Das Leben des Chirurgieprofessors Schmuel Nissan ist eng verwoben mit der Entstehungsgeschichte des modernen jüdischen Staates. Wenn der großgewachsene, hagere Mann mit dem zerfurchten Gesichtin den Erinnerungen seines Lebens versinkt, tauchen unmittelbar die Namen der Großen Israels im 20. Jahrhundert auf: Josef Trumpeldor, Orde Wingate, David Ben Gurion, Jigal Jadin, Amos Chorev, Jitzchak Ben Zvi, Mosche Dajan, Salman Schasar, Jitzchak Rabin, Ariel Scharon, Teddy Kollek – alle nicht etwa als verschwommene Gestalten aus verstaubten Geschichtsbüchern, sondern als Mitschüler, Zimmergenossen, Kampfgefährten, Studienfreunde, Verwandte, Nachbarn oder Freunde des Hauses. Mit einem Ruck reißt sich der Mittachtziger aus dem zerschlissenen Sessel in seinem gemütlich eingerichteten Haus in Motza vor den Toren Jerusalems, geht auf die Ecke in seinem kleinen Arbeitszimmer zu und zeigt auf ein eingerahmtes Dokument, die Unabhängigkeitsurkunde des Staates Israel: „Da hat mein Vater unterschrieben!“ – Avraham Katznelson – „Und wie ist er nach Tel Aviv gekommen?“ – „Ben Gurion hat ihm eine Piper geschickt, um ihn und Jitzchak Ben Zvi aus dem umkämpften und belagerten Jerusalem zur Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 nach Tel Aviv zu holen.“
Die Eltern von Professor Nissan waren beide Ärzte, hatten beide in Berlin studiert. Als erinnere er sich aus eigener Anschauung berichtet er: „Ich bin hierher gekommen, als meine Mutter im sechsten Monat mit mir schwanger war. Sie hat meinen Vater verlassen, weil sie meinte: Mein Kind soll im Land Israel geboren werden!“ Wenige Monate später wurde er als Schmuel Katznelson in Jaffa geboren, das damals als „Tor zum Heiligen Land“ galt. „Ich erinnere mich noch gut an Jaffo, als die Schiffe dort noch nicht anlegen konnten. Kleine Boote mit schreienden Arabern fuhren den großen Überseedampfern entgegen, um Menschen und Waren an Land zu bringen.“ Die Bilder, die der alte Professor mit Worten zeichnet, verschwimmen und stehen doch irgendwie klar vor Augen. Bis ins hohe Alter stellt er sich gerne auf Arabisch vor: „Ana Jaffawi“ – „Ich stamme aus Jaffa!“
Orde Wingate, der legendäre britische Offizier, dessen Eltern zu den Plymouth-Brüdern
gehörten, trug immer „hier die Pistole und hier die Bibel“
Sobald Vater Katznelson seiner Familie aus Europa nach Palästina nachgereist war, siedelte die junge Familie nach Jerusalem über, wo Schmuel in den Stadtteilen Romema und Rechavia aufwächst. Er erinnert sich nicht nur an das Erdbeben von 1927, sondern auch – heute in der Großstadt Jerusalem kaum mehr vorstellbar – wie Beduinen zwischen den Häusern herumzogen und ihre Ziegen die Rosen in den Gärten abfraßen. Oder auch wie Orde Wingate, der legendäre britische Offizier, der so maßgeblich am Aufbau jüdischer Verteidigungsstreitkräfte im britischen Mandat Palästina beteiligt war, „zu uns nach Hause kam“. „Er war sehr bescheiden, scheu, zurückhaltend“, erinnert sich Nissan an den gläubigen Christen, der „immer hier die Pistole und hier die Bibel trug“ und sich nicht selten auf Hebräisch verabschiedete: „Ich habe eine Bibelstunde, ich muss gehen.“ Von den jüdischen Zionisten wurde Orde Charles Wingate schlicht „HaYedid“, „der Freund“, genannt. Der Spross einer alten schottischen Familie, die weitreichende Verbindungen hatte, und dessen Eltern zur Bewegung der Plymouth-Brüder gehörten, betrachtete es als religiöse Pflicht, dem jüdischen Volk bei der Rückkehr in sein Land und dem Aufbau seines Staates aktiv zu helfen.
Besonders erinnert sich Schmuel Nissan an Orde Wingates Frau Lorna: „Die war sehr schön!“ Sie lebte noch lange, nachdem ihr Mann im März 1944 bei einem Flugzeugabsturz in Indien ums Leben gekommen war, in Palästina. Als Ende der 1940er Jahre Galiläa von der Außenwelt abgeschnitten war, bat sie David Ben Gurion um ein Flugzeug und warf den belagerten jüdischen Soldaten aus der Luft Bibeln ab, um sie zu ermutigen.
Durch seinen Klassenkameraden Jigal Jadin, der 1949 zum Generalstabschef der israelischen Armee wurde, lernt Schmuel Nissan nicht nur „den Umgang mit einem polnischen Maschinengewehr“, sondern auch viel über Archäologie. Anfang der 1960er-Jahre begleitet er ihn auf die damals noch schwer zugängliche Festung Massada zu Ausgrabungen in die Wüste Juda. „In der Synagoge haben wir Schriftrollen entdeckt. Mit großen Augen sah ich, wie ein Neueinwanderer aus dem Jemen eine der uralten Buchrollen vorlas – es war der Psalm 124: Wäre der Herr nicht bei uns – so sage Israel –, wäre der Herr nicht bei uns, wenn Menschen wider uns aufstehen, so verschlängen sie uns lebendig… – Der kann das lesen?!, habe ich mich gewundert.“
In derselben Zeit wurden dort in den Ruinen des legendären jüdischen Widerstands gegen die Römer auch die Kapitel 36 und 37 aus dem Buch des Propheten Hesekiel gefunden: Die Vision von der Erneuerung des Volkes Israel und der Auferweckung des Feldes von Totengebeinen. Und die hebräische Version des apokryphen Buches Jesus Sirach, das bis dahin nur in griechischer Übersetzung vorgelegen hatte. „Jadin zeigte es meinem Onkel Salman Schasar“ – dem späteren Präsidenten des Staates Israel –, erinnert sich Schmuel Nissan.
1942 meldet er sich als Freiwilliger bei der britischen Armee – und kommt in den darauf folgenden vier Jahren als Soldat der jüdischen Brigade über Nordafrika und Italien bis nach Österreich. Besonders eingeprägt haben sich dem jungen Juden aus dem britischen Palästina die Begegnungen mit den Überlebenden der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager, mit jüdischen Hafenarbeitern aus Saloniki, deren Aufgabe es gewesen war, die Leichen aus den Gaskammern zu räumen – und dann die Frage, warum Briten oder Amerikaner nicht die Bahnlinien nach Auschwitz bombardiert haben, um dem Völkermord der Nazis Einhalt zu gebieten.
„Von Dr. Mordiner, dem Direktor meiner Schule, hatte ich zum Abitur eine Bibel bekommen“, knüpft Professor Nissan noch einmal an die Bibel Orde Wingates und das Bibelflugzeug seiner Frau Lorna an. „Als ich dann in die Armee kam, sagte man mir, dass von derlei Dingen nichts übrigbleiben würde. Deshalb ging ich in Ismailia in Ägypten in einen Fotoladen und verlangte eine Fototasche.“ ‚Was kostet die?‘, fragte ich den arabischen Händler. ‚Zehn Guineen!‘ war die Antwort, worauf ich konterte: ‚Schämst du dich nicht! Das ist ein heiliges Buch!‘ Sofort lenkte er ein: ‚Guinea wachad‘ – ‚Gib mir eine Guinea!‘“ Nissan erhebt sich und holt das alte, ihm so teure Buch: „Sieh, wie es in die Hülle passt, wie angegossen. Die ist aus Ismailia, von 1942.“
Mit der Bibel in der Hand fängt der alte Mann an zu erzählen: „Die hat mich begleitet durch den ganzen Krieg in der Wüste bis nach Italien. In Rom bin ich mit dieser Bibel unter dem Titusbogen durchgegangen, auf dem die Niederlage meines Volks dargestellt ist. Ich musste denken: Und jetzt stehen wir hier, jüdische Soldaten in der britischen Armee unter dem Davidsstern … der Kreis hat sich geschlossen. Wir sind zurückgekehrt, nach Rom und nach Jerusalem, mit der Bibel, von deren Worten keines hinfällt.“ Die jüdische Gemeinde in Rom hatte einen Club für jüdische Soldaten eröffnet und Buchzeichen aus Seide gemacht. Nissan schlägt das Buch auf und zeigt das Buchzeichen mit einer Menorah, einem siebenarmigen Leuchter, darauf. „Diese Bibel war dabei in den Alpen, als wir die Überlebenden des Holocaust befreit haben…“ Er blättert darin: „Sieh, hier steht ‚Schmuel Katznelson von Dr. Moliner‘… Das habe ich alles noch… Ich lese in dieser Bibel, bis heute!“
Nach der Entlassung aus der britischen Armee 1946 kehrt Schmuel Nissan in sein Heimatland zurück, das immer mehr im Bürgerkrieg zwischen Juden, Arabern und Briten versinkt. Ein Jahr lang studiert er Medizin, fliegt in die Schweiz, um dort sein Studium fortzusetzen. Doch schon bald kehrt er über Italien auf abenteuerlichen Wegen in die Heimat zurück, um feststellen zu müssen, dass sein Elternhaus in Jerusalem zerstört ist, „von zwei Granaten – die eine aus Ramat Rachel, die andere aus Nabi Samuel – die eine jordanisch, die andere ägyptisch.“
In die Zeit unmittelbar vor der Gründung des Staates Israel fällt ein Ereignis, das für Schmuel Nissan persönlich besonders traumatisch war: Am 13. April 1948 werden bei einem arabischen Angriff auf einen Konvoy des Hadassah-Krankenhauses in Scheich Dscharah unmittelbar unterhalb des Skopusberges in Jerusalem 79 jüdische Ärzte und Krankenschwestern ermordet. Nissan kannte mehrere der Ermordeten persönlich, besonders gut aber eine Studentin namens Ester Birnbaum, von allen nur „Emmi“ genannt. Ihr Großvater hatte sie mit der Jugend-Alija von Wien nach Jerusalem geschickt, wo sie noch jahrelang auf ihre Verwandten wartete. „Doch Emmis ganze Familie blieb in Auschwitz. Sie hatte in Tel Aviv das Gymnasium besucht und studierte Medizin. In allen Fachbereichen hatte sie Auszeichnungen bekommen und war auch die beste Schwimmerin im Land“, erinnert sich Nissan. „In sie hatte ich mich verliebt. Wir wollten im Sommer heiraten.“
Als die Nachricht von dem Massaker die Runde macht, fragt Nissan: „Gab es Gefangene?“ Während des Erzählens steht der alte Mann wieder auf, geht ans Regal, zieht einen vergilbten Ordner heraus, blättert durch die Dokumente: „Sieh hier, das ist Ester, hier ist ihr Diploma… hier ein Gedicht über sie von Avner Treining: ‚Warum hat Ester gelacht?!‘…“ Schmuel brachte Bilder seiner Verlobten bis zum Vertreter der arabischen Seite beim Internationalen Roten Kreuz, Musa Husseini, um dann nach zwei Wochen die Nachricht zu erhalten: Auf arabischer Seite wurden keine Gefangenen gemacht. Nissan hat Mühe mit dem Erzählen, immer wieder bricht ihm die Stimme. Die überwiegende Mehrzahl der Opfer von Scheich Dscharah wurde nie identifiziert.
Als „Keitzy“ nimmt Schmuel Nissan am Unabhängigkeitskampf seines Volkes teil und lernt beim Aufbau eines Feldlazaretts im ehemaligen Krankenhaus der Kaiserswerther Diakonissen in Jerusalem seine zukünftige Frau, Jael, kennen. „Das war 1948“, bemerkt er liebevoll in ihre Richtung, und „jetzt sind wir 62 Jahre zusammen.“
Am Vorabend der Unabhängigkeitserklärung Israels wurden die jüdischen Siedlungen im Gusch Etzion südlich von Hebron im Mai 1949 von den arabischen Irregulären erobert. Das Massaker von Kfar Etzion überlebten nur drei Männer und eine Frau. Mit diesem historischen Ereignis verbindet den Chirurgen Schmuel Nissan ein besonderes Erlebnis: Jahre nach dem Fall des Siedlungsblocks operierte er im Hadassah-Krankenhaus einen palästinensischen Christen, den stellvertretenden Bürgermeister von Bethlehem. „Heute kann ich das erzählen, weil er längst gestorben ist“, sinnierte der Arzt: „Er war der Kommandeur der Irregulären, die allen jüdischen Kämpfern befahlen, sich wie um ein Bild aufzunehmen aufzustellen – darunter war mein Freund Dani Mas. Dann haben sie alle niedergeschossen…“ Ein weiterer Freund Nissans, der beim Kampf um den Gusch Etzion fiel, war der Komponist Zvi Ben Josef, der in Wien studiert hatte.
Ein oder zwei Monate nach der erfolgreichen Operation kam der Palästinenser zurück, um sich zu bedanken. „Er führt mich auf den Parkplatz zu seinem Auto“, erinnert sich Nissan, „und nimmt aus dem Kofferraum einen Plastikbeutel mit einem silbernen Chanukkaleuchter, an dem noch die Wachsreste klebten.“ Der Anführer der arabischen Aufständischen hatte ihn bei der Vernichtung der jüdischen Siedlung 1948 an sich genommen. „Ich wusste, dass dieser Leuchter in den Gusch gehört“, erklärte Nissan. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach den traumatischen Ereignissen zittert noch immer seine Stimme. So beauftragte er den Knessetabgeordneten Chanan Porat, die Kriegsbeute aus dem Unabhängigkeitskrieg wieder zurückzubringen, „ohne dass irgendein Journalist davon erfährt, denn ich wollte den Araber ja nicht in Gefahr bringen“. Heute leben im Siedlungsblock Gusch Etzion wieder mehr als 63.000 Israelis. Die Chanukkia von Professor Nissan steht im Museum in Kfar Etzion.
In den ersten Jahren des jüdischen Staates fliegt der junge Arzt in den Jemen, um Juden von dort bei der Einwanderung nach Israel zu helfen. 1955 heiratet er seine Jael in Stockholm, wo Vater Katznelson als erster Botschafter Israels für die fünf skandinavischen Ländern dient. Für diesen Auslandsauftrag verändert Schmuels Vater übrigens den Namen „Katznelson“, der von „Katz“ abgeleitet ist und als Abkürzung von „Kohen Zedek“ („Gerechter Priester“) auf die Abstammung der Familie aus dem alten israelitischen Priestergeschlecht deutet, in „Nissan“. „‚Nissan‘ war ein häufiger Vorname unter meinen Vorfahren“, erklärt der Professor, „mein Großvater hieß Nissan Katznelson – und ich habe den Namen mit meinem Vater geändert, weil ich so auch einen Diplomatenpass bekommen konnte“; schmunzelt er verschmitzt, um dann gleich noch eins zu seiner Skandinavienzeit draufzusetzen: „Der Rabbiner, der uns getraut hat, wurde allseits nur ‚Pastor Wilhelm‘ genannt.“
Nach den Kriegsjahren bildet Schmuel Nissan sich in Amerika fort, arbeitet als Arzt in Boston und findet schließlich in St. Louis eine Stelle, dem „Mekka der Chirurgie“. In seiner Heimatstadt Jerusalem bringt er es schließlich bis zum Professor für Chirurgie und Kinderchirurgie am Hadassah-Krankenhaus auf dem Skopusberg.
Sein Schatz an Begegnungen, Freunden und Geschichten scheint unerschöpflich. „Mit Arik Scharon und seinem Sohn, der später getötet wurde, bin ich durch die Jesreel-Ebene geritten“, erzählt Nissan und erklärt: „Als Arzt muss ich Menschen eine Diagnose ausstellen“ – was er dann auch gleich unaufgefordert für seinen alten Weggefährten tut: „Schon Jigal Jadin wusste, dass Scharon ein militärisches Genie ist, weil niemand voraussagen konnte, was er tun würde. Ariel Scharon war dem Charakter nach ein Opportunist…“ – „Er war unberechenbar“, wirft Schmuels Frau Jael ein und gießt frisch gepressten Orangensaft – „aus dem eigenen Garten!“ – in die Gläser. „Ja,“ fährt Nissan mit seiner Diagnose fort, „was für einen Offizier hervorragend ist, war für den Politiker eine Katastrophe“, um dann gleich fortzufahren: „Eine Siedlung räumen ist für uns, als müssten wir Schweinefleisch essen…“ – „Erinnerst du dich Anfang der 1980er Jahre, in Jamit im Sinai, hat er die Leute in Käfigen geräumt…“, wirft Jael dazwischen. – „Ja, in Käfigen“, fährt Schmuel fort: „Die Besiedelung des Landes Israel ist ein Gebot aus der Bibel, eine religiöse Verpflichtung, das Land Israel zu bewohnen. Das ist bei uns allen sehr tief – auch wenn wir nicht religiös sind.“
In seinen letzten Lebensjahren widmete sich der Chirurgieprofessor seinem Hobby, der Erforschung der Geschichte der Medizin im Heiligen Land. Im Februar 2011 stellt er der Öffentlichkeit eine Frucht seiner Forschungen vor, ein Buch über den Kinderchirurgen Dr. Max Sandreczky, der 1872 das erste Kinderkrankenhaus in Jerusalem gegründet hatte, das „Marienstift“. Durch den Einsatz von Prof. Nissan und seinen Freunden blieb das historische Gebäude in der Prophetenstraße 29 erhalten, wurde als Denkmal geschützt und dient heute als Unterkunft für Kinder aus der ganzen arabischen Welt, die in Israel medizinische Hilfe erfahren.
Anfang Juli 2012 starb Professor Schmuel Nissan im Alter von 87 Jahren. Zwei Wochen später folgte ihm seine Frau Jael.