Vor allem in der universitären Theologie gibt es seit längerem mehrheitlich die Auffassung, dass viele der in der Bibel geschilderten Ereignisse nie stattgefunden haben. So äußerte zum Beispiel schon vor rund 20 Jahren der einflussreiche evangelische Theologe Andreas Lindemann in einem Spiegel-Interview1:
„Dass es sich bei den Evangelien um Lebensbeschreibungen Jesu handelt […] wird seit Jahrzehnten von keinem ernst zu nehmenden Exegeten mehr behauptet.“
Hätte er recht, hieße das: Nicht nur die Wunder und die Auferstehung sind in Frage gestellt. Ganz grundsätzlich wären in den Evangelien keine historisch verlässlichen Beschreibungen des Lebens und der Lehre Jesu zu finden. In noch deutlich stärkerem Maße gilt diese Skepsis für die Erzählungen des Alten Testaments, und dort vor allem für die biblische Urgeschichte in 1Mose 1-11. Auch der deutlich konservativere Theologe Prof. Thorsten Dietz von der Evangelischen Hochschule Tabor äußert dazu:
Die Ansicht, dass der Sintflutbericht historisch verstanden werden wolle, „schiebt dem Bibeltext eine Bedeutungsabsicht zu, die er nach allem, was wir über altorientalische Geschichtsschreibung wissen, nicht gehabt hat. […]
Wir können den Autoren kein Geschichtsverständnis unterstellen, wie wir es heute kennen. Wir sollten die Autoren der Bibel nicht auf Fragen festnageln, die sich ihnen nie gestellt haben. Damit verfehlen wir den Sinn der Texte. […]
Althistoriker zeigen, dass es in der Antike erst allmählich zu einer klaren Unterscheidung von geschichtlich, vorgeschichtlich, legendarisch etc. gekommen ist.“2
Noch schärfer formuliert Prof. Siegfried Zimmer, wenn er behauptet, dass das „historische Denken“ überhaupt erst im 18. und 19. Jahrhundert in Europa entstanden sei, da erst zu dieser Zeit deutlich wurde, „wie umfassend das Leben und Denken des Menschen einem geschichtlichen Wandel unterliegt.“3 Und weiter:
„Wer die Behauptung aufstellt, die Bibel verstehe ‚Adam und Eva‘ als geschichtliche Personen, verteidigt nicht die Bibel. Er verteidigt etwas Anderes: sein eigenes, falsches Bild der Bibel und seine eigenen Missverständnisse und Vorurteile. […] In fundamentalistischen Kreisen gibt es Christen, die mit einem ungeheuren naturwissenschaftlichen Aufwand und Scharfsinn beweisen wollen, dass es in den Anfangskapiteln der Bibel um historische Ereignisse und um historische Personen geht. Diese Christen wollen etwas beweisen, was die Bibel gar nicht behauptet! Das ist tragisch und absurd.“4
Gottes Wort als solches ernst nehmen hieße demnach also: Erkennen, dass zumindest die Geschichten in 1. Mose 1-11 rein symbolisch oder metaphorisch gemeint sind, keinesfalls aber tatsächliche Ereignisse beschreiben wollen. Wer das anders sieht, stülpt den biblischen Autoren demnach ein falsches Geschichtsverständnis über, das sie gar nicht gehabt hatten (bzw. haben konnten) und produziert damit ohne Not unlösbare Probleme, die es naturwissenschaftlich aufgeklärten Menschen unnötig schwer oder gar unmöglich machen, der Bibel zu vertrauen. Das ist zuerst einmal ein schwerwiegender Vorwurf. Welcher Christ will schon anderen Menschen den Weg zum Glauben verbauen?
Könnte es tatsächlich sein, dass 1800 Jahre lang die Christenheit einem derart fatalen Missverständnis aufgessen ist, dass sie Geschichte mit Gleichnis verwechselte und Legende mit Tatsächlichem?
Richtig ist natürlich: Die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Lehrbuch. Ich kenne persönlich auch niemanden, der das behauptet. Denn es ist ja offenkundig: Die biblischen Autoren schreiben meist aus der Beobachterperspektive. Sie ordnen den Stoff oft thematisch oder literarisch statt streng chronologisch an. Sie legen keinen Wert auf Vollständigkeit und Detailtiefe. Ihre Schilderungen sind häufig geprägt von theologischen Fragestellungen (was natürlich per se nicht gegen ihren historischen Anspruch spricht5 ). Und natürlich kennen sie die modernen wissenschaftlichen Definitionen nicht. Deshalb können z.B. Hasen als Wiederkäuer bezeichnet werden, was nach der modernen Taxonomie zwar falsch ist, aber auf der richtigen Beobachtung fußt, dass Hasen tatsächlich ihren Blinddarmkot erneut aufnehmen.
Richtig ist auch: Wenn die Aussageabsicht der biblischen Autoren nichts mit Geschichtsschreibung zu tun hatte, dann wäre es tatsächlich sträflich, diese Texte in einem falschen Sinne „wörtlich“ zu lesen. Das wäre dann in etwa so, wie wenn jemand in Neuseeland nach den Spuren des Landes „Mittelerde“ aus dem Roman ‚Herr der Ringe‘ sucht, und dann an der Glaubwürdigkeit des Autors J.R.R. Tolkien zweifelt, weil er nichts als ein paar billige Filmkulissen gefunden hat.
Die große Frage ist: Könnte es tatsächlich sein, dass die Christenheit 1800 Jahre lang in diesen Fragen einem derart fatalen Missverständnis aufgesessen ist, weil sie Geschichte und Gleichnis verwechselt hat?
Um Licht in diesen Themenkomplex zu bringen, geht dieser Artikel zwei Fragen nach:
1. Warum ist die Frage nach der historischen Wahrheit überhaupt wichtig? Reicht es nicht, einfach nur die theologische Aussage ernst zu nehmen? Spielt es überhaupt eine Rolle, ob die Ereignisse sich tatsächlich ereignet haben?
2. Konnten und wollten die antiken Autoren überhaupt unterscheiden zwischen Geschichte, Legende und Metapher? Hat sich diese Unterscheidung nicht erst in der Moderne durchgesetzt?
Geschichte ist bedeutend
Beginnen wir mit Frage Nummer 1: Warum ist die Frage nach der historischen Wahrheit überhaupt wichtig? Reicht es nicht, einfach nur die theologische Aussage ernst zu nehmen? Spielt es überhaupt eine Rolle, ob die Ereignisse sich wirklich ereignet haben?
Warum ist die gesellschaftliche Situation in Deutschland so wie sie ist? Ganz einfach: Der Zustand unseres Landes ist auch ein Produkt seiner Geschichte. Geistliche und geistige Strömungen, Kriege und Konflikte, Machtkämpfe und Umwälzungen haben unser Land mit geprägt. Wer die Dynamiken der Gegenwart verstehen möchte, muss deshalb die Geschichte kennen. Kein Historiker würde jemals auf die absurde Idee kommen zu sagen: Es spielt für das Verständnis unserer Gesellschaft keine Rolle, ob sich die Teilung unseres Landes, der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung wirklich ereignet haben. Denn ohne diese geschichtliche Wirklichkeit könnten wir viele heute bestehenden Ungleichheiten zwischen Ost und West niemals richtig verstehen und sachgerecht mit ihnen umgehen.
Die Autoren der Evangelien wollten primär berichten, was Augenzeugen gehört und gesehen hatten.
Genau das gleiche Verständnis von der grundlegenden Bedeutung historischer Ereignisse finden wir quer durch die ganze Bibel. Die Autoren der Evangelien wollten gerade nicht primär eine neue Theologie verbreiten, sondern berichten, was die Augenzeugen gehört und gesehen haben (Lukas 1,1-4). Der bekannte US-amerikanische Theologe Timothy Keller schreibt dazu:
„Das christliche Evangelium ist kein gut gemeinter Rat, sondern es ist gute Nachricht. Es ist keine Handlungsanleitung, was wir tun sollten, um uns selbst zu retten, sondern vielmehr eine Verlautbarung, was bereits für unser Heil getan wurde. Das Evangelium sagt: Jesus hat in der Geschichte etwas für uns getan, damit wir, wenn wir im Glauben mit ihm verbunden sind, Anteil an dem bekommen, was er getan hat, und so gerettet werden.“6
Genau das gleiche Prinzip gilt für die biblische Urgeschichte. Die Ereignisse rund um den „Sündenfall“ in 1. Mose 2 und 3 gelten quer durch die ganze Bibel als grundlegender Schlüssel für das Verständnis der Situation des Menschen und der heutigen Welt. So schreibt z.B. Reinhard Junker:
Die Geschichte erklärt, warum die Menschheit so ist, wie sie ist: eines Retters aus Sünde und Tod bedürftig. Die Geschichte erklärt die jeweilige Gegenwart. Gottes Handeln in Raum und Zeit war von grundlegender Bedeutung.
„Selbst wenn Prof. Zimmer recht damit hätte, dass die Antike Geschichte als unbedeutend ansah, würden die Verfasser der Texte des Alten und Neuen Testaments gerade dieser Sicht klar und ausdrücklich widersprechen. Denn die biblischen Autoren betonen genau das Gegenteil dessen, was Zimmer behauptet, nämlich dass es große Veränderungen mit nachhaltiger Wirkung gab und diese zum Verständnis der Gegenwart wesentlich sind. […] Die Geschichte erklärt, warum die Menschheit so ist, wie sie ist: eines Retters aus Sünde und Tod bedürftig. […] Die Israeliten hatten ein lineares Zeitgeschichtsbild und Gottes Handeln in Zeit und Raum war für sie von grundlegender Bedeutung. Daher sollten sie sich an die großen Taten erinnern, die Gott unter ihnen getan hatte (5. Mose 6,20-25). Dazu gehört selbstverständlich auch die Urgeschichte. Die Geschichte erklärt die jeweilige Gegenwart.“7
Das Neue Testament liest das Alte Testament historisch
Dazu passt, dass die Autoren des Neuen Testaments ganz offensichtlich fest davon ausgingen, dass sich die Geschichten des Alten Testaments wirklich ereignet haben:
Für den Evangelisten Lukas waren Adam und Noah in gleicher Weise geschichtliche Personen wie David, Josef und Jesus, wie sein Stammbaum Jesu zeigt (Luk 3, 23-37).
Für Petrus waren Noah und die Sintflut ganz selbstverständlich geschichtliche Realitäten (1Petr. 3, 20; 2Petr. 2, 5). In Röm 5,12-21 und 1Kor 15,20-22 hält Paulus Adam für ebenso geschichtlich wie Jesus.8 Diese Geschichtlichkeit ist sogar ein grundlegender Bestandteil seiner Theologie, wie Timothy Keller betont:
„Wenn Adam nicht historisch ist, ist die ganze Argumentation von Paulus hinfällig. … Wer nicht glaubt, was Paulus über Adam glaubt, lehnt das Herzstück paulinischer Theologie ab.“9
Für Jesus, dessen Lehre für alle Christen letzte Autorität hat, war Noah und die Sintflut ebenso real wie sein Wiederkommen (Matth. 24, 37-38; Lukas 17, 26-27).
Im 11. Kapitel des Hebräerbriefs wird das Wesen des Glaubens anhand von Glaubenswagnissen alttestamentlicher Personen erklärt. Kain, Abel, Henoch und Noah werden dabei genau in der gleichen Weise betrachtet wie Abraham, Isaak, Jakob, Samuel und David. Könnte es sich trotzdem bei manchen dieser Personen um Figuren aus Gleichnisgeschichten handeln? Hätte der Hebräerbriefschreiber somit in seine Aufzählung von Glaubenshelden auch den barmherzigen Samariter einreihen können? Wohl kaum. Denn über den barmherzigen Samariter hätte er sicher nicht so wie über Abel geschrieben: „Durch den Glauben redet er noch, obgleich er gestorben ist.“ (Hebräer 11,4) Der barmherzige Samariter ist nicht gestorben – weil er nie gelebt hat.
Die Historizität ist essenziell für die theologische Aussage
Texte wie Hebräer 11 zeigen eindrücklich: Das konkrete, reale Handeln Gottes mit den Menschen in Raum und Zeit ist ein fundamentaler Bestandteil der biblischen Botschaft und wesentliche Grundlage ihrer Theologie. Die Propheten sagten voraus, dass Gott nach dem Exil sein Volk wieder zurück in die Heimat führen wird, wie er es bereits beim Exodus aus Ägypten getan hat (Jeremia 16, 14). Wie hätte diese Botschaft eine Ermutigung sein können, wenn es diesen Exodus nie gegeben hätte?
Im Johannesevangelium lesen wir über die zeichenhaften Wunder Jesu: „Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes“ (Johannes 20, 31). Wenn die beschriebenen Wunder in Wahrheit gar nicht geschehen sind, wie hätten diese Erzählungen dann das Vertrauen der Leser stärken sollen, dass Jesus wirklich der Christus und der Messias ist?
Es erscheint äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, die theologischen Aussagen der Bibel von ihren Aussagen zur Geschichte zu trennen.
Alle diese Beispiele unterstreichen: Es erscheint äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, die theologischen Aussagen der Bibel von ihren Aussagen zur Geschichte zu trennen. Eine Exegese, die trotz dieser engen Verwobenheit meint, dass hinter den Erzählungen kein tatsächliches, reales Handeln Gottes in der Geschichte steht, steht immer in der großen Gefahr, auch theologisch an Substanz und Glaubwürdigkeit zu verlieren und damit die Botschaft der Kirche zu schwächen.
Ein klarer Unterschied
Damit kommen wir zur 2. Frage: Konnten und wollten die antiken Autoren überhaupt unterscheiden zwischen Geschichte, Legende und Metapher? Hat sich diese Unterscheidung nicht erst in der Moderne durchgesetzt?
Anders ausgedrückt: Ist der Glaube, dass die biblischen Autoren von geschichtlichen Ereignissen ausgingen, vielleicht nur eine moderne „optische Täuschung“, weil wir die Bibel mit der Brille unseres modernen Geschichtsverständnisses lesen?
Das Geschichtsverständnis zur Zeit des Neuen Testaments
Fakt ist, dass in der Zeit der Entstehung des Neuen Testaments klar zwischen Geschichte und Mythos, zwischen Fakt und Fiktion unterschieden wurde. So grenzte sich z.B. der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus im 1. Jahrhundert bei der Darstellung geschichtlicher Ereignisse ganz bewusst vom Hang zur Übertreibung ab.10 Der Philosoph Porphyrios kritisierte die Christen im 3. Jahrhundert mit der Behauptung, dass die Prophetien im Buch Daniel erst nach den Ereignissen aufgeschrieben wurden. Fragen nach Historizität und Datierung waren für ihn also völlig normal.11 In seiner „Einleitung in das Neue Testament“ weist der Neutestamentler Armin D. Baum ausführlich nach, dass bereits in der Antike „die drei Erzählgattungen Epos, Geschichtsschreibung und „Roman“ […] anhand ihres Realitätsbezugs (wirklich oder fiktiv) und ihrer sprachlichen Form (Verse oder Prosa) voneinander unterschieden“ wurden.12
In Bezug auf das Lukasevangelium kommt er zu dem Schluss:
„Die Prologe des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte unterscheiden sich so stark von den Anfängen antiker Epen, sind so eng mit den Prologen der antiken Geschichtsschreibung verwandt und inhaltlich so eindeutig historisch orientiert, dass an der Intention des Autors, Geschichte zu schreiben, nicht gezweifelt werden kann. Im lukanischen Doppelwerk erzählt kein von den Musen inspirierter Künstler, sondern ein sich auf Augenzeugen berufender Historiker (Lukas 1,2).“13
Auch Petrus legt ausdrücklich Wert auf die Unterscheidung zwischen erdachten Geschichten und tatsächlichen Begebenheiten: „Wir sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe.“ (2. Petrus 1,16)
Das Geschichtsverständnis zur Zeit des Alten Testaments
Aber gilt dieser Sachverhalt auch für die Schriften des Alten Testaments und die biblische Urgeschichte? Dazu schreibt Timothy Keller:
„1. Mose 2 und 3 lassen keine Anzeichen für das Genre … Dichtung erkennen. Der Text liest sich als Bericht über wirkliche Geschehnisse; er sieht aus wie ein Geschichtsdokument. Das heißt nicht, dass 1. Mose (oder sonst ein biblischer Text) Geschichte im modernen […] Sinn ist. Die antiken Autoren, die historische Geschehnisse aufzeichneten, nahmen sich die Freiheit, die Chronologie zu verändern und Zeitabläufe zu komprimieren – und jede Menge an Information wegzulassen, die ein moderner Historiker als wesentlich dafür erachten würde, ein “Gesamtbild” zu erhalten. Aber auch die antiken Geschichtsschreiber waren überzeugt, dass die Ereignisse, die sie beschreiben, tatsächlich geschehen sind. […] Manche sagen, man müsse 1. Mose 2 bis 11 im Licht anderer Schöpfungsmythen des Nahen Ostens aus dieser Zeit lesen. Andere Kulturen schufen ihre Mythen über die Entstehung der Welt und die große Flut, so wird gesagt, und wir müssen erkennen, dass der Verfasser von 1. Mose 2 und 3 wahrscheinlich dasselbe tat. Nach dieser Auffassung hätte der Verfasser von 1. Mose 2 und 3 einfach eine hebräische Version des Mythos von Schöpfung und Flut geschaffen. Er mag sogar geglaubt haben, dass dies historische Ereignisse waren, aber darin war er dann eben nur ein Kind seiner Zeit. Gegen diese Sicht hat Kenneth Kitchen begründete Einwände erhoben. Der bekannte Ägyptologe und evangelikale Christ antwortet auf die These, dass die Sintfluterzählung (1. Mose 9) wie die Fluterzählungen anderer Kulturen als Mythos […] gelesen werden sollte, Folgendes:
‚(Es) ist auch darauf hinzuweisen, dass im alten Nahen Osten Mythen NICHT historisiert wurden (d.h. als imaginäre ‚Geschichte‘ verstanden), sondern vielmehr die Tendenz bestand, Geschichtsereignisse und Personen mythologisch zu überhöhen …‘
Es ist belegt, dass die ‚Mythen‘ des antiken Nahen Ostens nicht im Lauf der Zeit zu historischen Ereignissen wurden, sondern vielmehr umgekehrt historische Berichte sich allmählich in eher mythologische Geschichten verwandelten.
Mit anderen Worten: Es ist belegt, dass die ‚Mythen‘ des antiken Nahen Ostens nicht im Lauf der Zeit zu historischen Ereignissen wurden, sondern vielmehr umgekehrt historische Berichte sich allmählich in eher mythologische Geschichten verwandelten. Kitchen argumentiert: Wenn man 1. Mose 2-11 im Licht dessen liest, wie die alte Literatur des Nahen Ostens funktioniert, würde man, wenn überhaupt, schließen, dass 1. Mose 2-11 Ereignisse berichten, die tatsächlich gesehen sind – und das in einer “Hochform” mit viel bildhafter Sprache und chronologischer Verdichtung. Zusammenfassend sieht es also so aus, als sei es zu verantworten, 1. Mose 2-3 als Bericht eines tatsächlichen historischen Ereignisses zu verstehen.“14
Außerbiblische Beispiele
In antiken Quellen finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass dieses historische Geschichtsverständnis nicht nur in der Bibel, sondern auch bei vielen außerbiblischen Autoren sehr wohl vorhanden war. Dazu schreibt der Historiker Axel Schwaiger, der sich ausführlich mit historischem Geschichtsdenken befasst hat:
Die Vorstellung, antike Autoren verarbeiteten ausschließlich eine ‚literarische Erzählkultur‘, die Historie und Mythos unreflektiert miteinander verband, kann so nicht mehr aufrechterhalten werden.
„Von allen antiken Geschichtstexten zu behaupten, sie könnten zwischen historisch und mythisch, Bericht und Legende nicht unterscheiden und wollten das auch gar nicht, offenbart eine sträfliche Unkenntnis antiker Historiographie. Natürlich gibt es solche Texte, aber man tut Männern wie Herodot (um 490-430 v.Chr.), Thukydides (ca. 460-399 v.Chr.) oder Hekataios von Milet (vor 550 v.Chr.) mit solchen pauschalen Abwertungen doch schon sehr Unrecht, da gerade sie ausdrücklich angetreten waren, die Geschichte von Legenden, Sagen und Mythen zu entschlacken und nach konkreten Gründen und Ursachen historischer Entwicklungen zu fragen. Hekataios‘ ‚Erdbeschreibung‘, Thukydides‘ ‚Peloponnesischer Krieg‘ und Herodots ‚Historien‘ erzählen zwar auch von Mythen der Völker, aber eben deutlich unterscheidend als deren Mythen – oft in Verbindung mit rationalen oder historischen Erklärungen dafür. So unterzog Hekataios beispielsweise die bis dahin vorherrschende sagenhafte epische Tradition einer radikalen rationalen Kritik und ging damit bereits im 6. vorchristlichen Jahrhundert einen entscheidenden Schritt in Richtung auf ein historisches Bewusstsein, das man heute allzu gerne ausschließlich für die Neuzeit reklamiert. Die Unterscheidung zwischen Mythen und tatsächlichem Geschehen, zwischen Legenden, Übertreibungen und echter Historie und das Fragen nach tatsächlicher Kausalität macht ihren hohen historiographischen Wert aus. Nicht von ungefähr gilt Herodot bereits in der Antike als ‚Vater der Geschichtsschreibung‘. Seine Methoden reichen von Quellenstudium und persönlichen Gesprächen über ausgedehnte Reisen und Nachforschungen vor Ort bis hin zu kritischer Reflexion und auf Wahrscheinlichkeit gegründete Vermutungen. Die Vorstellung, antike Autoren verarbeiteten ausschließlich eine ‚literarische Erzählkultur‘, die Historie und Mythos unreflektiert miteinander verband und – im Gegensatz zur modernen Geschichtswissenschaft – kein echtes Bewusstsein für die eigene Historizität und die der berichteten Geschehnisse hatte, kann so nicht mehr aufrechterhalten werden.“15
Eine schwierige Alternative
Nun kann dieser Artikel keine ausführliche, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Analyse des antiken Geschichtsverständnisses liefern. Aber die hier aufgeführten Zitate zeigen: Das weit verbreitete und oft leider unreflektiert und ohne genauere Begründung weitergegebene Narrativ vom fehlenden Geschichtsbewusstsein und von der mangelhaften Unterscheidung von Geschichte und Legende in der Antike ist in dieser generellen Form nicht haltbar – erst recht nicht in Bezug auf die biblischen Texte. Es gab auch in der damaligen Zeit Autoren, die klar unterscheiden wollten und konnten zwischen Geschichte und Mythos, zwischen Fakt und Fiktion. Sie machten diese Unterscheidung in ihren Schriften deutlich und legten Wert auf den Unterschied.
Wer Berichten des Alten und Neuen Testaments trotzdem die historische Glaubwürdigkeit abspricht, steht damit zwangsläufig vor folgender Alternative:
Es fehlen die Argumente, warum die biblischen Autoren keine reale Geschichte schildern wollten, wenn doch ihre Texte in vieler Hinsicht historischen Charakter haben.
Die Argumente für eine historische Aussageabsicht müssten durch andere Argumente entkräftet werden. Es müsste aus dem jeweiligen Text heraus begründet werden, warum der biblische Autor keine reale Geschichte schildern wollte, obwohl der Text keinen dichterischen Charakter hat, sondern viele Merkmale historisch gemeinter Texte enthält wie z.B. Ahnentafeln, Maßangaben, Naturbeschreibungen, Zeit- und Jahresangaben. Der Schiffsbauprofessor Jan Hartmann hat jüngst sogar nachgewiesen, dass die in der Bibel dokumentierten Angaben zu den Maßen und der Beschaffenheit der Arche die Anforderungen an Längsfestigkeit, Querfestigkeit, Torsion, Stabilität und Seeverhalten optimal erfüllt. Obwohl er sich selbst unsicher ist, ob und inwieweit es tatsächlich eine Arche gab, lässt ihn dieses Ergebnis davon ausgehen, dass der biblische „Bericht einen Hintergrund hat, der weit über die Art eines Mythos hinausgeht.“16 Auch dazu müssten die Verfechter einer rein metaphorischen Aussageabsicht Erklärungen finden.
Andernfalls müsste man ehrlicherweise offen von Fehlern der biblischen Autoren sprechen, denn sie hätten sich dann in ihrer historischen Aussageabsicht geirrt. Das gilt sowohl für die Autoren der biblischen Erzählungen selbst als auch für die neutestamentlichen Autoren, die diesen Texten einen historischen Wert beigemessen haben. Und wichtig ist dabei: Diese Fehler wären eben nicht nur historischer, sondern auch theologischer Art, weil – wie oben dargelegt – die Geschichtlichkeit ein wichtiger Bestandteil ihrer Theologie darstellt. Das traditionelle Verständnis von der Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Schrift wäre damit aufgelöst. Stattdessen müssten außerbiblische Kriterien definiert werden, um unterscheiden zu können, welche Teile der Schrift in welchem Sinn noch als wahres Gotteswort gelten können – ein oft unternommener Versuch, der bislang allerdings nie zu einem tragfähigen, breit akzeptierten Ergebnis geführt hat.
Warum die Kirche der Aussageabsicht der Bibel vertrauen sollte
Wer keine dieser beiden Alternativen für tragfähig hält, dem bleibt letztlich nur, der Schrift auch in ihren historisch gemeinten Aussagen zu vertrauen. Diese Position hat die kirchliche Theologie 1800 Jahre lang weitgehend dominiert. In großen Teilen der weltweiten Kirche gilt dieses Bibelverständnis bis heute ganz selbstverständlich. Man ist also alles andere als ein Exot, wenn man sich zu diesem Weg bekennt, zumal es für diese Sichtweise auch aus den Wissenschaften durchaus viele ermutigende Signale gibt. So schrieb der britische Archäologe und Ägyptologe Kenneth A. Kitchen:
„Die biblischen Texte sind in hohem Maße historisch zuverlässig. Dies lässt sich in Bezug auf das geteilte Reich, das Exil und die Rückkehr […] sehr gut zeigen. Dort, wo sich passende Daten miteinander vergleichen lassen, kann man dies konkret feststellen. Dieses Faktum sollte jeder zugestehen, egal von welcher Stelle er persönlich ausgeht.“17
In dem beeindruckenden Film „Patterns of evidence“ berichten zahlreiche Experten über die vielfältigen Fakten, die die oft bezweifelte biblische Geschichtsschreibung stützen. Selbst der sonst so religionskritische Spiegel berichtet in seiner Osterausgabe 2018 von zahlreichen neuen Indizien, die die Historizität der biblischen Passionsberichte so sehr stützen, dass dies „Skeptikern kaum gefallen“ kann.18
Und Axel Schwaiger schreibt:
Es gibt durchaus Indizien und Belege dafür, dass die Menschen damals die Flut völlig selbstverständlich als echtes Geschehen voraussetzten. Dazu gehören nicht nur älteste sumerische Königslisten, die die Könige „vor der Flut“ von denen „nach der Flut“ unterscheiden (wie das ‚Weld-Blundell-Prisma‘ um 2100 v.Chr.), oder die ältesten Epen, in denen die Flut den Erzählhintergrund bildet (z.B. Atrachais- und Gilgamesch-Epos). Dazu gehören auch vorliegende Keilschriften altorientalischer Herrscher, die (wie selbstverständlich) auf die Flut als historisches Geschehen Bezug nehmen. So z.B. Assurbanipal: „Ich verstehe die rätselhaften, in Stein gemeißelten Worte aus den Tagen vor der Flut“, oder auf einem Tonzylinder des Nebukadnezar: „Die Menschen hatten das Werk [des Turmbaus] verlassen seit den Tagen der Flut“. Auch Textstellen in der „Babyloniaká“ des babylonischen Priesters Berossus (um 290 v.Chr.) sprechen noch fast beiläufig von Geschehnissen rund um die Flut, so dass dem (vorsintflutlichen) König Xisthros befohlen worden war, Schriften in Sippara zu vergraben und sie nach der Flut wieder auszugraben und dass „man noch heute auf dem Gebirge der Kordyäer in Armenien Reste von dem Schiffe sieht und das abgekratzte Pech als Heilmittel dient.
Die mehr als 260 Sintflutberichte machen deutlich, dass in vielen Stämmen und Völkern die Erinnerung an eine weltweite große Flut bewahrt worden ist, freilich oft mit Änderungen.
Auch die mehr als 260 Sintflutberichte, die Heinrich Lüken Mitte des 19. Jahrhunderts zusammentrug19‚ machen deutlich, dass in vielen Stämmen und Völkern die Erinnerung an eine weltweite große Flut bewahrt worden ist, freilich oft mit Änderungen, die jeweils auf das spezifische Lebensumfeld der Volksgruppe zugeschnitten sind. Dass mit diesen Erinnerungen später unterschiedliche theologische Intentionen verbunden wurden, ist sehr wahrscheinlich, aber sie heben die Historizität des eigentlichen Erzählkerns nicht auf.20
Es gibt also auch heute für Christen keinen Grund, sich vom reformatorischen Prinzip des „Sola scriptura“ zu verabschieden. Wir dürfen fröhlich daran festhalten, dass nach Berücksichtigung von Vernunft, Wissenschaft, Erfahrung, Auslegungstradition und Wirkungsgeschichte am Ende die Schrift selbst das letzte Wort für das richtige Verständnis ihrer Texte haben muss. Die Bibel muss sich selbst auslegen und selbst entscheiden, wie sie zu verstehen ist.21 Oder, wie es Timothy Keller ausdrückt:
„Wenn wir die Autorität der biblischen Autoren respektieren wollen, dann müssen wir sie so verstehen, wie sie verstanden werden wollen.“22
Wenn man sich weigert, einen biblischen Autor wörtlich zu verstehen, obwohl er ganz klar so verstanden werden will, entfernt man sich vom traditionellen Verständnis von biblischer Autorität.
Denn es bleibt nun einmal nicht ohne Konsequenzen, wenn man die Geschichtlichkeit der historisch gemeinten biblischen Texte in Frage stellt: „Paulus […] wollte definitiv sagen, dass Adam und Eva historische Personen sind. Und wenn man sich weigert, einen biblischen Autor wörtlich zu verstehen, obwohl er ganz klar so verstanden werden will, entfernt man sich vom traditionellen Verständnis von biblischer Autorität. Wie schon gesagt heißt das nicht, dass man nicht trotzdem einen starken und lebendigen Glauben haben kann. Aber ich bin überzeugt, dass eine solche Position sich für die Kirche als ganze schädlich auswirken kann und ganz sicher bei vielen Christen zu Verwirrung führt.“23 Die Geschichte der Theologie der letzten 2 Jahrhunderte, ihre Verwirrung in Bezug auf praktisch alle zentralen Glaubensinhalte des Christentums24 sowie das weltweite Schrumpfen aller von liberaler Theologie geprägten Kirchen, die die historische Glaubwürdigkeit der Schrift verworfen haben, unterstreichen die These Kellers eindrücklich. Es ist deshalb höchste Zeit, dass eine verantwortungsvolle Theologie der Bibel auch in ihren historisch gemeinten Aussagen wieder neu vertraut.
Herzlichen Dank für alle Mithilfe, sowie Hinweise und vielfältige Anregungen zur Verbesserung dieses Artikels an:
Dr. Reinhard Junker – Leiter der Studiengemeinschaft Wort und Wissen
PD Dr. Peter Van der Veen – Alttestamentler und biblischer Archäologe
Dr. Axel Schwaiger – Historiker und Autor, Öffentlichkeitsreferent der Stiftung Bibel Liga
Dr. Jürgen Spieß – Althistoriker, Gründer und ehemaliger Leiter des Instituts für Glaube und Wissenschaft
Dr. Walter Hilbrands – Alttestamentler, Dekan der Freien Theologischen Hochschule, Gießen
Der Spiegel 50/1999 ↩
Prof. Thorsten Dietz im „idea-Streitgespräch“, idea 2018 Nr. 29/30 ↩
Prof. Siegfried Zimmer in „Haben Adam und Eva wirklich gelebt“ S. 2 ↩
ebd., S. 22 ↩
Entsprechend hält auch Papst Benedikt XVI. in seinem Buch „Jesus von Nazareth Band III“ (2012) die Geburts- und Kindheitsgeschichten Jesu zwar für „im Glauben gedeutete Geschichte“, aber eben doch auch für Geschichte. ↩
Timothy Keller, Adam, Eva und die Evolution, Gießen 2018, S. 33 ↩
Reinhard Junker in „Entmythologisierung für Evangelikale: Haben Adam und Eva wirklich nicht gelebt?“ Veröffentlicht in „Genesis, Schöpfung und Evolution“ Hrsg. Reinhard Junker, Holzgerlingen 2015, S. 244 ↩
So schreibt N.T. Wright in seinem Kommentar zum Römerbrief: „Paulus glaubte offensichtlich, dass es ein erstes Menschenpaar gegeben hat, dessen männlichem Vertreter, Adam, ein Gebot gegeben worden war, das er brach. Paulus war sich, davon können wir ausgehen, auch der Aspekte der Geschichte bewusst, die wir mythisch oder metaphorisch nennen könnten. Aber diese Aspekte hätten für ihn keinen Zweifel an der Existenz und der Ursünde des ersten geschichtlichen Menschenpaars aufkommen lassen.“ In „Romans“ in: The New Interpreter’s Bible, Bd. X, 526, zitiert in Keller, Adam, Eva und die Evolution, S. 31 ↩
Keller, Adam, Eva und die Evolution, S. 35 ↩
“Diejenigen, welche sich der Geschichtsschreibung befleißigen, tun dies nicht aus ein und denselben, sondern aus vielfachen, meist unter sich verschiedenen Beweggründen. Denn einige gehen an diese Art Arbeit, um ihre Redegewandtheit leuchten zu lassen und dadurch berühmt zu werden, andere, um denen zu gefallen, über die sie schreiben. […] Wieder andere treibt ein gewisser Zwang, die Ereignisse, deren Zeugen sie waren, schriftlich vor Vergessenheit zu bewahren; viele auch veranlasst die Erhabenheit wichtiger, im Dunkel verborgener Tatsachen, diese zum allgemeinen Besten zu erzählen. Von den genannten Beweggründen sind für mich die zwei letzten in Betracht gekommen.” Josephus, Ant I 1-3 (= Prooem.); übers. Heinrich Clementz ↩
Porphyrius in „Gegen die Christen“ Buch XII ↩
Armin D. Baum in „Einleitung in das Neue Testament“ S. 307 ↩
ebd. S. 311-312 ↩
Keller, Adam, Eva und die Evolution, S. 29 ff ↩
Aus einer persönlich übermittelten aktuellen Stellungnahme zum Buch von Thorsten Dietz „Weiterglauben“ sowie zum „idea-Streitgespräch“ in idea 2018 Nr. 29/30; vgl. dazu u.a. Klaus E. Müller: Geschichte der antiken Ethnologien, Hamburg 1997; Volker Reinhardt: Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997; Wolfgang Will: Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015 ↩
Jan Hartmann in „Arche Noah 2017 – Ein Beitrag zur Technikgeschichte“ 2017, S. 16 ↩
Kenneth A. Kitchen, Das Alte Testament und der Vordere Orient. Zur historischen Zuverlässigkeit biblischer Geschichte, Gießen 2008, S. 648 ↩
In: „Erforscht: Die letzten Tage des Jesus von Nazareth“ Der Spiegel, Ausgabe Nr. 14 / 31.3.2018 ↩
Heinrich Lüken „Die Traditionen des Menschengeschlechts oder die Uroffenbarung unter den Heiden“, Münster 1869 ↩
Aus einer persönlich übermittelten aktuellen Stellungnahme zum Buch von Thorsten Dietz „Weiterglauben“ sowie zum „idea-Streitgespräch“ in idea 2018 Nr. 29/30 ↩
Dieses Prinzip wird ausführlich erläutert in meinem Artikel „Ist die Bibel unfehlbar?“ http://blog.aigg.de/?p=4212 ↩
Keller, Adam, Eva und die Evolution, S. 16 ↩
ebd., S. 32 ↩
Mein Artikel „Das Kreuz – Stolperstein der Theologie“ dokumentiert, wie diese Verwirrung auch den innersten Kern der christlichen Botschaft betrifft. http://blog.aigg.de/?p=3887 ↩