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Das Überleben der Schwachen verteidigen

Viele Beobachter dachten 1973 nach der Entscheidung des obersten Gerichtshofs in der Sache Roe gegen Wade, dass damit die öffentliche Debatte über ein Recht auf Abtreibung ein Ende haben würde. Die Sache sei nun rechtlich geregelt, dachte man. Aber die Geschichte hat das Gegenteil gezeigt. Die Frage nach der Abtreibung bleibt genauso umstritten, wie sie es immer war. Man hat keinen Konsens erreicht. Wahlen in Amerika zeigen immer wieder, dass die öffentliche Meinung geteilt ist1.

Betrachtet man den gegenwärtigen Stand der Debatte und den Einfluss der Lobby der Abtreibungs­befürworter, so ist es für alle Christen, die für das Lebensrecht der Ungeborenen eintreten – nicht nur für diejenigen, die das in der Politik tun – absolut notwendig, dass sie ihre Überzeugung für den Lebensschutz auf eine Weise vertreten können, die stimmig, glaubwürdig und klug ist. Es ist nicht die Zeit nachzugeben. Wir müssen bereit sein, gute Antworten auf die verbreiteten Argumente zu geben, die sich gegen die Position des Lebensschutzes wenden.

Zwei Voraussetzungen

Bevor wir solche Antworten erarbeiten, müssen wir zwei Punkte festhalten. Erstens sollten wir erkennen, dass es keinen ernsthaften Zweifel darüber geben kann, dass in der Bibel und in der christlichen Tradi­tion die Position für den Lebens­schutz vertreten wird. Die Heilige Schrift lehrt, dass jeder Mensch nach dem Bild Gottes gemacht ist (1Mo 1,27; 9,6; Jak 3,9) und dass einem Menschen das Leben zu nehmen – sieht man von eng begrenzten Ausnahmen ab, die von Gott bestimmt sind –, nicht nur unmoralisch, sondern auch kriminell ist (2Mo 20,13; Mk 10,19; Röm 13,9). Darüber hinaus zeigen viele Bibeltexte, dass menschliches Leben mit der Befruchtung der Eizelle beginnt (Hiob 31,15; Ps 51,5-6; 139,13-16; Jer 1,5). Aus diesen Gründen hat es unter Christen in der Geschichte Übereinstimmung darüber gegeben, dass Abtreibung eine schwere Sünde darstellt. Erst in den letzten 50 Jahren wurde dieser Konsens unter dem Druck einer nachchristlichen Kultur aufgeweicht.

Zweitens, wenn wir auf die Argumente für das Recht auf Abtreibung antworten wollen, muss uns der wesentliche Punkt dieser Debatte völlig klar sein. Die entscheidende Frage, an der die ganze Kontroverse hängt, lautet: Was hat eine schwangere Frau in ihrer Gebärmutter? Was genau meinen wir, wenn wir von dem „Embryo“ oder dem „Fötus“ sprechen? Die richtige Antwort lautet: ein Mensch – in einem frühen Stadium der Entwicklung wohl, aber doch ganz sicher trotzdem ein Mensch. Wir sprechen also über ein neues Mitglied der menschlichen Rasse. Hat man diesen Punkt einmal begriffen, wird es relativ einfach zu erkennen, warum die meisten verbreiteten Argumente für das Recht auf Abtreibung scheitern. Entweder sie verneinen diesen grundlegenden Faktor oder sie scheitern daran, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Das ist auch genau der Grund, warum wir diese entscheidende Frage ins Zentrum der Diskussion stellen müssen.

Antworten auf Einwände

Nachdem diese beiden Punkte festgestellt sind, können wir uns nun damit beschäftigen, auf einige verbreitete Einwände zu antworten.

„Lebensrechtler sind wissenschaftsfeindlich.“

Unsere erste Antwort darauf sollte die Frage sein, was denn an der Position der Lebensrechtler genau im Konflikt mit der Wissenschaft steht. Keine der möglichen Antworten brächte das Gespräch weiter. Die biologischen Fakten über die menschliche Fortpflanzung sind gut gesichert und stimmen ganz mit den Argumenten der Lebensrechtler überein. Die wissenschaftliche Literatur ist einstimmig in der Bestätigung, dass menschliches Leben bei der Befruchtung beginnt, wenn männliche und weibliche Gameten zu einem neuen Organismus verschmelzen, der einen eigenen Chromo­somen­satz besitzt. Der Embryo lebt, ist menschlich und genetisch von seinen oder ihren Eltern verschieden: Es handelt sich um ein neues menschliches Individuum, männlich oder weiblich im frühesten Stadium des Lebens.

Manche Leute denken, die Argumente der Lebensrechtler seien deswegen unwissenschaftlich, weil diese davon ausgingen, dass der menschliche Embryo eine immaterielle Seele hat, was wissenschaftlich nicht bewiesen werden kann. Die Bibel bestätigt, dass der Mensch einen Geist genauso hat wie einen Körper (Mt 10,28). Aber die Argumente der Lebens­recht­ler beruhen gar nicht auf diesem Argument. Es ist ausreichend, anzuerkennen, dass ein neues Leben mit der Empfäng­nis beginnt.

„Der Fötus ist keine Person, bis er ein Gehirn entwickelt hat und sich seiner bewusst wird.“

Gehirne und Bewusstsein entsteht nicht über Nacht. Sie entwickeln sich nach und nach über Monate und sogar über die Geburt hinaus. Es gibt keinen eindeutigen Zeitpunkt, an dem man sagen kann „Nun ist es eine Person!“ Aber Bewusstsein ist für das Personsein auch nicht notwendig. So ist ein Patient im Koma weiterhin eine Person mit allen menschlichen Rechten.

„Die Argumente der Lebensrechtler sind religiöser Natur, aber Religion sollte aus der Politik herausgehalten werden.“

Das Gegenteil ist der Fall: Die Position des Schutzes des Lebens von Ungeborenen beruht nicht auf religiösen Annahmen. Bedenken sie dieses Argument: 1. Es ist unmoralisch, einem Menschen absichtlich das Leben zu nehmen. 2. Abtreibung nimmt ein unschuldiges menschliches Leben. 3. Darum ist Abtreibung unmoralisch. Auch jemand ohne religiöse Überzeugung kann das Argument überzeugend finden. Und die Existenz von einigen atheistischen Pro-Life Gruppen zeigt außerdem, wie wenig überzeugend der Einwand ist.

„Ich bin persönlich für die Bewahrung des Lebens, aber wir sollten unsere moralischen Über­zeugungen nicht anderen aufdrängen.“

Die Ober­flächlichkeit dieses Einwands kann mit der Übertragung dieses Prinzips auf einen anderen Bereich gezeigt werden, z.B.: „Ich bin persönlich gegen Kindermord, aber wir sollten unsere moralischen Ansichten nicht anderen auferlegen.“ Jeder denkt an einige Taten, die so unmoralisch und zerstörerisch sind, dass sie durch Gesetze verboten werden sollten. Die Frage ist also nur, warum Abtreibung nicht eine dieser Taten sein soll.

„Der Staat sollte Moral nicht gesetzlich regeln.“

Dieser Einwand ist genauso irreführend wie der vorhergehende. Alle Gesetzgebung ist motiviert und gerechtfertigt auf der Basis von moralischen Prinzipien. Soll der Staat dann keine Gesetze gegen Mord, sexuellen Missbrauch, Diebstahl und Verleumdung machen? Sicher, nicht jede unmoralische Handlung sollte auch gleich gesetzwidrig sein. Aber das absichtliche Töten eines unschuldigen Menschen sollte doch wohl gesetzlich verboten werden, oder?

„Der Staat sollte eine neutrale Position einnehmen.“

Manche argumentieren, dass die Regierung sich in der Debatte nicht auf eine Seite schlagen sollte, nur ist das in der Praxis offenbar unmöglich. Wenn Abtreibung legal ist, dann hat die Regierung implizit ihren Platz auf der Seite der Abtreibungsbefürworter eingenommen. Und sollte der Staat ebenso eine neutrale Position einnehmen, wenn es um Kindermord oder um Sklaverei geht? Soll eine Regierung wirklich die Freiheit solcher Leute schützen, die ihre nervigen Kleinkinder töten und sich lieber Sklaven halten wollen?

„Das Recht auf Abtreibung ist eine Sache der Geschlechtergerechtigkeit.“

Das Argument leitet sich daraus ab, dass die Konsequenzen der Empfängnis und Schwangerschaft für Frauen viel belastender als für Männer ist. Männer können einer Schwangerschaft einfach davonlaufen, Frauen nicht. Um Gleichberechtigung herzustellen, sollten dann Frauen ihre Schwangerschaft auch zu jeder Zeit beenden können.

Die Prämisse des Arguments ist zweifellos richtig. Aber daraus folgt nicht, dass Abtreibung als moralischer Weg akzeptiert werden muss, um die Ungleichheit zwischen Mann und Frau zu beseitigen. Das Argument verneint völlig die moralischen Rechte der dritten Partei in dieser Situation – das Kind im Bauch der Mutter. Und wieder könnte daraus leicht die Rechtfertigung der Tötung von Kleinkindern abgeleitet werden.

„Frauen haben das völlige Verfügungsrecht über ihren eigenen Körper.“

Alle Menschen haben bestimmte Rechte im Hinblick auf ihren eigenen Körper, aber die falsche Annahme ist hier, dass ein Baby nur ein Körperteil seiner Mutter ist, wie ein Arm oder Bein oder ein Organ. Da wird die Biologie verdreht. Das Baby ist auch ein individueller Mensch mit einer genetischen Identität, die sich von der seiner Mutter und aller ihrer Körperteile unterscheidet. Das ungeborene Kind ist mit der Mutter verbunden und abhängig von ihr um zu überleben, aber der Fötus ist nicht einfach nur ein Teil seiner Mutter. Das Recht der Mutter an ihrem eigenen Körper schließt nicht die Freiheit ein, ihr eigenes Kind zu töten.

„Abtreibung ist eine Sache der Frauen. Da haben Männer kein Recht mitzureden.“

Es stimmt, das Thema Abtreibung betrifft Frauen in einer Weise, wie das für Männer nicht gilt. Zuerst einmal gilt, was jemand schrieb: „Argumente haben kein Geschlecht.“ Wenn ein Argument für das Lebensrecht Ungeborener tragfähig ist, dann ist es das unabhängig davon, wer es vorbringt. Außerdem haben Männer natürlich auch ihren Anteil in der Sache. Väter sind nicht weniger verantwortlich für das Leben ihrer ungeborenen Kinder als Mütter. Jeder Mann war wie jede Frau auch einmal ein ungeborenes Kind, dessen Mutter sich entschieden hat, nicht abzutreiben.

„Was aber soll gelten, wenn das Kind bei einer Vergewaltigung oder durch Inzest gezeugt wurde?“

Es gibt fraglos schwierige Situationen, die mit Mitgefühl und Einfühlung behandelt werden müssen. Keine Frau sollte eine solche Last alleine tragen müssen. Trotzdem kann eine unmoralische Tat nicht die Rechtfertigung für eine andere sein. Dass ein Kind durch eine abscheuliche Schuld gezeugt wurde, macht das Recht des Kindes zu leben nicht zunichte. Hier gerade das Unschuldige zu opfern würde die Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit nur vergrößern.

„Und wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist?“

Auch Abtreibungsgegner sagen, dass in einer solchen Situation, die allerdings sehr selten vorkommt, wir eine Erlaubnis haben zu tun, was das Leben der Mutter oder des Kindes rettet, auch wenn das Ergebnis tragischerweise der Tod des anderen ist. Wenn man sich für einen solchen Weg entscheidet, dann ist der Tod eine unvermeidbare, wenn auch nicht eigentlich beabsichtigte Konsequenz aus dem Versuch das Leben der Mutter oder des Kindes zu retten. Das ist die Position der meisten Lebensschützer, aber bietet keine Rechtfertigung für eine gewollte Abtreibung.

„Wenn sich Lebensschützer so sehr um ungewollte Babys sorgen, warum adoptieren sie sie nicht einfach?“

Das allerdings tun sogar viele Lebensschützer. Aber der Einwand ist in moralischer Hinsicht verwirrend. Wenn Abtreibung eine unmoralische Tat ist, dann geht daraus direkt hervor, dass die Eltern ihr ungeborenes Kind nicht töten dürfen. Aber daraus ergibt sich nicht die moralische Pflicht für andere, ein Kind aufzuziehen, nur weil die Eltern es nicht tun wollen. Wie würden wir urteilen, wenn ein Sklavenbesitzer des 19. Jahrhunderts gesagt hätte: „Wenn sich Gegner der Sklaverei so um das Wohl der Sklaven sorgen, warum bieten sie dann nicht an, an ihrer Stelle auf den Baumwollplantagen zu arbeiten?“

„Lebensschützer sind Heuchler, denn sie setzen sich nicht gleichermaßen für andere Menschenrechte ein.“

Selbst wenn das stimmte, wäre es ein Einwand gegen die Person, der das grundlegende moralische Thema übersteigt. Nehmen wir nur um des Arguments willen an, dass Lebensschützer andere bedrückende Themen der Gerechtigkeit missachten würden. Würde daraus folgen, dass die Position von Abtreibungsgegnern dadurch falsch wird? Würde das z.B. bedeuten, dass menschliches Leben nicht mit der Empfängnis beginnt? Sicher nicht.

Fazit

Ich will zusammenfassen, was ich aus diesen Gründen für den besten Weg halte, auf die Kritik an den Argumenten der Lebensschützer zu reagieren.

1. Halte die entscheidende Frage nach der Natur des Ungeborenen im Zentrum der Diskussion.

2. Stelle die falschen Annahmen hinter den Einwänden heraus.

3. Verdeutliche die moralische Verwirrung in der Argumentation von Abtreibungsbefürwortern, indem Du zeigst, das man mit ihren Argumenten auch Kindermord, Sklaverei oder andere Grausamkeiten rechtfertigen kann.

4. Bete, dass Gott die Köpfe und Herzen öffnet, dass sie zuhören und den wahren Horror der Abtreibung erkennen.


  1. Für Deutschland könnte man in vergleichbarer Weise sagen, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes 1993 zum Paragraph 218 die Debatte nicht beendet hat, wenn sie auch nicht so politisch geführt wurde wie in den USA. Das hat sich in jüngster Zeit aber wieder geändert.