte S. Geiger Gottes Reden nunmehr in weltlichen Popsongs:

„Es lief ein Song in den Charts in der Kaufhausmusik ‚Gib nicht auf, es hat bald ein Ende‘ und in mir hörte ich Gottes Stimme: ‚Dieser Text ist mein Reden für dich‘.“47

Fazit: „Nun empfing ich wieder auf allen Wellenlängen und kann die Stimme meines himmlischen Vaters heraushören aus allem Geräusch in mir und um mich herum.“48

Der evangelische Pfarrer Stefan Wohlfahrt berichtet von Exerzitien-Tagen bei der Christusbruderschaft in Selbitz:

„Ich solle keine Bücher und Zeitschriften, nicht einmal eine Bibel (!) mitbringen, war mir mitgeteilt worden – nichts, was der Zerstreuung dienen sollte.“49

Dieses Aufrufezeichen im Text setzte Pfarrer Wohlfarth selbst. Diese unvorstellbare Anweisung, zu Einkehrtagen mit Gott keine Bibel mitzunehmen, hat dennoch seine Beziehung zu Gott entscheidend verbessert; eine Vorstellung, die im klaren Widerspruch zum Wort Gottes steht, nach dem der Glaube aus dem Wort kommt (Röm 10,17). Pfarrer Wolfahrt bediente sich jedoch anderer Mittel und Quellen.

„Am dritten Tag begannen wir, auf unseren Atem den Namen ‚Jesus‘ zu legen. Allein sein Name ruhte in unserem Gebet.“50

„Im zweiten Schritt ging es darum, durch ein inneres Abtasten des Leibes die Wahrnehmung für das eigene Da-Sein und Vor-Gott-Sein zu schärfen. Schließlich richtete sich die Wahrnehmung darauf, den Atem in die gefalteten Hände fließen zu lassen und auf den ausfließenden Atem den Namen ‚Jesus‘ zu legen. … Auf meinem geistlichen Weg bin ich in den letzen Jahren an einige erfrischende Quellen geführt worden, aber noch nirgendwo ist mir Gott bisher in so geradezu sinnlich spürbarer Weise nahe gekommen, wie in diesen Tagen.“51

Zusammenfassend formulierte Wohlfarth vor der Heimfahrt den Satz:

„Ich brauche Stille und Gebet, um mein Herz laut schlagen zu hören und den Geist, der darin spricht.“52

„Auch meine Stillezeiten sind seitdem stärker von einem Gespür für die Gegenwart Gottes durchdrungen.“53

„Ich komme mehr und mehr dahin, solche Pausen in der Natur ganz bewusst auszukosten. In all dem kann mir etwas von Gottes Güte und Gegenwart begegnen.“54

Wohlfarth findet Gott also „in all dem“, eben in der Natur und damit in den Dingen, was der Lehre des Pantheismus entspricht.

Der wahre Gott lässt sich jedoch nicht irgendwo finden, sondern allein in seinem geoffenbarten Wort, das durch ihn selbst inspiriert ist (2Tim 3,16).

Weiter heißt es: „Das Ausruhen in der Gegenwart Gottes hat eine ungemein erfrischende Kraft. Sie führt mich in eine Wachheit, die mich tiefer sehen und spüren lässt.“55

Setzt auch das Wort Gottes den Akzent auf „sehen und spüren“?

„Glückselig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20,29b).

„Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, eine Überzeugung von Tatsachen, die man nicht sieht.“ (Hebr 11,1).

Wie bereits erwähnt, stellen auch viele weitere Verse den Glauben, das nüchterne Verstehen und Überzeugtsein heraus und kein sinnliches Spüren.

Wichtig ist Wohlfarth das „Ausgerichtetsein auf die Stimme meines Herzens.“56

Dies erinnert an die oben erwähnte Evangelistin Christina Brudereck, die ebenfalls „ihrem eigenen Herzen folgen“ will.

Jünger von Jesus folgen jedoch nicht sich selbst bzw. ihrem eigenen Herzen, sondern verleugnen sogar ihr eigenes Herz bzw. ihre eigenen Plänen und folgen ihrem Herrn allein: „Wer mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!“ (Mk 8,34).

Die christliche Buchautorin Tamara Hinz erklärt in „Aufatmen“, welche Quellen sie gefunden hat, um im Glauben zu wachsen. Richtigerweise erkennt sie:

„Besonders in schwierigen Zeiten brauchen wir unbedingt Quellen, die uns ernähren. … Eine Hauptader dieser Quelle ist für mich die Gemeinschaft mit Jesus und der Blick auf ihn.“57

Doch dann nehmen die Gefühle überhand: „Hier werden mir Liebesworte zugeraunt, bekomme ich Zärtlichkeit und Emotionalität; …“58

Plädoyer, die geistlichen Gepflogenheiten zu ändern: Lobpreismusik und Bild­meditation statt Bibellesen und Gebet

Was dann folgt, ist ein Plädoyer, „die eigenen ‚geistlichen Gepflogenheiten‘ zu ändern“59 : Lobpreismusik und Bildmeditation statt Bibellesen und Gebet. Wie viele andere Aufatmen-Autoren begründet sie dies mit der angeb­lichen Zwanghaftigkeit der „Stillen Zeit“:

„In Krisenzeiten kann es durchaus hilfreich sein, in den schützenden Mantel einer fertigen Liturgie zu schlüpfen und die Stille Zeit ‚einfach nur‘ mit dem Hören von Lobpreisliedern oder anderen geistlichen Gesängen, zu denen wir Zugang haben, zu füllen oder den Eindruck eines aussagekräftigen Bildes auf mich wirken zu lassen. Die ‚normale‘ Stille Zeit mit Gebet und Bibellesen droht, zumindest bei mir, sonst schnell abzudriften in ein ständiges Kreisen um das Problem in Form von Beten, Beten und nochmals Beten.“60

Die hier gebotene Alternative des Konsums in Form des bloßen Hörens von Musik und des auf sich Wirkenlassens eines Bildes, belegt erneut den Trend Richtung Passivität.

Desweiteren empfiehlt Tamara Hinz, sich einfach abzulenken:

„Darüber hinaus hat diese Haupt­quelle ‚Jesus‘ viele kleine Nebenquellen, die meinen Körper und meine Seele speisen. Hier ist es gut, einmal hinzuschauen, was mir ganz persönlich hilft und gut tut, was zu meiner Entspannung und Erholung beiträgt. Das können gute Bücher und Filme sein, singen, musizieren, sportliche Betätigungen oder sonstige Tätigkeiten, die uns vorübergehend aus unserem Gedankensumpf herausholen und unseren Blick auf etwas Frohes und Helles richten.“61

Sicherlich braucht der Mensch auch einen gewissen Ausgleich. Entscheidend dabei sind allerdings nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern dass dies „aus Glauben“ und im Vertrauen zu Gott und nicht ohne ihn oder neben ihm geschieht:

„Alles aber, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde.“ (Römer 14,23b)

Unabhängig von Gott führen eigene „Nebenquellen“ von ihm weg. Daher gelingt ein Leben aus Glauben nur in Gemeinschaft und Übereinstimmung mit sowie in Abhängigkeit von der „Hauptquelle“.

Andi Schlüter, Jugendreferent der Freien evangelischen Gemeinden, empfiehlt in der Jugendzeitschrift „dran“ mit dem Haupthema „Stille“ ähnliche Abwechslungen vom Wort Gottes:

„Zuhause auf dem Teppich auf den Rücken legen, Instrumentalmusik laufen lassen (siehe CD-Tipps rechts) und Gottes Gegenwart wahrnehmen.“62

„Dem anderen hilft gerade die Abwechslung und er geht spazieren, weil er erlebt, dass Gott durch Eindrücke aus der Natur und dem Leben redet.“63

In dieser „dran“-Ausgabe wird außerdem folgender Vorschlag für Stille-Abende präsentiert:

„Ein Stilleabend für alle Sinne. Einführung. Mit gedämmten Licht, Kerzen und eventuell ruhiger Musik eine stille Atmosphäre schaffen. Um Ruhe bitten. Jeder bekommt ein Schokoladenherz oder ein Stück Schokolade und darf es ganz in Ruhe genießen: anschauen, daran schnuppern, anlecken, abbeißen, im Mund schmelzen lassen, den Geschmack wahrnehmen. Gedanke dazu: Wir dürfen Stille als etwas zum Genießen wahrnehmen. Sich ‚Stille zu nehmen‘ hat manchmal etwas von Pflicht – aber Gott hat den Sabbat erschaffen, weil er dem Menschen gut tut. Darum können wir Stille genießerisch angehen.

Gebetsübung: In eine Gebetsübung einführen, die sich an eine Übung von Ignatius von Loyola anlehnt und helfen soll wahrzunehmen, wie Gott in uns wirkt und wie wir uns in sein Wirken einklinken können.“64

Geradezu schockierend, aber wohl künftig einen neuen Trend setzend scheint folgende erotische Übung zu sein:

„Ein meditativer Stilleabend.
Icebreaker 1. Alle legen sich still im Kreis auf die Erde, den Kopf jeweils auf den Bauch des Nachbarn. Es fällt schwer, dabei ruhig zu sein und nicht zu lachen, weil der Magen des anderen grummelt oder man nicht sofort eine bequeme Position findet. Eine nette Übung, um auf lockere Art, aber gemeinschaftlich in die Stille zu starten.“65

In derselben „dran“-Ausgabe“ zum „Jahr der Stille“ personifiziert Julia Obergfell die Stille, indem sie sie persönlich anspricht und mehrfach beschreibt, was sie gefühlt hat:

„Weißt du nämlich, was mir an dir besonders gefällt, liebe Stille? Wie Gott meine Besuche bei dir gebraucht, um mir zu begegnen. Wie nah ich mich ihm fühle, wenn ich so richtig bei dir ankomme. Wenn der ganze Stress abfällt und Gott dann plötzlich auftaucht. Wie gut mir Seine Nähe gefällt. Und Seine Stimme! Seine Nähe und Sein Reden sind einfach unbeschreiblich schön. Aber du kennst das ja. Es scheint wirklich eine deiner Stärken zu sein, mich auf Gott aufmerksam zu machen. Gott und du – ihr seid ein richtig cooles Team! … Aber nach meinem Besuch bei dir habe ich mich dann wunderbar gefühlt! Klarer im Kopf. Ich glaube, Gott hat die Zeit bei dir genutzt, einiges aufzuräumen. Und da hatte Er so einiges zu tun. Er war ganz sanft. Und mein Herz hat sich danach ganz anders angefühlt.“66

„Die Frucht des Geistes aber ist Stille, …“

Bei so viel Betonung auf Stille könnte man meinen, dass die Frucht des Geistes in Galater 5,22 folgendermaßen lauten müßte:

„Die Frucht des Geistes aber ist Stille, Versenkung, Leer-sein, Passiv-warten und In-sich-hineinhören.“

Der Apostel Paulus erwartet die Kennzeichen der Frucht des Geistes bei den Gläubigen

Stattdessen stellt die echte, biblische Frucht des Geistes nicht Passives, sondern Aktives heraus. Der Heilige Geist bewirkt im Gläubigen eine neunfache Frucht, die den Eigenschaften Gottes entspricht. Diese soll auch den Charakter des Gläubigen prägen. Der Apos­tel Paulus erwartet diese Kennzeichen, wenn er immer wieder auffordert, nach geistlichen Eigenschaften bzw. Tugenden zu streben, dem nachzujagen, fest­zuhalten, wachsam zu sein sowie Falsches zu prüfen und aktiv zu widerstehen.

Die Frucht des Geistes ist eine Einheit. Daher ist es unzulässig, sich auf einzelne Elemente zu beschränken und andere zu vernachlässigen.

Dennoch seien hier im Kontext von Stille und Ruhe sowie von Passivität zwei Elemente einmal näher betrachtet:

Die dritte Eigenschaft dieser Frucht ist eirênê, zu deutsch: Friede. Mit diesem Frieden ist sicherlich eine innere Ruhe gemeint. Diese Ruhe ist jedoch kein passives Ruhen in Form von Abschalten. Sie gründet sich vielmehr auf die Zuversicht der christlichen Hoffnung, auf die Gewißheit der biblischen Verheißungen. Sie ist ein aktives Resultat des Vertrauens auf Gott. Dieser Frieden ist auch deswegen aktiv, weil er sich in Zeiten negativer Umstände und Anfechtungen aktiv entscheidet, sich nicht auf sich selbst, sondern auf Gott zu verlassen.

Die neunte Eigenschaft ist egkrateia, was mit Selbstbeherrschung oder Enthaltsamkeit (Keuschheit) übersetzt werden kann. Hier wird das Aktivsein im Christsein am deutlichsten, denn sich etwas zu enthalten bedeutet schlichtweg Verzicht. Der Christ zügelt seine Bedürfnisse und Leidenschaften. Sein eigenes Wohlbefinden, dass, was ihm gefühlsmäßig gut tut, ist dem Wirken des Heiligen Geistes untergeordnet, denn dieser ist ein Geist der Zucht (2Tim 1,7).

Nicht nur bei der Frucht des Geistes handelt es sich um aktive Merkmale im christlichen Leben, auch Paulus ruft ausschließlich zur Aktivität auf.

Doch dieses Aktivsein fordert Anstrengung, Disziplin und Überwindung. Dies empfinden mittlerweile viele Christen als Druck. Hier stellt sich die Frage nach der geistlichen Gesinnung.

Ist ein Christ fleischlich gesinnt, wird er auch auf Entscheidendes in seinem Leben aufpassen und achtgeben, nämlich, dass er seine eigenen Vorstellungen verwirklicht. Er achtet darauf, was ihm guttut – und zwar nicht seinem Glaubenswachstum, sondern seinem momentanen Gefühlszustand. Anweisungen sind Einengungen und setzen unter Druck, Anstrengung ist Überforderung, Gehorsam und Disziplin ist gesetzlich. Keiner (außer er selbst) darf sich anmaßen, über seine Lebensweise zu bestimmen. Das ist pure Selbstverwirklichung und damit Götzendienst.

Geistlich gesinnte Christen dagegen empfinden biblische Vorgaben nicht als Druck oder Zwang. Sie wollen im Glauben wachsen. Gott gibt ihnen nämlich den geistlichen Hunger. Regelmäßiges Lesen und Studieren im Wort Gottes ist wie das Atmen selbstverständlich und unverzichtbar. Dies macht einfach das Wesen eines geistlichen Christen aus. Heutzutage gibt es verschiedene Studienbibeln, Kommentare, Andachtsbücher, Bibelkurse, Konkordanzen und andere Nachschlagewerke, die das Studieren des Wortes Gottes bereichern können. Besonders für diejenigen, denen der Zugang zur Bibel öfters schwer fällt, sind es hervorragende Hilfsmittel, die das Bibellesen lehrreich, interessant und spannend machen und für das Glaubenswachstum äußerst gewinnbringend wirken können.

Auswirkungen

Die Zeiten ändern sich. Der Mensch ist bequem geworden. Sich informieren, rechnen und recherchieren funktioniert heutzutage meist maschinell – und das äußerst einfach, bequem und schnell.

Dieses Phänomen hat leider auch Auswirkungen auf den allgemeinen geistlichen Zustand. Der christliche Literatur- und Verkündigungsdienst hat Schlagseite bekommen zu einfachen, bequemen, sinnlichen, lustigen, oberflächlichen, dünnen und selten tiefgründigen Inputs. Die oben zitierten Beispiele aus dem Sonderheft zum „Jahr der Stille“ werden von der Zeitschrift Aufatmen selbst recht vielversprechend angekündigt:

„100 Seiten mit dem besten Material zum Thema Stille: Biblische Grundlagen, persönliche Erfahrungen, Anregungen zur Umsetzung im persönlichen Alltag.“67

Auch wenn „Aufatmen“ durch sehr fragwürdige Artikel biblische Grundlagen oft vermissen ließ, ist Peter Strauch nach wie vor davon überzeugt:

„Gute biblische Theologie, erweckliche Frömmigkeit und ehrliches, authentisches Leben gehören untrennbar zusammen – und genau darum geht es in AUFATMEN. Deshalb bin ich von der Zeitschrift so überzeugt.“68

Dagegen ist der Evangelist Theo Lehmann von seichter Kost, die entsprechende Auswirkungen hierzulande haben wird, alles andere als überzeugt. Zu Recht fragt er in einem anderen Zusammenhang:

Wer kann von dieser seichten Kost leben, wenn er nicht mehr im Gemeindesaal, sondern in einer gemeinen Gefängniszelle sitzt?

„Wer kann von dieser seichten Kost leben, wenn er nicht mehr im Gemeindesaal, sondern in einer gemeinen Gefängniszelle sitzt? Wenn nicht mehr fröhlich getanzt, sondern fies gefoltert wird? Wie sollen die jungen Chris­ten, die wir mit coolen Kurzpredigten unterfordern und unter­ernähren, sich einmal bewähren, wenn es hart auf hart kommt? Oder denken wir etwa, die weltweite Christenverfolgungswelle wird ausgerechnet um das liebe „old Germany“, die Insel der Seligen, einen Bogen machen? Wir haben wohl vergessen, was Paulus (aus dem Gefängnis!) geschrieben hat: „Alle, die gottesfürchtig leben wollen in Jesus Christus, müssen Verfolgung leiden“ (2Tim 3,12). Ich genieße es voll Dankbarkeit, daß ich nach den DDR-Jahren in einem freien, demokratischen Land leben darf, in dem ich wegen meines Glaubens an Jesus weder diskriminiert noch verfolgt werde. Aber ich sehe das als eine Atempause an, die Gott uns gönnt, zum Luftholen. Denn daß das alles immer so friedlich bleiben wird, wird mir angesichts der Entwicklung in der Welt immer unwahrscheinlicher. Wir sollten die Atempause benutzen, um uns auf die Zeiten vorzubereiten, in denen Christsein nicht mehr „geil“, sondern gefährlich ist. Was wir brauchen, sind bibelfeste, feuerfeste, KZ-fähige Christen.“69


  1. Ulrich Eggers: Das „Jahr der Stille“ 2010. Informationen und Hintergründe, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (Witten: Bundes-Verlag, 2009), S. 10. 

  2. Holger Mix: Stell dir vor, Gott redet, aber keiner hört zu. Warum reden beim Beten doch nur Silber ist, in: dran Nr. 3/2010, (Witten: Bundes-Verlag, 2010), S. 33. 

  3. Ebd. 

  4. Ebd. 

  5. Ebd. 

  6. Ebd. 

  7. Ebd. 

  8. Ebd. 

  9. Ebd. 

  10. Ebd. 

  11. Ebd. 

  12. Ebd. 

  13. Ulrich Eggers: Das „Jahr der Stille“ 2010. Informationen und Hintergründe (a.a.O.)  

  14. Ebd. 

  15. Ebd. 

  16. Astrid Eichler: Hörsturz. Wenn die Ohren des Herzens taub geworden sind, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 23. 

  17. Ebd. 

  18. Ebd. 

  19. Ebd. 

  20. Ebd. 

  21. Ebd., S. 24. 

  22. Ebd. 

  23. Christina Brudereck in: U35-Forum. Verantwortung? Ja, danke! (Missionale 2010)  

  24. Henri Nouwen: Gott begegnen in der Einsamkeit. Wie unser Leben fruchtbar werden kann, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 30-31. 

  25. Ebd., S. 31. 

  26. Ebd., S. 32. 

  27. Ed. E. Plass Vol. 3, What Luther says, S. 1462. 

  28. Henri Nouwen: Gott begegnen in der Einsamkeit (a.a.O.), S. 32. 

  29. Ebd., S. 35. 

  30. Ulrich Eggers: Stille entdecken – überall, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 36; Aufatmen Nr. 3/2009, Dossier: Stille, (Witten: Bundes-Verlag, 2009), S. 36. 

  31. Ebd., S. 37; ebd., S. 37. 

  32. Ebd. 

  33. Ebd. 

  34. Ebd., S. 38; ebd., S. 38. 

  35. Marieluise Bierbaum: Plädoyer für einen heiligen Ort. Einen Platz finden für die persönliche Begegnung mit Gott, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 49. 

  36. Ebd. 

  37. Ebd. 

  38. Ebd. 

  39. Dr. Reinhard Deichgräber: Sieben Wege in die Stille. Einfache Stille-Übungen für den Alltag, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 57; Aufatmen Nr. 3/2009, Dossier: Stille, (a.a.O.), S. 33. 

  40. Ansgar Hörsting: Ich brauche den Morgen! Im Freistil, nicht zwanghaft, aber doch als zentrales Lebensmittel: Plädoyer für die Stille Zeit vor Tagesbeginn, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 64. 

  41. Jörg Ahlbrecht: Stille-Momente am Abend – Stille-Tagebuch: 10 Tipps, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 68. 

  42. Manfred Pagel: Mit Gott allein. Meine Stille-Nachmittage am Meer: Wie Intimität und Nähe eine Beziehung verändern können, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 88. 

  43. Susanne Geiger: Willkommen im Land der Ruhe. Wie sich meine Stille Zeit von mühsamer Dienstbesprechung zu heiß ersehnter Zeit inniger Zweisamkeit entwickelte, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 90-91; Aufatmen Nr. 3/2009, Dossier: Stille, (a.a.O.), S. 40-41. 

  44. Ebd., S. 91; ebd., S. 41. 

  45. Ebd. 

  46. Ebd. 

  47. Ebd., S. 92; ebd., S. 42. 

  48. Ebd. 

  49. Stefan Wohlfarth: Wach werden in der Stille. Den Blickkontakt mit Gott suchen: Ein Bericht über zehn Tage Einkehrzeit, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 96. 

  50. Ebd., S. 97. 

  51. Ebd., S. 98. 

  52. Ebd., S. 99. 

  53. Ebd. 

  54. Ebd. 

  55. Ebd. 

  56. Ebd. 

  57. Tamara Hinz: „In dir ist Freude – in allem Leide? Was tun, wenn der liebe Herr Jesus gar nicht so lieb ist? Erprobte Strategien gegen den Enttäuschungs-Blues des Glaubens, in: Aufatmen Nr. 2/2010 (a.a.O.), S. 72. 

  58. Ebd. 

  59. Ebd. 

  60. Ebd. 

  61. Ebd., S. 73. 

  62. Andi Schlüter: Jetzt mal die Klappe halten. Inmitten des Alltags mal fünf Minuten, eine Stunde oder einen ganzen Tag Stille finden, in: dran Nr. 1/2010, (Witten: Bundes-Verlag, 2010), S. 30. 

  63. Ebd., S. 31. 

  64. o.O., anwenden. Zwei Vorschläge für Stille-Abende, in: dran Nr. 1/2010, (Witten: Bundes-Verlag, 2010), S. 56. 

  65. Ebd. 

  66. Julia Obergfell: Stille, ich mag dich, in: dran Nr. 1 /2010, (a.a.O.), S. 26. 

  67. Anzeige: Aufatmen. Gott begegnen – Authentisch leben, in: SCM: Der Geschenke-Katalog 2010(Holzgerlingen: SCM, 2009), S. 6. 

  68. Stille: Tipps & Adressen. Literatur & Medien, in: Aufatmen. Sonderheft Stille 2010, (a.a.O.), S. 42. 

  69. Theo Lehmann: Das Land ist still. Gegen ein immer seichteres Christentum in Deutschland, in: idea-Spektrum Nr.22/2004, (Wetzlar: idea, 2004), S. 3.