Wolfgang Wippermann, außerordentlicher Professor am Friedrich-Meinecke-Institut, legt mit dem vorliegenden Werk eine „Kritik des deutschen Protestantismus“ vor, mit der er „die Haltung der Evangelischen Kirche zu Staat, Krieg und Kapital sowie zu den Juden, Roma und Frauen“ analysieren möchte. Dazu stellt er in sechs Kapiteln seine Bewertung der lutherischen Lehre und Praxis zu den jeweiligen Themenfeldern vor.
Im ersten Kapitel über „Kirche und Staat“ kritisiert Wippermann die Obrigkeitstreue der Evangelischen Kirche, die er auf Luthers Lehren zurückführt. Dass Luthers Aufruf zum Gehorsam gegen die Obrigkeit sich auf Paulus berufen kann, deutet er an. Dessen Anweisung in Römer 13,1 sei aber kein religiöses Gebot, sondern der Versuch des Apostels, sich von den Zeloten zu distanzieren und seinen Anhängern das Schicksal Jesu zu ersparen, der wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt hingerichtet worden sei (S. 10). Luthers Lehre habe dazu geführt, dass sich die Kirche zwar von der Herrschaft des Papstes befreit, sich dafür aber autoritären Fürsten unterworfen habe (S. 17). Das Dogma von der absoluten Obrigkeitstreue habe schließlich zu der Gleichschaltung der „Deutschen Christen“ geführt. Immerhin die bekennenden Christen hätten mit der Barmer Erklärung die Obrigkeitstreue aufgekündigt (S. 29). In der Bundesrepublik hätte die Evangelische Kirche der „antifeministisch und homophob geprägten Familien- und Sexualpolitik“ viel zu lange zugestimmt. Der Widerstand gegen die Reform des Abtreibungsrechts „sei viel zu spät aufgegeben“ (!) worden (S. 35).
Wippermann, Wolfgang. Luthers Erbe. Eine Kritik des deutschen Protestantismus. Darmstadt: WBG 2014. 224 S. Hardcover: 24,95 €. ISBN: 978-3-86312-072-6
Im zweiten Kapitel, „Kirche und Krieg“, behauptet Wippermann, die evangelische Kirche habe unter Berufung auf Luther alle deutschen Kriege verherrlicht. Jesus dagegen habe mit dem Gebot zur Feindesliebe „zur Bewahrung des Friedens ermahnt“. Ob das Obrigkeitsgebot auch im Kriegsfall gelte, habe Paulus „im gesamten Neuen Testament nicht eindeutig beantwortet“. Dabei fände man doch bereits im Alten Testament den Rat, wie man Frieden bewahren könne: durch die „Vernichtung aller Waffen“ (unter Bezugnahme auf Micha 4,1, alles S. 41). Luther selbst habe mit seiner Schrift über die Kriegsleute eine „schreckliche Rechtfertigung des Krieges“ geliefert (S. 46). Auch in der Neuzeit sei die westdeutsche Friedensbewegung „von der Kirche alleingelassen“ worden (S. 60). Den „verschämt als Auslandseinsätze bezeichneten Kriegen“ sei der kirchliche Segen zuteil geworden (S. 63).
Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Thema „Kirche und Kapital“. Als Aufhänger dient die Bemerkung Jesu, man könne nicht Gott und dem Mammon dienen. Auch habe Jesus in Lukas 6,35 auf das alttestamentliche Verbot hingewiesen, Geld gegen Zins zu verleihen. Geldwechsler, die das dennoch taten, habe er aus dem Tempel verjagt. Zudem habe Jesus laut Lukas „die Armen gepriesen und die Reichen verdammt“ (S. 65, unter Bezugnahme auf Lukas 6,20.24). Auch Luther habe in seinen Schriften über den Wucher gegen Geiz und Zinsen protestiert (S. 68). Gleichwohl habe er nicht das „im Entstehen begriffene frühkapitalistische Wirtschaftssystem“ kritisiert, sondern diejenigen verurteilt, „die sich gegen ihre soziale Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung gewehrt haben“ (S. 70). Die Armen wurden „nicht gesegnet, sondern stattdessen zur Arbeit ermahnt“ (S. 71). Nur lobende Worte findet Wippermann für das „Evangelium des armen Sünders“, eine von einem „sozialistischen Ideologen“ und „Vorläufer des Marxismus“ verfasste Denkschrift (S. ٧١). Dessen „kommunistisches Gesellschaftsideal“ sei letztlich ein christliches (S. 72). Die Kirche dagegen habe auf die Arbeiterbewegung „mit kompromissloser Ablehnung“ reagiert (S. 73) und sei mitverantwortlich dafür, dass es nicht gelungen sei, ein „sozialistisches Gesellschaftssystem“ zu errichten“ (S. 84).
Das vierte Kapitel, „Kirche und Antisemitismus“, startet Wippermann mit dem Vorwurf, sowohl Jesus (Johannes 8,44) als auch Johannes, Markus und Matthäus hätten die Passion Christi als Ergebnis einer Verschwörung „der Juden“ gegen Jesus dargestellt (S. 86). Am judenfeindlichsten sei Matthäus. Im Widerspruch zu dieser „Verteufelung“ stehe die Aufforderung zu der Bekehrung der Juden bei Paulus (Römer 11,17-26). Schon dieses christliche Bekehrungsangebot „muss man als antisemitisch deuten“ (S.88), da es aus Eigeninteresse erfolge, um die Wiederkehr Jesu zu erreichen. Im Mittelalter sei von der Kirche die Vernichtung der verstockten jüdischen Teufelskinder gefordert worden. Das gehe auf Luther zurück, denn er „begann als vehementer Judenfeind und blieb es sein Leben lang“ (S. 91f.). Etwaige freundlichere Worte und Bekehrungsangebote seien die „sanftere Seite der allgemeinen antisemitischen Medaille“ (S. 92).
Der Kontinuitätsthese, nach der Luther „die Judenfeindschaft der Nationalsozialisten vorbereitet“ habe (S. 96), steht Wippermann positiv gegenüber, zumal er von einer Differenzierung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus nichts hält (S. 100). Die heutige Kirche rufe zwar nicht mehr zur Verfolgung der Juden auf, billige aber noch immer die – vor allem von „Fundamentalisten“ geforderte – Judenmission und habe damit „mit ihrer antisemitischen Tradition nicht hinreichend gebrochen“ (S. 113).
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Thema „Kirche und Antiziganismus“. Als biblischer Anknüpfungspunkt dient hier 1. Mose 4, ein Text, der nach unserem Bibelverständnis zwar „absolut nichts“ mit Antiziganismus zu tun hat, nach Auffassung „anderer und älterer Leser“ der Bibel aber schon (S. 114). Demnach seien die „Zither- und Flötenspieler“ sowie die „Erz- und Eisenschmiede“ die Vorfahren der Roma gewesen. „Frühneuzeitliche Chronisten“ hätten dann Legenden erschaffen (Zigeuner haben die heilige Familie nicht beherbergt, die Nägel für das Kreuz Christi gefertigt und seien vom Teufel mit magischen Fähigkeiten beschenkt), die zu dem geführt hätten, „was man als christlichen Antiziganismus bezeichnen und mit dem christlichen Antisemitismus vergleichen kann“ (S. 115). Luther habe empfohlen, die Zigeuner „genauso schlecht zu behandeln“ wie die Juden (S. 119). In der Folge habe die evangelische Kirche nicht nur zu der Verfolgung der Sinti und Roma geschwiegen, sondern sich in der NS-Zeit auch daran beteiligt. Aktuell verfolge die Kirche zwar keine Roma, halte aber am Teufelsglauben fest, ein „gefährlicher Aberglaube“, der die religiöse Grundlage der Ideologie des Rassismus“ liefere (S. 141).
Im letzten Kapitel wird das Verhältnis von „Kirche und Antifeminismus“ behandelt. Natürlich darf hier das Gebot des Paulus aus 1. Korinther 14,34 nicht fehlen, an das sich aber nach Wippermanns Meinung kaum einer gehalten hat, schließlich sind die christlichen Gemeinden „alle von Frauen mit aufgebaut worden“ (S. 143). Insgesamt könne man „das in der Bibel beschriebene und vorgeschriebene patriarchalische Herrschaftsverhältnis als antifeministisch empfinden“ (S. 144) – immerhin kennen alle monotheistischen Religionen nur einen männlichen Gott und verbieten die Verehrung von Göttinnen. Die Kirche habe aus Jesu Mutter die Heilige Jungfrau und aus Maria Magdalena (mutmaßlich die Ehefrau Jesu) eine Heilige gemacht – „nicht unbedingt frauenfreundlich, aber nicht ausgesprochen antifeministisch“ (S. 146). Über den Teufelsglauben wird dann der Aberglaube bezüglich der Hexen beleuchtet, deren Verfolgung Luther gebilligt habe. Ein Antifeminist sei er aber wohl nicht gewesen (S. 154).
Die Evangelische Kirche allerdings habe bis in die NS-Zeit hinein und darüber hinaus eine antifeministische Politik betrieben. Wenigstens dieser Fehler sei mittlerweile überwunden, schließlich gäbe es mittlerweile Pastorinnen und Bischöfinnen und die Einstellung der Kirche zu Ehe und Familie sei liberaler geworden (S. 174).
Durch die Zusammenfassung der Thesen des Autors dürfte bereits klar geworden sein, dass den Leser weniger eine sachliche Analyse, als vielmehr eine Streitschrift erwartet, die insbesondere von den sozialistisch geprägten politischen Vorstellungen Wippermanns bestimmt wird.
Brauchbar ist das Buch deshalb nur dort, wo sich der Autor auf seine Kernkompetenz als Dozent für Neuere Geschichte besinnt. Die theologischen Ausführungen dagegen sind mit dem Begriff „laienhaft“ noch freundlich umschrieben und auch die Darstellung der Lehren Luthers gerät oft einseitig bis falsch.1
Dass das Gebot zur Obrigkeitstreue ein taktischer Kniff des Apostels gewesen sein soll, dürfte kaum ein seriöser Exeget behaupten. Auch auf die Idee, dass das Gebot zur Feindesliebe sowie die für das messianische Friedensreich angekündigte Verwandlung von Schwertern zu Pflugscharen kein politisches Programm und keine Handlungsanweisung für Staaten darstellen, kommt Wippermann nicht. Hier erreicht die Argumentation zum Teil ein bedauerliches Niveau.
Dass Jesus in Lukas 6 „die Armen gepriesen und die Reichen verdammt“ hat, ist genauso wenig richtig wie die Behauptung, Jesus habe „die Lachenden“ verdammt. Nicht nur hier wird Sinn und Zweck eines Bibeltextes grandios verkannt. So altbekannt wie falsch ist der Vorwurf an Johannes, Markus und Matthäus (alles Juden!), sie hätten antisemitische Werke verfasst. Gänzlich albern wird es, wenn Bekehrungsaufrufe an Juden als antisemitisch gedeutet werden, weil sie aus „Eigeninteresse“ erfolgen sollen. Berechtigter ist die Kritik an Luthers Judenschriften und der Haltung großer Teile der Kirche zum nationalsozialistischen Regime, wobei vor allem die Bewertung des Reformators zu einseitig gerät.
Für eine Stellungnahme durch einen wirklichen Fachmann sei hier auf Thomas Kaufmanns Beitrag zu „Luthers Judenschriften“ verwiesen. Das „Antiziganismus“-Kapitel ist wohl nur deshalb in das Buch gelangt, weil Antiziganismus einen der „Forschungsschwerpunkte“ des Autors darstellt. Hier fallen vor allem der merkwürdige Einstieg über „frühneuzeitliche Legenden“ sowie die Verknüpfung mit dem rassistischen Teufelsglauben auf.
Fast schon ironisch ist es, dass die Kirche letztlich nur dort gelobt wird, wo sie offensichtlich gegen biblische Gebote verstößt, nämlich bei ihrem Verhältnis zum Feminismus. Eine biblische Begründung, weshalb die Kirche den Feminismus (der nicht einmal definiert wird) begrüßen sollte, fehlt natürlich.
„Luthers Erbe“ ist damit letztlich die Abrechnung eines Möchtegern-Kommunisten mit einer Kirche, die dem Autor noch nicht links genug ist. Von Fachkollegen wurde Wippermann bereits an anderer Stelle attestiert, er nutze „seinen akademischen Titel, um billige Agitation zu betreiben“.2
Nach der Lektüre dieses Buches kann man sich das vorstellen. Finger weg!