ThemenTheologische Beiträge

Erhaltende Gunst und erlösende Gnade

Es ist für jeden Christen wichtig, zwischen der Gunst Gottes zu unterscheiden, mit der er ein menschliches Leben mehr oder weniger segnen kann, und der Gnade, die jedem durch den Glauben an Christen angeboten wird. Ein falsche Zuordnung des Handelns Gottes wird die Konturen des rettenden Evangeliums verzerren.

Eine Flut an Ratgebern

Wer einen (christlichen) Buchladen betritt, dem fallen die zahllosen Ratgeber ins Auge. Wir werden mit Ratschlägen und Tipps für ein besseres Leben eingedeckt. Im schlechteren Fall werden säkulare Gedankengänge einfach nur „christlich verpackt“, im besseren Fall weise Ratschläge gegeben. Wir sollen lernen, besser zu erziehen, Konflikte zu bewältigen, eine spannendere Ehe zu führen, fruchtbare Freundschaften zu pflegen, Körper und Seele in der Balance zu halten, die Freizeit anregend zu gestalten oder Armut zu bekämpfen.

In diesem Beitrag geht es mir um eine verbreitete Verwechslung. Denn wo die Optimierung des diesseitigen Lebens in den Vordergrund rückt und die Priorität der Versöhnung mit Gott in den Hintergrund gedrängt wird, wird der Schwerpunkt verschoben. Die erhaltende Gunst, die Gott allen Menschen zuteil werden lässt, wird unmerklich mit der rettenden Gnade des Erlösers vermischt.

Wenn die Optimierung des diesseitigen Lebens in den Vordergrund rückt, wird die erhaltende Gunst Gottes des Schöpfers, die allen Menschen geschenkt wird, unmerklich mit der rettenden Gnade des Erlösers vermischt.

Nach welchen Gesichtspunkten lässt sich zwischen der erhaltenden Gunst Gottes des Schöpfers und zwischen der erlösenden Gnade des Retters unterscheiden? In der folgenden Gegenüberstellung fokussiere ich auf die innerweltlichen Auswirkungen. Deshalb unterstreiche ich vorab, dass die erlösende Gnade in erster Linie auf die geistliche und ewige Errettung zielt. Die Christen sind „in Christus“ „nach dem Reichtum seiner Gnade“ mit jedem geistlichen Segen im Himmel beschenkt worden (vgl. Eph 1,3-14).

5 Thesen zu Gottes erhaltender Gunst

Nach dem Sündenfall wurde der sofortige körperliche Tod des Menschen aufgeschoben.

Der Mensch steht nach wie vor in der Aufgabe, Gottes Schöpfung zu entwickeln. Die beiden ersten Nachkommen von Adam und Eva, Kain und Abel, führen uns die schrecklichen Folgen der Sünde vor Augen. Kain erschlug seinen Bruder. Sein Hass führte zum Brudermord. Trotz dieser Sünde und der anschliessenden Bestrafung durch Gott lesen wir im gleichen Kapitel (1Mose 4), dass die Nachkommen Kains Gottes Schöpfung weiter entwickelten. Sie entwickelten Viehzucht und Ackerbau, Städtebau, Eisenbearbeitung und Musik­instru­men­te. In diese Bemühungen drückt jedoch immer die Sünde durch, was etwa deutlich wird, wenn Lamech ankündigt, eine Strieme mit Totschlag zu rächen (1Mose 4,23).

Es gilt zwischen der Linie des Glaubens und der Linie des Unglaubens zu unterscheiden. Der Mensch, der auf die Langmut Gottes nicht antwortet, häuft sich selbst Zorn auf für den Tag des Gerichts.

Im direkten Anschluss an die Geschichte der Nachkommen Kains wird die Linie Sets aufgeführt. Diese Linie fällt nicht durch die Weiterentwicklung der Schöpfung, sondern durch ihren Bezug zu Gott auf. In jenen Tagen fing man nämlich an, den Namen des Herrn anzurufen (1Mose 4,26). Ebenfalls ins Auge fällt die Bestätigung, dass der Mensch in Gottes Bild geschaffen worden ist und es auch nach dem Sündenfall so blieb (1Mose 5,1).

Den Aufschub des leiblichen Todes – der geistliche Tod war unmittelbar Realität geworden (Eph 2,3) – muss man aber auch in ewiger Perspektive sehen. Paulus spricht davon, dass sich der Mensch, der sich angesichts von Gottes Langmut widersetzt, dessen Zorn aufhäuft für den Tag des Gerichts ­(Röm 2,4-5).

Gott schränkt durch sein Gesetz das Böse dieser Welt ein. Andernfalls hätte sich die Menschheit schon längst zugrunde gerichtet. 

Durch die bewahrende Gunst Gottes sind dem Einbruch der Sünde Grenzen gesetzt worden. Gott lässt die Sonne über Gute und Böse scheinen (Mt 5,45). Er hat Regen und fruchtbare Zeiten gegeben (Apg 14,16-17). Auch der gefallene Mensch verfügt über eine gewisse Gotteserkenntnis (Röm 1,21) und über ein Rechts- und Unrechtsempfinden (Röm 1,32). Heidnische Könige wie z. B. Abimelech von Gath wussten um die Unrechtmässigkeit von Ehebruch (1Mose 20,9). Der babylonische König Nebukadnezar erkannte die Herrschaft Gottes an (Dan 2,37; 3,28; 4,31ff).

Dem Gottlosen geht es äußerlich oft unverschämt gut. So gut, dass es den Gerechten in Verwirrung stürzen kann.

Das Leben des Gottlosen kann dauerhaft von Wohlfahrt begleitet sein (siehe Ps 73,4-5+12; 49,7ff; Jer 12,1f). Die ewige Perspektive droht unter der Ungerechtigkeit des Diesseits vergessen zu werden. Das Gericht über böse Taten wird oft nicht sofort vollzogen (Pred 8,11).

Es gibt eine gute bürgerliche Moral.

Gott gibt guten wie bösen Menschen Sonne und Regen. Gerettet wird aber nur, wer an Jesus Christus glaubt.

Wer sich seiner Frau widmet, für seine Kinder da ist, seine Steuern ordentlich bezahlt, Projekte zur Verbesserung der Lebensqualität finanziert oder sich in der Nachbarschaftshilfe einsetzt, wird Befriedigung erleben. Unsere reformierten Vorfahren haben das vor 350 Jahren treffend auf den Punkt gebracht (zu lesen im Westminster Bekenntnis, Artikel 16.7). Es geht aber nicht um gutes oder nützliches Verhalten allein, sondern um die rechte Absicht (zur Ehre Gottes zu leben), den rechten Standard (das Wort Gottes) und um veränderte Motive (ein durch den Glauben gereinigtes Herz).

Gerade der Genfer Reformator Johannes Calvin war es, der nicht nur das Verderben der Sünde klar herausstellte, sondern auch den Wert sogar von heidnischen Schriftstellern betonen konnte (Institutio II,2,15). Die Erkenntnis der irdischen Dinge – das „weltliche Regiment, die Haushaltskunst, alles Handwerk und die freien Künste“ (Inst. II,2,13) – sei dem Menschen von Gott geschenkt worden. Wer von den Wissenschaften nicht Gebrauch mache, verachte Gottes Gaben (Inst. II,2,16).

5 Thesen zu Gottes erlösender Gnade

Die Reihenfolge lautet: Indikativ, dann Imperativ. Du bist gerechtfertigt, darum sei gerecht.

Wer den Römer- oder den Epheserbrief liest, dem fällt die Zweiteilung des Briefes auf. Im ersten Abschnitt beschreibt Paulus die Stellung des Christen: Er ist „in Christus“. Die Gerechtigkeit von Christus wird dem Sünder unverdient angerechnet. Mit einem „darum“ schließen sich dann die Konsequenzen für das Leben des Christen an. Weil sie gerechtfertigt sind, argumentierte Paulus, stellen sie ihr Leben als Opfer für Gott zur Verfügung (Röm 12,1). Es folgen Anweisungen für Männer, Frauen, Kinder, Arbeitnehmer und Arbeitgeber (Epheser 5,21-6,9).

Ein Glaube, der ohne sichtbare Auswirkungen bleibt, ist ernsthaft in Frage zu stellen.

Diese ernste Mahnung stellt Jakobus in seinem Brief auf (insbesondere in Kapitel 2). Wer zum Beispiel als Arbeitgeber den Arbeitern ihren Tageslohn vorenthielt, zog den Zorn seines Herrn auf sich (Jak 5,4). Seine Tat schrie zum Himmel. Der Glaube würde sich gerade im Umgang mit ärmeren Mitgliedern der Gemeinde zeigen (siehe Jak 2,1ff). Wer an der Not seines Bruders vorbeiging, dessen Glaube war echt in Frage zu stellen, mahnte auch der Apostel Johannes an (1Joh 3,16-18).

Christen sollten die besten Bürger sein.

Der erste Mensch Adam wurde zuerst als eine leibliche Kreatur und als Bewirtschafter und Bewahrer der Erde geschaffen (1Kor 15,45-47; vgl. 1Mose 2,15). Die Errettung durch Christus stellt den Menschen auch in diesem ursprünglichen Auftrag wieder her. Das bedeutet nicht, dass ein Christ seinen sozialen Stand verlässt (1Kor 7,20). Seine innere Veränderung beginnt jedoch in allen Lebensbereichen sichtbare Auswirkungen zu zeigen: Als Ehepartner, Vater oder Mutter, Arbeitnehmer und Staatsbürger.

Die ewige Perspektive verhilft zu einer ausgewogenen Diesseits-Perspektive.

Man stelle sich einen Menschen vor, der um seine ewige Bestimmung weiß. Seine Unruhe ist im Ruhen des Retters aufgelöst worden; die Vermögensverhältnisse sind geklärt (der Schatz ist im Himmel aufbewahrt); zeitliche Bedrängnis wird ruhig ertragen (durch das Bewusstsein, dass es sich um eine vergleichsweise „kurze Zeit“ handelt, 1Petr 1,6-8). Daraus folgt Gelassenheit und eine Du-Orientierung statt krampfhafter Ich-Verwirklichung.

Christen führen ein dankbares Leben in der Welt ihres Vaters.

Wer zurück zu seinem Vater gefunden hat, beginnt zu realisieren, dass eben dieser Vater die ganze Welt geschaffen hat. Die gesamte Realität ist auf seine Schöpfung zurückzuführen und trägt seine Handschrift. Das führt zur Dankbarkeit gerade für die erhaltende Gunst Gottes. Durch die Brille der erlösenden Gnade erkennt der Christ die Herrlichkeit der Schöpfung noch viel deutlicher und dankt Ihm für seine Gaben.

Fazit

Es tut Not, zwischen zweierlei Art von Gottes Güte zu unterscheiden. Die erste gilt der Erlösung aus dem geistlichen Tod der Sünde. Die zweite gilt allen Menschen. Wem die Augen für die erste geöffnet worden sind, der bekommt eine rechte Sicht auf die zweite.

Gute Ratschläge für ein besseres Leben mögen ihren Platz haben – jedoch niemals losgelöst oder gar auf Kosten des Evangeliums.

Es erfüllt mich mit Sorge, dass erlösende Gnade und erhaltende Gunst miteinander vermischt werden. Da höre ich eine Traupredigt, gespickt mit guten Ratschlägen, jedoch ohne klare Evangeliumsverkündigung. Ich sitze in einer Sonntagspredigt und werde ausschließlich mit Tipps für eine bessere Lebensführung versorgt. Ich lese eine christliche Zeitschrift, in der ununterbrochen von innerweltlicher Veränderung gesprochen wird. Das mag alles seines Platz haben – jedoch niemals losgelöst oder gar auf Kosten des Evangeliums.