Frage:
Warum ergänzt Jesus in seiner Lesung in der Synagoge (Lk 4,18) den Versteil „und Blinden, dass sie sehen sollen“ obwohl dieser Teil nicht in der vorgelesenen Stelle in Jesaja 61 geschrieben steht?
Antwort:
Die in Lukas 4,14-30 beschriebene Situation zeigt Jesus in seiner Heimatstadt Nazaret, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Jesus steht nach seiner Versuchung am Anfang seines öffentlichen Wirkens. Als er in die Synagoge zum Synagogengottesdienst am Sabbat geht, darf er, wie es jedem jüdischen Mann zugestanden werden konnte, aus der Schriftrolle lesen. An diesem Tag aus Jesaja. Der Text in Lukas macht den Eindruck, als ob Vers 18 und 19 der Bibeltext sei, den Jesus aus der Schriftrolle direkt vorlas. Er ist dem Text in Jesaja 61,1-2a auch sehr ähnlich, sieht man einmal davon ab, dass zur Sendung des Gottesknechtes im Jesajatext nicht gehört, dass er den Blinden verkünden soll, dass sie wieder sehen werden.
Das Thema Blindenheilung kommt allerdings im Buch Jesaja an anderer Stelle vor und ist dort auch mit dem Handeln des Messias bzw. der messianischen Zeit verbunden:
An jenem Tag werden die Tauben die Worte des Buches hören, und aus Dunkel und Finsternis hervor werden die Augen der Blinden sehen. (Jes 29,18)
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. (Jes 35,5)
Dass dieses Handeln des Messias Gottes als Erkennnungszeichen wichtig ist, wird auch an der Antwort deutlich, die Jesus dem fragenden Täufer Johannes übermitteln lässt:
Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und verkündet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, Aussätzige werden gereinigt, Taube hören, Tote werden auferweckt, Armen wird gute Botschaft verkündigt! (Lk 7,22)
Lukas 7,22 ist offenbar ein Sammelzitat, dass sich aus Jesajastellen zusammensetzt. Jes 26,19; 29,18; 35,5 und 61,1 sind darin zusammengezogen. Solche Sammelzitate waren offenbar nicht ungewöhnlich und konnten sogar aus verschiedenen Bibelbüchern stammen.
Es wäre also erstens möglich, dass wir es bei Lukus 4,18-19 mit einem Sammelzitat zu tun haben, das wie im späteren Kapitel einfach zusammengesetzt wurde.
Ich halte diese Variante für nicht so wahrscheinlich, weil es in der Synagoge sehr wohl darum ging, dass Jesus einen zusammenhängenden Text vorgelesen hat. Einen Hinweis darauf, dass Jesus vielleicht eine ältere Handschrift benutzte, in der die Blinden vorkamen, gibt es nicht. Der uns vorliegende hebräische Text scheint sehr gut überliefert.
Es spricht aber viel dafür, dass Jesus eben nicht nur die beiden Verse las, die uns Lukas überliefert, sondern einen längeren Wochenabschnitt, wie er bis heute in Synagogengottesdiensten gelesen wird. Am besten passt, wenn man das vorhergehende Kapitel 60 zu der Lesung dazunimmt. Dort heißt es:
Jesaja 60,1-4: Steh auf, werde licht! Denn dein Licht ist gekommen, und die Herrlichkeit des HERRN ist über dir aufgegangen. 2 Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völkerschaften; aber über dir strahlt der HERR auf, und seine Herrlichkeit erscheint über dir. 3 Und es ziehen Nationen zu deinem Licht hin und Könige zum Lichtglanz deines Aufgangs. 4 Erhebe ringsum deine Augen und sieh!
Das Motiv der Blindheit kommt hier auch vor, wenn auch nicht als körperliche Einschränkung, sondern durch allgemeine Finsternis hervorgerufen. Jes 29,18 hat beides miteinander verbunden.
Auch Jes 60,22b spricht dafür, dass Jesus einen längeren Abschnitt las, denn dort steht:
Ich, der HERR, will es zu seiner Zeit eilends ausrichten.
Und Jesus leitet seine Rede über die Erfüllung der Prophetie mit der Zeitangabe ein (Lk 4,21):
Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.
Wir hätten in Lk 4 dann auch ein Sammelzitat im Sinne einer Zusammenfassung einer Lesung von Jesaja 60,1 mindestens bis 61,2, vielleicht auch darüber hinaus. Lukas hat diese Lesung zusammengefasst wiedergegeben, um das Wichtigste zu unterstreichen. So wäre dann auch das Fehlen des „Tags der Rache“ aus Jes 61,2b sinnvoll zu erklären.
Es kommt noch etwas dazu. Es ist nicht auszuschließen, dass Jesus nicht aus einer hebräischen Jesajarolle las, sondern aus einem Targum. Das waren Übersetzungen von Abschnitten aus dem Hebräischen, das zur Zeit von Jesus nicht mehr alle verstanden, in das Aramäische, was die Alltagssprache auch in Nazareth neben dem Griechischen gewesen sein dürfte.
Die uns überlieferten Targume aus der Zeit von 200 v. Chr. bis 500 n. Chr. sind manchmal ziemlich genaue Übersetzungen, aber manchmal auch freie Übertragungen, die auch Kommentare oder Erklärungen eingefügt haben. Es wäre deswegen auch möglich, dass Jesus in der Synagoge solch ein Targum vorgelesen hat, das eine aramäische Übersetzung von Jes 60/61 war und eventuell die Ergänzung enthielt, die wir heute im Lukastext haben.
Es bleibt festzuhalten, dass es ein wichtiges Handeln des Messias war, dass er Blinde sehend gemacht hat. Das war einerseits ein ungewöhnliches Wunder, das sonst nicht vorkam (Joh 9,31-32). Aber es ist andererseits auch ein Bild für die Blindheit der Menschen, die das helle Licht des Evangeliums nicht sehen, selbst wenn es vor ihren Augen hell strahlt. Das macht Johannes 9 sehr deutlich und darauf bezieht sich auch Paulus in 2Kor 4,4.