Christen sind heutzutage gelegentlich ein schwieriges und mitunter denkfaules Völkchen geworden. Sie wollen oft nur noch ein Buch (oder nur noch eine Information aus dem Internet) „lesen“ (am besten aber einen sehr kurzen Text!), wenn in der zu lesenden Publikation etwas „Praktisches“ drinsteht, im Sinne von: „Was soll ich machen? Wie soll ich Kinder und Jugendliche mit dem Glauben an Jesus vertraut machen? Wie evangelisiere ich am besten Menschen aus fremden Kulturen, zehn praktische Schritte? Wie gestalte ich Gemeindegottesdienste? Wie erreiche ich meine Nachbarn mit dem Evangelium? Wie können wir als Gemeinde Menschen in Not helfen? Wie sollen wir ethisch leben und was dabei im Verhalten vermeiden? Was darf ich tun, was nicht? Was lerne ich von den Schicksalsschlägen und Lebensführungen anderer Christen? Welche geschriebene christliche Biographie kennt meine Sorgen und Probleme, die ich auf mich beziehen kann?“ Das ist „In“.
Das kann man „Pragmatismus und Ethik“ als Hauptthemen unter Christen nennen. Es scheint mittlerweile alles zu sein, worauf es im „echten“ Christsein und für das Gemeindeleben vor Ort ankommt, so kann man gelegentlich (etwas frustriert) den Eindruck gewinnen. Und nur solche Bücher und Texte werden dann noch sorgfältig studiert und gelesen, die solche Lebensfragen beantworten bzw. die sie zu beantworten versuchen. Ist diese Einschätzung übertrieben oder überzeichnet? Vielleicht. Doch ein (großes) Körnchen Wahrheit steckt in dieser Übertreibung, befürchte ich.
Über Jahrhunderte hinweg spielte für die, die „mit Ernst Christen sein wollten“, das „Nach-Denken“ und Überlegen und das konkrete „Wissen über Gott und die Welt“ eine mindestens genau so große Rolle, wie das Tun oder das Verhalten. Es wurde tiefgründig und ernsthaft gefragt: Wer ist Gott? Wie kann Jesus Gott und Mensch zugleich sein? Wie ist der eine Gott als „drei in eins“ zu erklären? Wie geschieht Erlösung? Brauchen wir als Christen das Alte Testament noch als Heilige Schrift? Was sind falsche Lehren, die sich zwar christlich anhören, aber nicht gemäß dem Evangelium wahr sind? Und wie kann man dieses von den anderen unterscheiden und wie ist Wahrheit gegen Irrtum zu verteidigen? Davon, von solchen kompliziert klingenden Fragen, ist heute bedauerlicherweise oftmals nicht mehr viel in christlichen Ortsgemeinden wahrzunehmen, befürchte ich. Oder doch?
Wie dem auch sei, das „Nach-Denken“ und das „Wissen“ über christliche Glaubensdinge muss „heute“ und stets in jeder Generation der Christenheit wieder auf die Tagesordnung in den Gemeinden gesetzt werden, und zwar für alle Christen, egal mit welchem Bildungsstand, verankert als Trainingsfeld für alle Christen, weil die Lehre und der Inhalt des christlichen Glaubens und die Erkenntnis Gottes sehr viel zu tun hat mit „Nachdenken und Wissen“, das Gott in der Hl. Schrift uns mitgeteilt (also offenbart) hat. Denn selbst das, was ich als Christ tun soll, muss doch zuvor abgewogen und durchdacht werden, ob ich etwas tun soll und wie es und wie es nicht ausgeführt werden soll. Es gibt nämlich nicht nur Häresie (Irrlehre) als Abkehr von der Wahrheit in der Lehre, sondern nicht minder häufig auch die Häresie im Tun als Abkehr von der Wahrheit in der Moral, die jedoch nur durch Abwägen, durch Nachdenken und durch prinzipielles Schlussfolgern mit Argumenten erklärt werden kann (siehe die Art und Weise des Apostels, wie er z.B. im Galaterbrief oder im 1. Korintherbrief seine Argumente aufbaut und vorträgt. Das hat dort sehr viel mit Abwägen, Nachdenken, Begründen und Schlussfolgern zu tun. Das will aber geübt sein!).
Deshalb ist es sehr gut und wertvoll, dass die Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg den Mut gefasst hat, Vorträge und Beiträge von David Gooding und John Lennox aus dem Englischen übersetzen zu lassen und diese dann in vier stattlichen Bänden herauszugeben, die sich primär mit dem „Nach-Denken“ über Glaubenssachen beschäftigen, die sich also auf intellektueller Ebene argumentativ über das Menschsein und das Christsein gute Gedanken machen. Hut ab vor diesem Projekt! Sehr gut! Das Projekt ist deshalb gut, weil ausdrücklich auch das durchschnittliche Gemeindeglied adressiert und entsprechend ermutigt wird, durch die Inhalte der Bücher neu oder wieder das sorgfältige Nach-Denken als Christen über ihren Glauben einzuüben. Schon das ist ein Grund des Lobes.
David Gooding / John Lennox. Was können wir wissen? Können wir wissen, was wir unbedingt wissen müssen? Die Suche nach Wirklichkeit und Bedeutung 2 Dillenburg 2020, 443 Seiten, EUR 24,90.
Weil zu Band 1 der Reihe bereits einiges an anderer Stelle geschrieben wurde (siehe Buchbesprechungen dazu), will ich mich nun speziell auf den Inhalt des 2. Bandes konzentrieren, der den Titel trägt: „Was können wir wissen?“ Ein fulminanter Titel, benennt er doch eine zentrale Menschheitsfrage schlechthin! Was können wir (Menschen) wissen, was wir unbedingt wissen müssen (zum Leben und zum Sterben, möchte man gedanklich ergänzen). Diese und ähnliche Frage haben alle Menschen, aller Kulturen, zu allen Zeiten gestellt. Die jeweiligen Antworten darauf fielen bekanntermaßen unterschiedlich aus, Mal mehr naiv-mythologisch, mal hoch kompliziert und philosophisch abstrakt. Doch diese Frage des Titels bewegte alle Menschengeschlechter bis in die Tiefen ihrer Seele. Sie ist eine existentielle Grundfrage des Menschseins. Und sie gehört zugleich in das wissenschaftlich-philosophische Wissensgebiet der sog. „Erkenntnistheorie“, die zu dem gehört, was grundsätzlich in jeder Wissenschaft geklärt werden muss, bevor man überhaupt irgendetwas anderes aussagen oder schlussfolgern kann.
Bevor wir uns den von den beiden Autoren gegeben Antworten im Buch widmen, sei empfohlen, dass jeder Leser, jede Leserin sich folgende Anfangskapitel gründlich durchliest „Wozu dieses Buch?“ (S. 7-8), „Vorwort zur Serie“ (S. 11-15) und „Einführung in die Serie“ (S. 21-62). Diese Überlegungen sind „Gold wert“, wenn es darum geht, sein eigenes Denkorgan, das Gehirn, auf das im Buch inhaltlich Folgende einzustimmen und ggfs. neu zu justieren, weil man es eventuell schon lange nicht mehr so intensiv mit Menschheits- und Existenzfragen gefüttert hatte, die um vernünftige und plausible Antworten der eigenen Existenz ringen. Bis S. 62 sollte man sich durchaus mit der Lektüre Zeit nehmen und sich ehrlich prüfen, ob man wirklich mental darauf eingestellt ist, was im Darauffolgenden an lebenswichtigen Gedankengängen durchdacht werden soll, wie sich also beispielsweise eine Weltanschauung entwickelt und vieles mehr. Und dann geht man über in den faszinierenden Bereich der sog. „Erkenntnistheorie“, dem Feld, das beim Betreten die gewichtige Frage stellt: „Was können wir (als Menschen) überhaupt wissen?“
Ab da (S. 66ff.) nehmen uns Gooding und Lennox dann an die Hand und führen uns gedanklich in komplexe Denksysteme hinein, die auch für Christen „heute“ absolut wichtig zu wissen sind. Die Darstellung im Text überfordert bei aller Komplexität der Fragestellungen nicht, sondern sie bleibt stets gut verständlich und für normal gebildete und wissbegierige Leser verhältnismäßig leicht nachvollziehbar. In drei große Themenbereiche ist das Buch gegliedert, in: „Wie können wir überhaupt etwas wissen?“ (S. 63-186), „Was ist Wahrheit?“ (S. 187-256) und „Postmodernes Denken“ (S. 257-319). Diese drei Oberkapitel werden durch 10 fortlaufende Unterkapitel mit jeweils zugeordneten Themenbereichen unterteilt, z.B. 1. Wie wir die Welt wahrnehmen, 4. Vernunft und Glaube oder 10. Postmoderne und Wissenschaft, Beiträge, die an Vorträgen usw. von Gooding und Lennox angelehnt sind.
In diesen 10 Unterkapiteln der drei Hauptkategorien wird eine Fülle Menschheitswissen reflektiert. Stets beginnen die Kapitel mit prinzipieller Allgemeinbildung und generellem Wissen zu Phänomen des Menschseins, der Welt, der Beobachtungen von Wirklichkeit usw., um dann in guter apologetischer Manier von dort her die Bezüge zur biblischen Erkenntnis und zum christlichen Glauben herzustellen. Die Art und Weise, wie Gooding und Lennox das jeweils „vortragen“, ist didaktisch gut aufgearbeitet und entfaltet und von der Struktur her plausibel aufgebaut. Gewiss, es kommen philosophische Begriffe vor, die man aus dem normalen Alltag so nicht unbedingt kennt. Doch werden alle Begriffe erklärt und illustriert, so dass niemand abgehängt wird.
Dass diese Wissensgebiete, die teilweise zum Studium der Philosophie oder der Philosophiegeschichte gehören, für aktive Christen nicht überflüssig sind, wird Jedem beim Lesen sofort ersichtlich, weil die Bezüge zur eigenen Wirklichkeit stets aufgezeigt und nicht ausgeblendet werden. Beispielsweise die Thesen des Skeptizismus (über Sokrates bis Descartes bis zu uns), die Theorien zur Wirklichkeitswahrnehmung oder Denk- und Deutungssysteme, wie Idealismus und Realismus, Rationalismus und Empirismus, Metaphysik, Vernunft und Glaube oder Dekonstruktivismus haben mit unserem Denken, Wissen und Urteilen in der Gegenwart ganz viel zu tun. Wir Christen sind in unseren Lebensbereichen, die durch diese Fremdworte beschrieben werden, ganz und gar nicht herausgenommen, sondern mittendrin, oft, ohne das zu wissen oder erklären zu können.
Diese Kapitel verdeutlichen deshalb auch, wie und warum wir Menschen/ Christen gegenwärtig oder früher „auf diese Weise, nicht auf jene Weise“ Urteile fällen bzw. gefällt haben oder wieso „wir“ dies „so oder so“ werten bzw. gewertet haben. Das alles hat eben oftmals gar nichts mit unserer biblischen Bildung zu tun (was Christen manchmal zu vorschnell und fälschlicherweise von sich und ihrem Denken meinen), sondern ganz viel mit den „Weltanschauungen“, die uns bewusst oder meistens unbewusst geprägt haben und die uns alle jederzeit „umgeben“. Daher müssen uns Namen, wie Sokrates, Descartes John Locke, David Hume, Immanuel Kant, Hegel oder Marx, Stanley Fish oder Derrida nicht abschrecken. Diese prägenden „Vor-Denker“ zeigen mit ihren Werken des Nachdenkens und Beobachtens und mit ihren jeweiligen Erklärungen vielmehr Grundkonstanten auf, die unsere aktuelle Gegenwart „denkerisch“ und im Schlussfolgern ganz stark mitgeprägt haben. Wie Christen jeweils diese „Weltanschauungen“ entlarven und wie sie sachgerecht auf sie reagieren können, wie sie ggfs. Sichtweisen korrigieren oder ablehnen lernen können, das wird in jedem Kapitel nachvollziehbar und plausibel diskutiert und in den Kapiteln – je nach Themenfeld – erläutert. Eine wahre Fundgrube an Argumenten, Argumentationsketten und überzeugenden Schlussfolgerungen, die jeder Christ gut gebrauchen kann im Umgang mit Nichtchristen, wie bei der vernünftigen Reflexion des eigenen Glaubens.
Als roter Faden fungiert durch das gesamte Buch hindurch das Ringen um und das Finden von „Wahrheit“. Was ist Wahrheit, was ist wahr in der Beobachtung von Wirklichkeit und der Bewertung der Suche nach Sinnhaftigkeit im menschlichen Leben usw.?
Selbst der Anhang „Was ist Wissenschaft?“ (S. 321-357) ist jedem unbedingt zur Lektüre zu empfehlen, weil er sehr lehrreich und den Horizont erweiternd ist. Diese Seiten sollten bewusst nicht übergangen werden, nur weil da „Anhang“ steht. Es handelt sich nicht um ein unwichtiges Anhängsel, sondern dort sind wichtige Gedanken entfaltet worden, die in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft zu verstehen und zu wissen sind. Eine stattliche Anzahl weiterführender Literatur ist dem Leser zum weiterführenden Selbststudium beigefügt (S. 358-397). Sehr nützlich und praktisch anwendbar für Unterrichtssituationen oder zur Prüfung im Selbststudium sind auch die „Fragen für Lehrer und Schüler/ Studenten“ (S. 398-430), die sich auf alle 10 Unterkapitel beziehen, um sich dadurch das Gelernte und Studierte aktiv anzueignen oder das bereits Gewusste zu vertiefen. Didaktisch und pädagogisch sehr wertvoll.
Wem ist das Buch (wärmstens) zu empfehlen? Eigentlich jedem Christen, der über die Welt und seinen eigenen christlichen Glauben tiefer nachdenken will und der bewusst den Verstand gebrauchen will, um die Wirklichkeit zu verstehen, ist dieser Band 2 an Herz zu legen, auch mit dem weitergehenden Tipp, sich die gesamte vierbändige Reihe zuzulegen. Alle Christen, die ein Hochschul- oder Universitätsstudium oder eine höhere Ausbildung absolvieren, sollten diese Bände ebenfalls studieren. Und für jede Gemeindeleitung, für Älteste und Vorsteher in christlichen Ortsgemeinden, sollten diese vier Bände zur Pflichtlektüre gehören, um apologetisch gerüstet zu sein für das, was im Dunst der „Weltanschauungen“ als Einflussnahme vor der Gemeindetüre der Frommen nicht haltmacht.
Klar ist, dass man diesen 2. Band oder auch die übrigen Bände dieser Reihe nicht wie einen Roman von vorne nach hinten durchliest. Vielleicht konzentriert man sich zunächst auf ausgewählte Kapitel oder einzelne Themenstellungen. In jedem Fall wäre ein kontinuierliches, nicht zeitlich gehetztes Erarbeiten der Inhalte dieser wichtigen Bücher wichtiger als ein schnelles Überfliegen, ohne etwas verstanden zu haben.
Wir Christen sind es aus Liebe zu unseren Mitmenschen, die Christus und das Evangelium (oft noch) nicht kennen, schuldig, sie dort abzuholen, wo sie stehen, auch mit ihren Gedanken und mit ihren (nicht selten kuriosen?!) Weltanschauungen, auch intellektuell. Deshalb gehört „Denken und Wissen“ auch zu einer guten Apologetik und diese wiederum gehört als Grundlage zu jeder guten Evangelisations- und Missionsarbeit.
Persönlich wünsche ich diesem Band 2 ganze viele neugierige, interessierte und wissbegierige Leserinnen und Leser im deutschsprachigen Raum. Dieser Wunsch gilt zugleich für die ganze Reihe. Gutes Nach-Denkenkönnen und ausgewogene Urteilsbildung sind faszinierende Bereiche des christlichen Lebens, die in einer post-modernen Epoche als Bereicherung wiederentdeckt werden sollten. Möge der HERR das ermöglichen zum Wohl des Leibes Christi auf Erden.