ThemenBiblische Probleme

Was hat Amen-em-Ope in der Bibel zu suchen?

In einer hölzernen Statue des ägyptischen Gottes der Unterwelt namens Osiris in Theben fanden Archäologen einen acht Meter langen und 25 cm breiten Papyrus mit den Lehren des Amen-em-Ope.

Der Papyrus enthält dreißig Kapitel, die 6 bis 36 Verse enthalten. Seit 1888 befindet er sich im Britischen Museum in London. Einige Jahrzehnte lang fand das Schriftstück mit den ägyptischen Weisheitstexten wenig Beachtung bis es 1923 auch in englischer Übersetzung veröffentlicht wurde. Dann aber erzeugten die dreißig Lehren einen Flächenbrand.

Es war ein Artikel von Adolf Ermann, der 1924 weltweite Aufmerksamkeit erregte. Er machte darin auf Ähnlichkeiten im Text des Ägypters mit dem biblischen Buch der Sprüche aufmerksam. Ermann ging deshalb davon aus, dass der biblische Text ein Plagiat des Textes von Amen-em-Ope war.

Demzufolge müsse das Buch der Sprüche entsprechend korrigiert werden, um es näher an das ägyptische Original zu bringen.

Ein Beispiel ist die Übersetzung von Sprüche 22,20:

Revidierte Elberfelder 2006: „Habe ich dir nicht dreißig (Sprüche) aufgeschrieben …?“

Genauso hat es auch die New International Version (NIV), die Zürcher Bibel von 2007, natürlich die Gute Nachricht Bibel, die Einheitsübersetzung, die sogar ausdrücklich vermerkt, dass hier der Text vom ägyptischen Weisheitsbuch des Amen-em-Ope abhängig ist, ebenso die Stuttgarter Erklä­rungsbibel in ihrer ausführlichen Einleitung dieses Abschnitts und in einer Anmerkung zum Vers 20.

Blätter aus den Anweisungen des Amen-em-Ope; Foto: Common Wiki; British Museum EA10474,4

Sie alle machen damit zumindest indirekt deutlich, dass Sprüche 22,17 – 24,22 von den dreißig Lehren des Amen-em-Ope abhängig ist. Heute gehen praktisch alle bibelkritischen Theologen davon aus. Damit stellt man natürlich die Offenbarung und Inspiration der Heiligen Schrift in Frage.

Wie gehen wir damit um? Zunächst müssen wir feststellen, dass das Wort „dreißig“ im hebräischen Originaltext gar nicht zu finden ist.1 Das hebräische Wort ist nicht eindeutig, wie die Fußnote in der Elberfelder Bibel vermerkt. Am ehesten bedeutet es jedoch „vortrefflich“ oder „exzellent“.

Aus diesem Grund habe ich das auch in der NeÜ geändert und sowohl die Überschrift als auch die nachfolgende 30-Sprüche-Kennzeichnung herausgenommen, die ohnehin gar nicht so sicher ist, wie gedacht. Ich möchte auch den Anschein einer solchen fiktiven Abhängigkeit vermeiden.

Aber wie gehen wir überhaupt mit solchen und ähnlichen Paralleltexten um?

Es gibt prinzipiell nur diese vier Möglichkeiten:

  1. Die hebräischen Sprüche basieren auf dem ägyptischen Text des Amen-em-Ope.
  2. Der ägyptische Text des Amen-em-Ope basiert auf den hebräischen Sprüchen.
  3. Beide Texte basieren auf einer älteren Quelle, die uns unbekannt ist.
  4. Es gibt über­haupt keine Ver­bin­­dung zwischen beiden Texten.

Gegen Version 1 spricht, dass die Datierung der ägyptischen Texte überhaupt nicht sicher ist, weil sie sich auf etliche unbewiesene Annahmen gründet.

Von der Bibel her ist Version 2 denkbar, weil Salomo viele Kontakte nach Ägypten hatte. Das setzt aber voraus, dass Amen-em-Ope in Salomos Zeit lebte, was unter Voraussetzung einer revidierten Chronologie allerdings nicht unmöglich ist.

Version 3 ist grundsätzlich denkbar, weil Weisheitslehrer im alten Nahen Osten sich sehr wohl vieler Aussagen der sie umgebenden Völker bewusst waren. Eine große Zahl an Sprichwörtern waren in verschiedenen Sprachen im Gebrauch und beruhten oft auf einer langen Erfah­rung mit moralischem Verhalten. Das spricht auch nicht gegen Inspiration, weil die Sprüche tatsächlich Sammlungen von Sprichwörtern waren, die unter der Leitung des Heiligen Geistes im Buch der Sprüche zusammengefügt wurden. Ich erkläre das in meiner Einleitung zum Buch der Sprüche in der NeÜ.

Nebenstehend gebe ich zwei Bei­spiele2 , um uns die entdeckten Ähnlich­keiten vor Augen zu führen. Die sich ähnelnden Aussagen habe ich hervorgehoben.

Dabei muss man allerdings beachten, dass die zitierten Weisheitssprüche aus Amen-em-Ope nur einzelne Auszüge aus einem oder sogar mehreren Kapiteln sind.

Deswegen spricht Einiges für die Version 4 der oben genannten:

  1. Die Zusammenhänge zwischen den Texten sind nur oberflächlich und vage. An den meisten Stellen ähnelt sich der Inhalt kaum.
  2. Viele der parallel angelegten Themen sind in verschiedenen Schriften des alten Nahen Ostens gängig. Es waren allgemein anerkannte Bilder3 .
  3. Anscheinend ähnliche Passagen sind in beiden Werken in einer anderen Reihenfolge angeordnet.
  4. Viele der Sprüche des Amen-em-Ope sind in der Bibel überhaupt nicht wiederzufinden und umgekehrt.
  5. Der Versuch, den biblischen Text in dreißig Sprüche zu unterteilen, ist künstlich herbeigeführt.
  6. Sprüche 22,17 – 24,22 ist keine in sich geschlossene Einheit, sondern Teil einer größeren literarischen Struktur.
Auszüge aus Amen-em-Ope,
sechstes Kapitel:
Sprüche 23,10-11
nach NeÜ:
Verrücke nicht den Markstein auf den Grenzen der Äcker

Und verschiebe nicht die Meßschnur von ihrer rechten Stelle.

Sei nicht gierig nach einer Elle Ackers

Und verletze nicht die Grenze einer Witwe.

Verrücke die uralte Grenze nicht, / auch nicht auf Kosten hilfloser Waisen. / Denn sie haben einen mächtigen Beistand, / der ihren Prozess gegen dich führt.
Auszüge aus Amen-em-Ope,
siebtes und achtes Kapitel
Sprüche 23,4-5

nach NeÜ

Hänge dein Herz nicht an Schätze:

Es gibt keinen, der Bestimmung und Geschick kennt!

Wirf dein Herz nicht hinter Äußerlichkeiten her: Jedermann hat seine (ihm bestimmte) Stunde …

Oder sie (Schätze) haben sich Flügel gemacht wie Gänse Und sind zum Himmel geflogen.

Müh dich nicht ab, es zu Reichtum zu bringen, / aus eigener Einsicht lass die Finger davon! /

Denn eh du dich versiehst, hat er Flügel bekommen / und fliegt wie ein Adler fort durch die Luft.


  1. Leider hatte ich das als akzeptable Über­set­zung auch in die NeÜ aufgenommen, was ich in meinen elektronischen Versionen inzwischen geändert habe. Die Änderungen werden auch in allen folgenden Druckversionen enthalten sein. 

  2. Die Anregungen und Zitate bekam ich freund­licherweise aus einer PDF-Vorversion eines sehr empfehlenswerten Buches, das Anfang 2016 als gedruckte Ausgabe von Wort und Wissen herausgegeben wird: Thomas B. Tribelhorn: „Die Bibel ist ein Mythos“ – muss ich das glauben? Fakten bewerten statt Gott begraben. 

  3. John Ruffle hatte bei Vergleichen selbst mit Weisheitstexten der Azteken so viele Ähnlichkeiten festgestellt, dass die wenigen Ähnlichkeiten zwischen Sprüche und Amen-em-Ope auch eher zufällig sein dürften. John Ruffle, „The Teaching of Amenemope and its Connection with the Book of Proverbs,“ Tyndale Bulletin 28 (1977): 29-68. Der Aufsatz ist online abrufbar.