Während man durch ein Gebirge fährt, begrenzen enge Grenzen die Sicht oft auf ein oder zwei Berge. Schaut man das Ganze aber aus einer gewissen Distanz und mit der richtigen Perspektive an, erkennt man den einen Berg als zu einem ganzen Gebirge gehörend. Das ist der einzige Beitrag, den man zum Blick auf ein wunderbares Panorama leisten kann.
Es ist verschiedentlich gesagt worden, dass die Prophetie des Alten Testaments mit diesem Bild erklärt werden kann. Betrachtet man sie aus der Nähe, kann man manchmal die ganze Bedeutung der Prophetie übersehen. Vom richtigen Aussichtspunkt und mit der richtigen Perspektive kann dann aber die ganze Bedeutung eines prophetischen Abschnitts erkannt werden.
So ist es auch mit den Gottesknechtsliedern im Buch Jesaja. Die Abschnitte – Jesaja 42,1-9; 49,1-7; 50,4-9; 52,12-53,12 – beziehen sich auf den Diener des Herrn und jeder kann wie ein einzelner Berg Aufmerksamkeit verlangen, die weiter geht, als was an dieser Stelle möglich ist. Tatsächlich könnte man versucht sein, sich nur mit einem der Lieder zu beschäftigen, ohne die anderen zu beachten. Eine andere Versuchung könnte sein, dass man die einzelnen Abschnitte in den anderen untergehen lässt und dabei vom Sieg in 42,1-9 zum Leiden in 52,13-53,12 hetzt. Der Kurs, den wir hier nehmen, wird sein, jeden Abschnitt erst grob zusammenzufassen, bevor wir einen Schritt zurück treten, um das ganze Panaroma zu bewundern, das entsteht.
Jesaja 42,1-9
Seht, das ist mein Diener, ich stehe zu ihm!
Ich habe ihn erwählt, und ich finde Gefallen an ihm.
Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt.
Er bringt den Völkern das Recht.
Er macht kein Aufheben und schreit nicht herum.
Auf der Straße hört man seine Stimme nicht.
Das geknickte Rohr bricht er nicht durch,
den glimmenden Docht löscht er nicht aus.
Ja, er bringt wirklich das Recht.
Er selbst verglimmt nicht und knickt auch nicht ein
bis er das Recht auf der Erde durchgesetzt hat.
Die Meeresländer warten schon auf sein Gesetz.“
(42,1-4)
Das erste Lied zeichnet den Diener des Herrn, wie er Gerechtigkeit aufrichtet. Die Propheten haben das Volk Gottes oft angeklagt, dass sie ungerecht handeln. Das fand seinen Ausdruck mehrfach darin, dass sie versagten, für die Armen, Witwen und Weisen zu sorgen und sie zu schützen. Der Diener des Herrn aber wird das umgeknickte Schilfrohr nicht abbrechen oder den nur noch glimmenden Docht einfach ausblasen (3). Wie er treu ist, diese Gerechtigkeit aufzurichten, darauf bezieht sich Vers 4 und 5. Die Aufgabe des Dieners bei der Aufrichtung der Gerechtigkeit, was eine der wichtigen Funktionen der Königsherrschaft im antiken Nahen Osten war, klingt an das messianische Königreich an, das im Alten Testament entfaltet wird. Die Ausführung der Gerechtigkeit erweist sich darin, dass ein Gesetz (Torah) hervorgebracht wird, auf das die Völker hoffen. Die Sendung des Dieners als „Licht für die Völker“ ist ausgedrückt im Werk des Knechts Gottes die Augen der Blinden zu öffnen und die Gefangenen zu befreien (6-7). Anders als die schwachen Götzen (8), wird Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, das auch zur Vollendung bringen (5). Zusammenfassend kann man sagen: Aus der Asche der Babylonischen Gefangenschaft wird der Diener des Herrn aufstehen und sein Königreich der Gerechtigkeit aufrichten, das nicht nur zur Hoffnung für Israel wird sondern für alle Völker.
Jesaja 49,1-7
Jetzt hat Jahwe gesprochen,
der mich schon im Mutterleib zu seinem Diener ausgebildet hat,
damit Jakob zurückgebracht
und Israel zu ihm heimgeführt werde.
Bei Jahwe bin ich angesehen;
meine Stärke liegt in meinem Gott.
Er sagte: „Es ist zu wenig, dass du nur mein Diener bist,
um die Stämme Jakobs aufzurichten, zurückzuführen die Verschonten Israels.
Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gemacht,
dass mein Heil das Ende der Erde erreicht.“ (49,6-7)
Es gibt einige Ähnlichkeiten zwischen dem ersten und dem zweiten Lied, das in Kapitel 49,1-7 aufgezeichnet ist. In beiden Liedern ist der Knecht Gottes ein Licht für die Heidenvölker (42,6 und 49,6). Beides Mal werden die Küstenländer erwähnt (42,4 und 49,1). In Jesaja 42,10, das manche noch dem ersten Lied zurechnen, wird gesagt, dass sein Lob die Enden der Erde erreicht. Das wird in 49,6 ähnlich ausgedrückt, wo seine Herrlichkeit bis an die Enden der Erde reicht. In 49,1 lesen wir eine Aufforderung, zuzuhören, die bei Jesaja häufiger vorkommt (46,3.12; 51,1.7; 55,2). Während der Knecht Gottes in 49,3 mit Israel verbunden ist, wird er in Vers 5 von Jakob und Israel getrennt. Die Sendung des Dieners ist, Israel zum Herrn zurückzubringen. Aber der Knecht ist zu großartig, zu herrlich, um nur der Retter Jakobs zu sein. Er will auch das Licht der Völker sein.
Jesaja 50,4-9
Jahwe, mein Herr, gab mir die Zunge von eifrigen Schülern,
denn er zeigt mir, was ich sagen soll, um Erschöpfte aufzurichten.
Er weckt mich jeden Morgen,
er weckt mir auch das Ohr,
dass ich voll Verlangen höre, was er sagt.
Jahwe, mein Herr, hat mich bereit gemacht,
er öffnete mein Ohr.
Ich habe mich nicht widersetzt,
und bin nicht zurückgescheut.
Ich hielt meinen Rücken den Schlägern hin,
meine Wangen denen, die mich am Bart gezerrt.
Mein Gesicht habe ich nicht vor Schimpf und Speichel versteckt.
(50,4-6)
Das dritte Gottesknechtslied zeigt die Treue des Dieners des Herrn (4-5). Aber diese Treue führt zum Leiden (6). Durch das Leiden hindurch erhält und hilft der Herr seinem Diener (7+9). Auch im Angesicht des Leidens bleibt er treu, ganz wie Jesus dem Leiden ins Gesicht gesehen hat, das ihn in Jerusalem erwartete und nicht davor zurückwich, sondern sich entschlossen nach Jerusalem wandte (Lk 9,51). Weil der Herr mit ihm ist, kann der Knecht unerschrocken gegenüber seinen Anklägern sein (Jes 50,8-9). Im Licht seines Werkes wird der Ruf laut, seiner Stimme zu gehorchen und auf den Namen des Herrn zu vertrauen (10). Allerdings warnt Vers 11 auch eindringlich vor dem kommenden Gericht.
Jesaja 52,13-53,12
Wer hat denn unserer Botschaft geglaubt?
Und an wem hat sich die Macht Jahwes so gezeigt?
Wie ein kümmerlicher Spross wuchs er vor ihm auf,
wie ein Trieb aus dürrem Boden.
Er war weder stattlich noch schön.
Er war unansehnlich, und er gefiel uns nicht.
Er wurde verachtet und alle mieden ihn.
Er war voller Schmerzen, mit Leiden vertraut,
wie einer, dessen Anblick man nicht mehr erträgt.
Er wurde verabscheut, und auch wir verachteten ihn.
Doch unsere Krankheit, er hat sie getragen,
und unsere Schmerzen, er lud sie auf sich.
Wir dachten, er wäre von Gott gestraft,
von ihm geschlagen und niedergebeugt.
Doch man hat ihn durchbohrt wegen unserer Schuld,
ihn wegen unserer Sünden gequält.
Für unseren Frieden ertrug er den Schmerz,
und wir sind durch seine Striemen geheilt.
Wie Schafe hatten wir uns alle verirrt;
jeder ging seinen eigenen Weg.
Doch ihm lud Jahwe unsere ganze Schuld auf.
(53,1-6)
Das vierte Gottesknechtlied verbindet diese Stränge miteinander und es wird ganz klar, das der Sieg des Dieners durch Leiden erreicht wird und nicht nur unter Leiden. Der Knecht wird entstellt, geschlagen und verwundet für die Sünden seines Volkes. „Wie Schafe hatten wir uns alle verirrt;/ jeder ging seinen eigenen Weg./ Doch ihm lud Jahwe unsere ganze Schuld auf.“ Sein Leiden aber wird dazu führen, dass viele Völker gesegnet werden und geheilt.
Die Gottesknechtlieder im Neuen Testament
Einige der bemerkenswertesten Fragen im Neuen Testament werden im Hinblick auf die Gottesknechtslieder beantwortet. Ob nun der äthiopische Eunuch Phillipus fragt, ob im vierten Lied Jesaja von sich selbst spricht (Apg 8) oder Johannes, der Täufer, seine Jünger zu Jesus sendet, um ihn zu fragen: „Bist du, der kommen soll? Oder sollen wir auf einen anderen warten?“ (Lk 7,20), die Bedeutung der Lieder kann kaum überschätzt werden. Apg 8,35: „Da begann Philippus zu reden. Er knüpfte an dieses Schriftwort an und erklärte dem Äthiopier das Evangelium von Jesus.“ Jesus antwortete den Jüngern des Johannes mit einer Zusammenfassung seines Dienstes, wie er bei Jesaja vorgezeichnet war (Lk 7,22-23): „Geht zu Johannes und berichtet ihm, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote werden auferweckt, Armen wird gute Botschaft verkündigt. Und glücklich ist der zu nennen, der nicht an mir irre wird.“
Diese Beschreibung nimmt in großen Teilen auf das Werk des Knechtes im ersten Lied Bezug, das das Öffnen der Augen der Blinden und die Befreiung der Gefangenen erwähnt.
Schaut man aus der Nähe auf einen der Berge, mag man nur eine begrenzte Einsicht gewinnen. Tritt man aber einen Schritt zurück, dann erkennt man den Knecht, der den Sieg für die Völker erringt. Aus der Perspektive des Neuen Testaments bewirkt der Knecht Gottes die Vollendung der Erlösung seines Volkes und führt sie in die Königsherrschaft Gottes. Der Knecht löst das Dilemma von Offenbarung 5. Nur Jesus Christus, der Knecht Gottes, kann die Siegel der Buchrolle öffnen und Gottes Wille für Himmel und Erde vollenden. Sein Königreich der Gerechtigkeit wird erreicht durch das grausame Leiden mit dem Ziel, dass das Lob seiner herrlichen Gnade sich auf der ganzen Welt ausbreitet.
Du bist würdig, das Buch zu nehmen
und seine Siegel zu brechen!
Denn du wurdest als Opfer geschlachtet.
Und mit deinem vergossenen Blut
hast du Menschen erkauft,
Menschen aus allen Stämmen und Völkern,
aus jeder Sprache und Kultur.
Du hast sie freigekauft für unseren Gott
und sie zu Mitherrschern und Priestern für ihn gemacht.
Sie regieren in Zukunft die Welt.
Offenbarung 5,9-10