Für Bibelleser war es beeindruckend, als vor rund zehn Jahren der antike Teich Siloah entdeckt und teilweise wieder ausgegraben wurde. Hier traf man auf einen authentischen Ort, der auch im Leben Jesu eine Rolle spielte (z.B. Joh 9,11). Ganz in der Nähe wurde die Gihon-Quelle freigelegt, an der Salomo zum König gesalbt wurde (1Kön 1, 33.38). Gerade in den neueren Ausgrabungen der sogenannten Davidstadt, außerhalb der heutigen Altstadt von Jerusalem, sind in den vergangenen Jahren sensationelle archäologische Funde zutage gefördert worden.
Bei Ausgrabungen in der Davidstadt wurden bereits Befestigungsmauern einer Palastanlage aus der Zeit Salomos (gest. 931 v.Chr.) und zahlreiche Gebrauchsgegenstände aus der Zeit Hiskias entdeckt. In Trümmern am Fuße der Südostmauer wurden in den vergangenen 30 Jahren auch Überreste von großzügigen Häusern der engeren Mitarbeiter der jüdischen Könige gefunden.
Die Ärchäologin Eilat Mazar, die seit vielen Jahren an Grabungen in Jerusalem beteiligt ist, beschreibt die biblische Einordnung des Fundorts so:
Zu Hiskias Zeit gab es bereits mehr als 200 Jahre lang zwei funktionierende Paläste in Jerusalem. Der Palast von König David in der Stadt Davids, der als das geringere Haus des Königs galt (Neh 12,37) und der Palast König Salomos, das hohe Haus des Königs am Ofel (Neh 3,25). Das hohe Haus des Königs war auf dem offenen Platz am Ofel gebaut worden, das ist südlich des Tempelberges und ungefähr 250 Meter nördlich der Befestigung der Stadt Davids. Die beiden Paläste dienten als ein umfassender Komplex und waren sowohl Sitz des Königs und Wohnung seiner Familie als auch der vielen Ministerien, die mit dem König und dem Königtum verbunden waren. Der Tempel und der neue Palastkomplex am Ofel waren von einer massiven Stadtmauer umgeben, solange wie Salomo regierte (1Kön 3,2).
Beide Palastgebäude waren seit ihrer Errichtung wahrscheinlich von zahlreichen Umbauten betroffen. Als wichtiges Unternehmen wurde von König Hiskia am unteren Haus des Königs, Haus von Millo genannt (2Kön 12,21; 2Chr 24,25), eine Verstärkung der Anlage vorgenommen. Das war wegen seiner ausgeklügelten und weitreichenden Art offenbar Wert, auch in der Bibel erwähnt zu werden (2Chr 32,5). Unter der Regierung Hiskias diente dieser Teil als Festung, der als Teil der Verteidigungsvorbereitungen gegen den drohenden Angriff der Assyrer, verstärkt wurde.
Mit großer Vorsicht wurde in den vergangenen 30 Jahren immer wieder an dieser Stelle gegraben. Man wollte dabei nicht vorhandene jüngere Bauten zerstören, aber andererseits auch in tiefere Schichten vordringen, um so an ältere Funde zu gelangen. Zugleich wurden auch die Grabungsmethoden immer ausgefeilter und machten zunehmend auch sehr kleine Funde möglich. Mazar beschreibt die Grabungsstelle genauer:
Die Grundstrukturen, die noch von König Salomo gebaut worden waren, wurden gut erhalten gefunden. Sie liegen in einem Bereich von 100 Metern Länge und einer Breite zwischen 10 und 25 Metern an den nordöstlichen Außenbezirken des Ofel. Die Bauten bestehen hauptsächlich aus einem Teil der Befestigung mit einem Stadttor und einem großen Turm; und dann aus Teilen königlicher Gebäude, die in die Verteidigungslinie integriert waren.
Von besonderem Interesse war aber ein Gebäude am nordöstlichen Stadttor, das während einer Ausgrabung 1986-87 entdeckt worden war. Das Erdgeschoss des Gebäudes, das bis zu einer Höhe von rund vier Metern erhalten war, wurde offenbar bis zu seiner Zerstörung durch die Babylonier 586 v.Chr. als königliche Bäckerei genutzt. Was die Archäologen „königliche Bäckerei“ oder „Haus der königlichen Bäcker“ nannten, war unter anderem an einigen großen Gefäßen (pithoi) erkannt worden. Es ist nicht schwer vorstellbar, dass eine solche königliche Bäckerei hohe Beamte zur Leitung benötigte, dazu ein gut organisiertes System der Zulieferung, um hochwertige Nahrung herzustellen. Man konnte darauf schließen, dass in den Lagerräumen Mehl, Öl und zum Süßen Bienenhonig, Dattel- und Feigensirup und vielleicht auch Früchte vorgehalten wurden. All das erforderte eine gut organisierte Lagerhaltung neben den entsprechenden Backräumen. Mazar schreibt:
Viele interessante Funde stammen aus einem Gebäude, das die Archäologen königliche Bäckerei nannten. Als Reste der organisierten Lagerhaltung sind Siegelsteine aus Ton übriggeblieben, die früher an Säcken hafteten.
Es ist sicher, dass das Gebäude am Ende der Zeit des ersten Tempels von königlichen Bäckern benutzt wurde, aber es ist möglich, dass es zur Zeit Hiskias im gleichen Dienst stand.
Seit einigen Jahren kann das gesamte Grabungsmaterial auch mit Wasser fein ausgewaschen werden, vergleichbar mit Methoden, wie sie bei der Suche nach Gold oder Edelsteinen verwendet werden. Die genau identifizierbaren Funde wurden so immer kleiner. Erst dadurch war es möglich, Siegelabdrücke aus Ton zu finden, die nur rund einen Zentimeter im Durchmesser sind. Die kleinen Tonsiegel dienten offenbar dazu, Vorratssäcke und vereinzelt auch Schriftstücke zu siegeln und damit Besitzer oder Herkunft anzuzeigen. Die Rückseiten der kleinen Siegel zeigen die Abdruckspuren von grobem Leinen und vereinzelt von Papyrus. Sie waren als kleiner, feuchter Tonklumpen aufgedrückt worden und dann wurde mit einem Siegel, vielleicht als Siegelring oder als Siegelstempel, die Vorderseite mit Symbolen und Schriftzeichen eindeutig markiert. Man kann sich also die königliche Bäckerei mit den Vorratsräumen vorstellen, in denen Säcke mit Getreide und Krüge mit Honig oder Dattelsirup standen, deren Herkunft an den Siegeln erkennbar war. Bestellungen oder Verträge waren dann wohl auf Papyrus geschrieben und ebenfalls mit Siegeln versehen worden.
Die Existenz solcher Siegelsteine aus privaten Sammlungen, deren Herkunft nicht mehr feststellbar ist, war schon lange bekannt. Seit wenigen Jahren aber konnten die Siegelabdrücke in gesicherten und kontrollierten Grabungen identifiziert werden, was ihren Wert für die historische Zuverlässigkeit und weitere Deutungen erheblich steigert. Nur so ist sicher, dass es sich nicht um Fälschungen für den Antikenmarkt handelt. Außerdem macht der kontrollierte Fund in einer bestimmten Schicht zusammen mit anderen Funden auch eine ziemlich genaue Datierung möglich.
Unter diesen Siegeln entdeckte man schon vor einigen Jahren ein Siegel König Hiskias, einige weitere von Mitgliedern einer Familie des Bes, sowie solche von in der Bibel erwähnten Mitarbeitern König Zedekias (618-586 v.Chr.), nämlich Yehukhal ben Shele’iyahu ben Shovi und Gedaliyahu ben Pashur (Jer 38,1). Eilat Mazar schreibt:
Zusammen mit den Siegeln Hiskias und der Bes-Familie wurde n22 weitere Siegel mit hebräischen Namen gefunden. Unter diesen ist das Siegel des „Yesha’jah[u] Nvy[?]“. So überraschend das sein mag, aber die naheliegende Übersetzung des Namens führt direkt zum Propheten Jesaja. Verständlich, dass dieses Siegel viel faszinierender ist, als alle anderen, die im Zusammenhang mit dem Siegel Hiskias gefunden wurden.
Bedeutend ist auch, dass zwischen dem Siegel Hiskias und dem Siegel mit dem Namen Jesaja nur rund drei Meter Abstand lagen. In der Bibel werden beide vierzehn Mal im gleichen Atemzug genannt (2Kön 19-20; Jes 37-39). Offenbar standen sie sich besonders in der Zeit der Bedrohung Jerusalems sehr nahe, aber wohl auch darüber hinaus. Mazar:
Kann es also möglich sein, dass in einer archäologischen Fundsammlung im königlichen Zusammenhang aus der Zeit von Hiskia direkt neben dem königlichen Siegeldruck ein anderer Siegeldruck gefunden wurde, auf dem steht „Yesha’yahu Navy“ und das dem Propheten Jesaja gehörte? Oder ist es eher wahrscheinlich, dass das Siegel nicht zum Propheten Jesaja gehört, sondern stattdessen zu einem königlichen Beamten, der Jesaja hieß und den Beinamen Nvy hatte?
Eilat Mazar legt in ihren Aussagen die Vorsicht an den Tag, die für Archäologen wichtig ist. Denn was auf den ersten Blick eindeutig scheint, könnte doch auch ganz anders zu deuten sein. Darum wurde das winzige Tonsiegel auch genauestens untersucht.
Der Siegel-Abdruck von Yesha’yah[u] Nvy[?] ist in drei Bereiche aufgeteilt. Das obere Drittel ist abgebrochen und wurde nicht gefunden. Aber der erhaltene Teil lässt noch einen Teil eines grasenden Rehs erkennen, einem Zeichen von Segen und Schutz, wie es auch in anderen Ausgrabungen und auch auf einem anderen Siegel aus demselben Bereich gefunden wurde. Mazar beschreibt den Fund im Weiteren so:
Auf der mittleren Zone liest man „leYesha’yah[u]“ (Jesaja gehörend), wobei links am wahrscheinlichsten noch der hebräische Buchstabe Waw zerstört wurde. In der unteren Zone liest man in der Mitte „nvy“ ohne weitere Buchstaben. Aber es mag doch ein weiterer Buchstabe links gewesen sein, etwa ein hebräisches Aleph, was das Wort zu nvy‘ vervollständigen würde, was auf Hebräisch „Prophet“ bedeutet. Der hinzugefügte Buchstabe Aleph würde zu einer Berufsbezeichnung führen wie bei Bäcker, Schmied oder Priester, nämlich zu „Prophet“ in der vollen Schreibweise. Die abgekürzte hebräische Schreibweise des selben Wortes wäre nv‘, ohne das Jot, wie es sich auch auf Scherben aus der judäischen Grabung bei Lachisch findet. Ob nun das Aleph als zusätzlicher Buchstabe da stand oder nur spekulativ ist, sei dahingestellt, es konnten jedenfalls die genauesten Untersuchungen des beschädigten Teils des Siegels keine Reste von weiteren Buchstaben identifizieren.
Zwar können die Experten nicht mit Sicherheit sagen, dass das gefundene Siegel vom Propheten Jesaja stammt, aber seine Nähe zum Siegel von König Hiskia und Einzelheiten der Inschrift lassen es nicht unwahrscheinlich erscheinen.
Deshalb können die Experten nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich hier um ein Siegel des biblischen Propheten Jesaja handelt. „Das Wort kann enden wie das hebräische Wort für ‚Prophet‘, wodurch es definitiv als Siegel des Propheten identifiziert würde. Da aber der letzte Buchstabe fehlt, bleibt die Möglichkeit vorhanden, dass es auch einfach der Name ‚Navi‘ sein könnte,“ stellt Eilat Mazar klar. In diesem Fall könnte die Inschrift auch als Jesaja Sohn des Navi übersetzt werden. Mazar spricht die Probleme der Deutung des Siegels als Siegel des Propheten Jesaja offen an un d bringt dennoch eine ganze Reihe von Argumenten, die aus ihrer Sicht für eine solche Identifizierung sprechen. Einerseits hat man an einem anderen Ort schon einen Kannenhenkel mit einem Siegel eines anderen Sohnes des Navi gefunden. Andererseits stand auf dem jetzt gefundenen Siegel mit Sicherheit nicht das Wort „bn“ für „Sohn des“. Einerseits würde man eigentlich vor dem Wort Prophet nvy‘ einen bestimmten Artikel, hebräisch „h“ erwarten, andererseits ist der Artikel vor Titeln oder Berufsbezeichnungen nicht zwingend und könnte sogar in der beschädigten Zeile darüber gestanden haben. Mazar:
Der Siegelabdruck von Jesaja ist ein Einzelstück und es bleiben Fragen, was er genau bedeutet. Aber die enge Beziehung zwischen Jesaja und König Hiskia, wie die Bibel sie beschreibt, und die Tatsache, dass die Bulla in der Nähe zu einer anderen gefunden wurde, die offenbar den Namen Hiskia trägt, eröffnet doch die Möglichkeit – trotz der Schwierigkeiten, die sich aus dem zerstörten Rand der Bulla ergeben –, dass es sich um einen Siegelabdruck vom Propheten Jesaja handeln kann, der auch Berater von König Hiskia war.
Doch ganz gleich, was sich später einmal als die wahrscheinlichste Interpretation des Siegels und des Schriftzugs darauf herausstellt, durch Funde wie diesen, wird die reale Welt des Alten Testaments konkret und fassbar. Oder wie die Archäologin Eilat Mazar meint, die an Ort und Stelle gegraben und das Siegel selbst untersucht hat:
Die Entdeckung von königlichen Bauten und die Funde aus der Zeit von König Hiskia am Ofel sind eine seltene Möglichkeit, diese besondere Zeit in der Geschichte Jerusalems lebendig zu machen. Die Funde führen uns zu einem Kontakt mit einigen Schlüsselfiguren, die teilnahmen am Leben im königlichen Bezirk am Ofel, wozu König Hiskia und vielleicht auch der Prophet Jesaja gehörten.