Als Erwachsenenbilder und Vater von fünf Söhnen, von denen wir offiziell zwei selbst unterrichten, bin ich täglich mit dem Thema „Lernen“ konfrontiert. Während meine Söhne täglich mit Gottes Wort in Berührung kommen, sind über 95 % meiner Seminarteilnehmer nicht gläubig. Also ist es für mein Wirken essentiell zu wissen, wie ich mit nichtgläubigen und gläubigen Menschen in ihrem Lernprozess umgehe. Was gilt für beide? Wo sind die Unterschiede?
Da ich mir zudem bewusst bin, dass meine Gedanken über das Lernen und meine Interventionen im Umgang mit dem lernenden Menschen einander beeinflussen und bedingen, wollte ich meine Alltagserfahrung reflektieren. Ich begann nach einem Meta-Lernmodell zu suchen.1
Auf meiner Suche wurde ich mit zwei Hindernissen konfrontiert:
- In meinem säkularen beruflichen Umfeld besteht ein tiefes Misstrauen gegenüber jeglicher Proklamation einer objektiven Weltanschauung. Der einzige vage Referenzpunkt scheint das Selbst zu sein. Modelle, die zum Einsatz kommen, dienen der Lösung von spezifischen Problemen. Es wird kaum nach ihrem Hintergrund oder ihrem theoretischen Rahmen gefragt. Hauptsache, sie wirken.
- In der Kirche stoße ich auf eine andere Herausforderung: Die fehlende Verbindung von Glaube und Leben. Es scheint zudem eine strikte Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben zu existieren. Der Glaube mag dir zwar im privaten Leben zu helfen, insofern er die Erlösung betrifft. Aber wenn du nach einem verlässlichen Fundament für dein Berufsleben suchst, lautet die Botschaft indirekt: Hilf dir selber! Brauche die Instrumente, die dir angeboten werden. Lies die trendigen Bestseller. Ich fühle, dass ich auf diese Weise nicht weiter komme.
Ein Meta-Lernmodell
Nach meiner Überzeugung soll der Glaube jeden Bereich meines Lebens durchdringen, weil mein ganzes Leben vor Gott „abläuft“. In seinen „Vorlesungen über den Calvinismus“ beschrieb der niederländische Politiker, Theologe und Universitätsgründer Abraham Kuyper (1837-1919) einen Rahmen für eine einheitliche Lebens- und Weltanschauung. Aus seiner ersten Vorlesung leitete ich ein Metamodell des Lernens ab. Kuyper sieht drei fundamentale Beziehungen allen menschlichen Lebens: (1) unsere Beziehung zu Gott, (2) unsere Beziehung zu Menschen und (3) unsere Beziehung zur Welt.2 Ein Metamodell des Lernens, das auf einer christlichen Weltanschauung basiert, beinhaltet
- Gott
- Mensch
- Schöpfung.
Es geht mir jetzt nicht darum, dieses Modell zu verteidigen. Ich stelle vielmehr eine Frage ans Modell: Was ändert sich und was bleibt gleich, wenn Gott aus diesem Modell ausgeschlossen wird?
Lass mich die Wichtigkeit dieser Frage anhand eines Erlebnisses illustrieren: Vor etwa zwei Jahren präsentierte ich eine Skizze dieses Modells meinem Vorgesetzten. Zuerst legte sich seine Stirn in Falten. Nach einer Weile lächelte er und meinte: „Ersetze Gott einfach durch den Kunden. Dann würde es für mich durchgehen.“
Das ist ein interessantes Statement. Dass Gott in diesem Modell enthalten war, erregte sein Missfallen. Er ließ Gott aber nicht einfach weg, sondern er ersetzte ihn. Die kritische Frage für mich als Christen ist nun diese: Was ändert sich, wenn der Mensch den persönlichen Gott durch eine andere Größe ersetzt? Und was ist der Effekt auf den Lernprozess?
Intuitiv wissen wir, dass sich nicht alles ändert. Kinder lernen auch ohne einen expliziten Bezug zu Gott. Und die Erkenntnis über uns selbst und unsere Umgebung ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen, trotz einer verschwindend kleinen Anzahl an christlichen Wissenschaftlern in den relevanten Gebieten
These und Struktur
Meine These lautet: Wenn es keinen Gott im Metamodell des Lernens gibt,
(1) lernen Menschen gleichwohl und erzielen Fortschritte, und das dank Gottes allgemeiner Gnade.
(2) Zudem haben sie einen Teil von Gottes Moralgesetz verinnerlicht, das ihnen hilft, die gewonnen Informationen in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen und zu bewerten.
(3) Ihnen fehlt jedoch der ultimative Grund zum Lernen,
(4) und sie bleiben in einem Vakuum durch das Fehlen absoluter Normen.
Im ersten Teil überprüfe ich die Gründe, weshalb der Mensch immer noch im Stande ist Fortschritt zu erzielen. Wir werfen dafür einen Blick auf Genesis 4 und Römer 1. Dann werden wir untersuchen, ob es so etwas wie transkulturelle ethische Normen gibt, die dem Menschen dabei helfen, die durch den Lernprozess gewonnen Informationen zu bewerten.
Im zweiten Teil richte ich meine Aufmerksamkeit auf die Veränderungen, die sich durch den Ausschluss Gottes aus dem Lernmodell ergeben, nämlich dem Verlust eines ultimativen Lernanlasses und das Vakuum an absoluten Normen. Jeden Abschnitt beende ich mit einer Anwendung entweder auf meine berufliche oder familiäre Situation.
1. Lernen ohne Gott: Was gleich bleibt
1.1 Erste Erkenntnis: Der Mensch bleibt lernfähig.
Mein Augenmerk gilt zuerst der wichtigen Schnittstelle von Gottes Heilsgeschichte – der ersten Zeit nach dem Sündenfall. Als Konsequenz seiner Rebellion wurde der Mensch Gott, sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet. Er wird aus dem Paradies ausgeschlossen. Der Hass des Erstgeborenen Adams führt zum Mord an seinem Bruder Abel. Adam und seine Nachfolger bearbeiten die Erde, die Dornen und Disteln hervorbringt. Wie aber würde Gottes Geschichte weitergehen?
Obwohl Kain seinen Bruder ermordet hat, bleibt er am Leben. Er fristet ein ruheloses Dasein, aber er ist aktiv. Er baut eine Stadt, die er nach seinem Sohn Henoch benennt (1Mo 4,7). Seine Nachkommen sind für brillante Erfindungen verantwortlich: Jubal wird als Vater der Musikinstrumente vorgestellt, Tubal-Kain als Erfinder von bronzenen Werkzeugen (1Mo 4,21+22). Auch wenn sie ihrem Schöpfer entfremdet waren, blieb ihnen das Vermögen, das Wissen über sich selbst und ihre Umgebung zu vermehren und Kultur zu entwickeln. Der Mensch ist also auch als Sünder in der Lage zu lernen und Fortschritt zu erzielen. Das lernen wir aus Genesis 4, und dies korrespondiert auch mit unserer eigenen Erfahrung.
Die Menschen wissen um die Wahrheit, aber sie unterdrücken sie
Gehen wir einen Schritt weiter: Was ist denn der Beziehungsstatus zwischen Gott und dem gefallenen Menschen? Römer 1 ist für die Beantwortung dieser Frage eine Schlüsselstelle. Der Mensch hat Kenntnis von Gott, aber er unterdrückt diese aktiv (Röm 1,18-20). Für Paulus ist offensichtlich, dass der Knackpunkt nicht das Wissen, sondern der Wille des Menschen ist. Die Menschen wissen um die Wahrheit, aber sie unterdrücken sie.
Gott existiert demnach weiterhin im Metamodell des Lernens. Die Menschen wissen um die Wahrheit über ihn, sie schalten sie aber (bewusst oder unbewusst) aus. Sie müssen den transzendenten Schöpfer durch einen immanenten Gottesersatz ersetzen. Die Sünde hat die Sicht des Menschen so vollständig verdunkelt, dass er anstelle des Schöpfers Götzen anerkennen muss.3
Damit komme ich auf die Geschichte mit meinem Vorgesetzten zurück: Der Kunde wird anstelle von Gott ‚vergötzt’. Was wir von Gott hätten erwarten sollen, übertragen wir nun auf den Kunden. Wir bringen ihm Opfer dar in Form von Werbung, Events und anderen Geschenken, um ihn zu beruhigen. Und wir hoffen durch sein Geld und seinen Goodwill am Leben gehalten zu werden.
Fazit: In meinen Seminaren und Beratungen mit ungläubigen Teilnehmern habe ich einen doppelten gemeinsamen Boden. Einmal ist es durch Gottes Gnade möglich, Kenntnisse in jedem Bereich des Lebens aufzubauen und zu verfeinern – ob das in einer Bank, in einem Spital oder sonst wo sei. Weiter erkennen alle Menschen Gott, doch sie unterdrücken diese Kenntnis willentlich. Sie müssen Gott durch eine Dimension der Schöpfung ersetzen. Ein weises Vorgehen ist demnach, nach dem Gott-Ersatz zu fragen und zu suchen.
1.2 Zweite Erkenntnis: Der Mensch kann Informationen nach wie vor bewerten.
Als nächstes untersuche ich, inwiefern der Mensch empfänglich für Gottes Moralgesetz bleibt. Dass alle Menschen einen Teil von Gottes Moralgesetz von Natur aus in sich tragen, wird von Paulus in Röm 2,14-15 bestätigt (locus classicus).
Was dies bedeutet, habe ich im Dialog mit C. S. Lewis kurzem Werk „Die Abschaffung des Menschen“4 entwickelt. In seinem bekannteren apologetischen Werk „Pardon, ich bin Christ“5 entfaltet er eine etwas anders gelagerte Argumentation, die auf ein transkulturelles moralisches Gesetz im Menschen hinweist. Für diesen Aufsatz habe ich jedoch „Die Abschaffung des Menschen“ vorgezogen, da Lewis explizit die ethischen Konsequenzen für Bildung und Erziehung ableitet. Das Buch basiert auf mehreren Vorlesungen, die er 1943 (mitten im Zweiten Weltkrieg) in Durham gehalten hat.
Denkansatz eines englischen Schulbuchs: „Werte sind nur subjektiv und darum unwichtig“
Lewis analysiert ein Schulbuch, das damals für den Unterricht in Englischer Literatur in Gebrauch war und enthüllt seine (nicht direkt beabsichtigte) ‚hidden agenda’. Die implizite Botschaft des Buches lautet nämlich: Werte sind nur subjektiv und darum unwichtig. Was sind die Konsequenzen eines solchen Denkansatzes?
Fakten und Gefühle werden voneinander losgekoppelt. Über die Jahre wird der Lerner, ohne dass er es bemerkt, von dieser Denkweise geprägt. Um einer solchen Konditionierung entgegen zu wirken, schlägt Lewis vor, Gefühle wieder mit den Fakten zu verbinden. Als Basis für diese Gefühle bezieht er sich auf das bereits im Menschen vorhandene moralische Gesetz. Er nennt diesen transkulturellen ethischen Konsens „Tao“. Das Tao ist die ultimative Quelle für Werturteile. Jeder Mensch hat mindestens einen Teil dieser Ethik verinnerlicht.6
Fazit: Da ich weiß, dass der gefallene Mensch nach wie vor in der Lage ist, Informationen ethisch zu bewerten, auch wenn er Gott aus seinem Metamodell des Lernens ausgeschlossen hat, kann ich dies als gemeinsame Gesprächsbasis betrachten. So bin ich in der Lage, mit einem Mann über die Tragik seiner Scheidung zu sprechen. Auch wenn er gelernt hat, dass Scheidung für ihn eine gute Option ist, nachdem die Liebe verflogen ist, fühlt er doch intuitiv, dass etwas daran falsch ist. Deshalb bin ich überhaupt fähig, ihn auf die Fakten anzusprechen (dass er nämlich mit seinem Sohn einen Schulpsychologen aufsuchen muss), aber auch die Gefühle adressieren (dass er innerlich fühlt, dass in seinem Leben etwas Wichtiges auseinander gebrochen ist).
Im zweiten Teil untersuche ich nun, was sich ändert, wenn Gott aus dem Metamodell des Lernens ausgeschlossen wird.
2. Lernen ohne Gott – was sich ändert
Calvin beginnt den Genfer Katechismus von 1545 mit der Feststellung, dass es das Ziel unseres Lebens ist Gott zu erkennen.7 Der kürzere Westminster Katechismus fügt in seiner ersten Frage hinzu: „und sich an ihm zu freuen“. Unser ganzes Sein, unser ganzes Vermögen ist also geschaffen worden, um Gott zu erkennen, der uns geschaffen hat. Er hat uns in diese Welt gesetzt, um von uns verherrlicht zu werden. Das Lernen ist unter diesen Voraussetzungen prinzipiell Gott-zentriert. Wenn er aber unser erste Aufmerksamkeit verdient und der Mensch nur in Gemeinschaft mit seinem Gott seine wahre Freude findet, lautet die nächste Frage: Wenn er dies ignoriert, was sind die Konsequenzen?
2.1 Dritte Erkenntnis: Dem Menschen fehlt der ultimative Grund um zu lernen.
Der französische Universalgelehrte Blaise Pascal schreibt in seinen berühmten Pensées, dass alle Menschen nach Glück suchen. Hierin gebe es keine Ausnahme.8
Den Wunsch glücklich zu sein deutet er als Hinweis auf das ursprüngliche Glück im Paradies. Der Wunsch ist seither nicht ausgelöscht worden, aber der Mensch sucht seine Erfüllung seither im falschen Objekt. Dadurch entsteht ein unüberwindbarer Graben, der nur durch ein unendliches und unveränderbares Objekt, nämlich Gott selbst, gefüllt werden kann. Wenn diese Kluft bestehen bleibt, muss der Mensch vor sich selbst flüchten und sich zerstreuen. Er erträgt die Ruhe nicht. Selbst für diese ständige Unzufriedenheit hat der Mensch sogar noch das Empfinden, fügt Pascal hinzu.9
Der Mensch wird auch und gerade in seinem Lernprozess nach Glück suchen, aber nicht finden
Aus dieser Optik können wir einen Teil der Eingangsfrage beantworten: Was ändert sich, wenn es keinen Gott im Metamodell des Lernens gibt? Der Mensch wird auch und gerade in seinem Lernprozess nach Glück suchen, aber nicht finden. Er besucht eine Management-Ausbildung, um für die nächste Karrieregelegenheit gut gerüstet zu sein. Er lernt Golf zu spielen, da er weiß, dass er auf dem Golfplatz die entscheidenden Beziehungen knüpfen kann. Aber tief in seinem Innern meldet sich eine leise Stimme: „Das ist nicht das ultimative Ziel.“ Unglücklicherweise ist dann der nächste Impuls: „Suche nach einer neuen Zerstreuung.“ Das bringt mich zu einer weiteren, bislang ungelösten Frage: Wenn ich meinen Seminarteilnehmern bloß die Gelegenheit gebe, ihre nächste Zerstreuung zu planen, komme ich dann meiner Verantwortung vollständig nach? Ich glaube nicht. Wie gelingt es mir aber, weise zu leben im Umgang mit denen, die „draußen“ sind (siehe Kol 4,5)?
Entweder tut der Mensch das, was die anderen tun, oder er tut das, was die anderen wollen
Dass der Mensch in seinem Innersten frustriert ist, wurde im 20. Jahrhundert durch den Psychologen Viktor Frankl eingehend analysiert. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg sammelten er und eine Reihe anderer Forscher eine Menge an empirischen Daten, die ihre Hypothese bestätigte: Der Mensch leidet unter einem existenziellen Vakuum.10 Frankl meint, dass diese Entwicklung sich durch den Verlust von traditionellen Werten beschleunigt habe. Entweder, so die Schlussfolgerung, tue der Mensch das, was die anderen tun (Konformismus), oder aber er tue, was die anderen wollen (Totalitarismus). Einige suchen Stimulanz in Alkohol und Drogen, um dem Gefühl der Sinnlosigkeit zu entrinnen. Die große Masse aber leidet unter Langweile, besonders in ihrer Freizeit. Dieser Trend akzentuiert sich nach Frankl in der Sexindustrie: Je mehr es Menschen um die Lust ist, desto gehe eben die Lust zurück. Die sexuelle Inflation werde von ihrer Entwertung begleitet. So bei dem Menschen die Langeweile. Und weil es ihm an einem echten Ziel fehle, beschleunige er einfach das Tempo.
Fazit: In meinen Seminaren bin ich oft mit dieser existenziellen Frustration konfrontiert. Gefragt nach ihrem übergeordneten Ziel, sind es die Menschen gewohnt, mir Antworten in Form von Maßnahmen zu liefern, die sie noch glücklicher machen sollen. Damit bringen sie Ziel und Effekt durcheinander. Wenn wir berücksichtigen, was Calvin und Pascal sagen, gelangen wir zur folgenden Diagnose: Sie suchen Befriedigung und Glück in immanenten Zielen. Sie leben und lernen nicht aus dem ursprünglichen Zweck, zu dem sie geschaffen worden sind, nämlich um ihrem Schöpfer zu dienen. Ich gehe deshalb davon aus, dass die existenzielle Frustration sich in den Lernprozessen, die ich begleite, besonders ausgeprägt äußern wird.
2.2 Vierte Erkenntnis: Dem Menschen fehlt das Allgemeine.
In diesem Abschnitt untersuche ich die Konsequenzen der Entscheidung, absolute Normen abzulehnen. Der „Evangelist der Intellektuellen“, Francis Schaeffer (1912-1984), hat sich Zeit seines Lebens mit dieser Frage auseinander gesetzt. Das Studium der „Trilogy“11 und seinem späteren Werk „Wie können wir denn leben?“12 hat mir geholfen, die Auswirkung einer fehlenden ethischen Bezugsgröße auf den Lernprozess zu klären.
Dem Menschen fehle der letzte Sinn, weil er nur das „was“ und das „wie“ kenne. Was ihm aber fehle, sei das „warum“. Schaeffer gesteht ein, dass der gefallene Mensch nicht die Möglichkeit hat, das Allgemeine im Sinne einer absoluten Wahrheit selbst zu erschließen bzw. zu entdecken. Die wichtigste Frage einer einheitlichen Erkenntnistheorie – darum geht es letztendlich – ist aber diese: Was ist das Allgemeine, das dem Speziellen seine besondere Bedeutung verleiht? Die gleiche Frage gilt auch für den Prozess des Lernens. Wir könnten, so sein Beispiel13 , anstelle eines Apfels die mehreren hundert Sorten von Äpfeln aufzählen. In Wirklichkeit sehen wir aber einen konkreten Apfel, und wir nennen ihn auch „Apfel“. In der Realität halten wir also an einer einheitlichen Erkenntnis fest, weil wir ohne sie nicht leben könnten.
Wenn wir das Allgemeine in der Ethik verleugnen, wird die Mehrheit darüber entscheiden, was der ethische Standard ist
Wer das Allgemeine nicht auf den persönlich-unendlichen Gott zurückführen kann, dem stellt sich ein riesiges Problem: Woher kommen die letzten Normen? Wenn wir das Allgemeine im Gebiet der Ethik verleugnen, müssen wir auf ein soziologisches Konzept der Wahrheit zurückgreifen. Wir versuchen dann richtig und falsch statistisch zu evaluieren, und die Mehrheit entscheidet darüber, was der ethische Standard ist. Oder, das wäre die andere Möglichkeit, wir haben einige wenige Menschen, die einen Standard verantworten wollen oder müssen.
Fazit: Wenn Gott im Metamodell des Lernens nicht existiert, fehlt dem Menschen ein absoluter Standard. Damit entbehrt er einer einheitlichen Quelle der Erkenntnis. Diese Beurteilung hat einen doppelten Effekt auf die von mir gesteuerten Lernaktivitäten. Als Christ bin ich einerseits in der Lage, das Allgemeine und das Spezielle zusammen zu bringen. Gerade wenn ich mit meinen Söhnen zusammen lerne, achten wir nicht nur auf das „was“, sondern auch auf das „warum“. Kinder stellen zum „Warum“ ihre meisten Fragen. Dank Zugang zu Gottes Spezieller Offenbarung durch die Bibel erschließt sich mir der Schatz eines einheitlichen Erkenntnisfeldes. Ich kann meine Söhne über unsere Bestimmung lehren. Ich kann Fragen von dieser Bestimmung her in einem anderen Licht neu formulieren. Und ich kann freimütig eingestehen, dass ich als erlöster Sünder limitiert bin und bleibe.
Weiter muss ich in meinen beruflichen Lernaktivitäten nicht im geschlossenen System des (post)modernen Menschen bleiben.
Weil ich um die existenzielle Frustration des Menschen weiß, kann ich nach dem suchen, was Schaeffer als „Spannungspunkt“ bezeichnet. Diese Suche beschreibt er als passenden Weg in der Diskussion mit Nichtgläubigen.
Folgt der Mensch konsequent seinen Denkvoraussetzungen, würde er auf Widersprüche zwischen der Realität und seinen Gedanken stoßen
Der Mensch befindet sich in einer ständigen Spannung zwischen der Realität, in die ihn Gott hinein gestellt hat, und seiner eigenen subjektiven Rekonstruktion. Er ist dadurch gezwungen, einige Aspekte aus seiner inneren Realität auszublenden. Folgt er aber konsequent seinen Denkvoraussetzungen, würde er auf Widersprüche zwischen der Realität und seinen Gedanken stoßen. Der Heilige Geist ist in der Lage, mich an den spezifischen Spannungspunkt zu führen. Schritt für Schritt darf ich einen mir anvertrauten Lernenden mit der Kollision zwischen der Realität und seinen eigenen Konstruktionen konfrontieren – in Demut. Wenn es Gott erlaubt, kann ich sogar (in einer Pause oder nach dem Seminar) einige Stücke von Gottes spezieller Offenbarung mit ihm teilen: Gott als Schöpfer des Universums, die absolute Wahrheit über ihn und über uns Menschen in der Bibel, über die Menschwerdung von Jesus, seinen Tod und seine Auferstehung.
3. Ein ausgewogener Ansatz
Wie sieht ein Lernkonzept aus, dass Allgemeines und Spezielles – um in der Terminologie Schaeffers zu bleiben – aussieht? In der „Großen Didaktik“14 von Jan Amos Comenius fand ich ein gutes Modell für einen integrativen und ausgewogenen Ansatz, der Gott, Mensch und Schöpfung angemessen berücksichtigt. Ich fasse fünf Aspekte zusammen. Ein ausgewogener Ansatz
- versteht die Steuerung von Lernprozessen als Gottes-Dienst am Nächsten.
- berücksichtigt stets das große Bild: Das Ziel des Menschen liegt außerhalb dieses Lebens.
- will mit Aufwendung aller Fähigkeiten, die Gott geschenkt hat, die Prinzipien, die Gott in seiner Schöpfung entfaltet hat, erkennen.
- vermeidet Methoden- oder Lehrer -Gläubigkeit.
- ist sich stets bewusst, dass der Lehrende ein Dienender ist und bleibt.
4. Zusammenfassung
Ich fasse die vier Schritte meiner Untersuchung zusammen. Die ersten zwei Punkte beantworten, was gleich bleibt, wenn Gott im Metamodell des Lernens fehlt, der dritte und vierte Punkt fokussiert die Veränderungen.
Erstens die Fähigkeit des Menschen zu lernen: Der Mensch erweitert und verfeinert sein Wissen über sich und die Schöpfung dank Gottes allgemeiner Gnade. Ja, er besitzt sogar unterdrückte Erkenntnis von Gott. Gott kann daher nie aus dem Metamodell des Lernens verschwinden, er muss ersetzt werden. Wenn der Mensch ohne Gott lernt, muss er Gott neu definieren. Diese Art der Erkenntnis ist dann losgelöst von Gott, der immer (noch) da ist.
Zweitens die Fähigkeit des Menschen Informationen zu bewerten: Wie Bavinck sagt, dass nur ein Gott der Wissenschaft und der Moral existiert15 , können Fakten und Gefühle nie voneinander getrennt werden. Auch der gefallene Mensch hat einen Teil von Gottes Moralgesetz verinnerlicht. Weil er aber die Spannung zwischen seinem Tun und seinem Wissen um das Gute spürt, muss er das Moralgesetz neu interpretieren und sein Gewissen betäuben.
Drittens die rastlose Suche des Menschen nach Glück, die sich auch in seinem Lernprozess spiegelt. Weil es das Ziel des Menschen ist Gott zu verherrlichen und sich an ihm zu freuen, leidet er darunter, dass er bloß immanente Ziele ansteuert. Er ist ruhelos um ein (Lern-)Ziel zu finden, das ihm das Glück bescheren soll. Wenn aber Gott in seinem Metamodell des Lernens integriert ist, kann alles in indirekter oder direkter Beziehung zu Gott gesehen werden. Bavinck hat dies wunderbar formuliert:
Die Spezielle Offenbarung (durch die Bibel, Anm. des Verf.) erkennt und wertschätzt die Allgemeine Offenbarung (durch die Schöpfung, Anm. des Verf.). Ja, sie übernimmt sie, um sie gerade so, wie sie ist zu integrieren. Das ist genau das, was der Christ tut, und so verfährt auch der Theologe. Sie positionieren sich selbst im Christlichen Glauben, in der Speziellen Offenbarung, und von dieser Position aus blicken sie auf Natur und Geschichte. Jetzt entdecken sie die Spuren des Gottes, den sie in Christus als ihren Vater erkannt haben.
Gerade weil sie Christen sind, sehen sie durch den Glauben die Offenbarung Gottes in der Natur viel besser und klarer als je zuvor
Gerade weil sie Christen sind, sehen sie durch den Glauben die Offenbarung Gottes in der Natur viel besser und klarer als je zuvor. Der fleischliche Mensch jedoch versteht Gottes Reden in Natur und Geschichte nicht. Er oder sie erforscht das ganze Universum ohne Gott zu finden. ….
Mit dem christlichen Bekenntnis finden sich Christen zu Hause in der Welt. Sie sind keine Fremden dort und sehen Gott, der die Schöpfung regiert, als niemand anderen als den an, welchen sie in Christus als Vater ansprechen. Als Resultat dieser Allgemeinen Offenbarung fühlen sie sich zu Hause in der Welt; es ist Gottes väterliche Hand, von dem sie all diese Dinge – auch im Kontext der Natur – empfangen. …
In dieser Allgemeinen Offenbarung haben die Christen darüber hinaus ein starkes Fundament, auf dem sie alle Nicht-Christen treffen können. Sie haben eine gemeinsame Basis mit Nicht-Christen. Als Resultat ihres christlichen Glaubens mögen sie sich in einer isolierten Position vorfinden; sie mögen nicht in der Lage sein, ihre religiösen Überzeugungen anderen zu beweisen; dennoch haben sie in der Allgemeinen Offenbarung einen Kontaktpunkt mit all denen, die den Namen „Mensch“ tragen.16
Viertens das Fehlen eines passenden Rahmens für ethische Entscheidungen: Der natürliche Mensch definiert das „Was“ und tappt bezüglich des „Warum“ im Dunkeln. Wo aber Gott der hauptsächliche Referenzpunkt ist, kann das „was“ mit dem „warum“ in direkte Beziehung gebracht werden. Der Mensch weiß nicht nur um den Grund seines Daseins, er verfügt auch über eine zuverlässige Grundlage für seine ethischen Entscheide.
Dieser Aufsatz ist eine Kurzfassung eines Research Papers “What if there were no God in the Meta Learning Model?”, das ich im Rahmen meines PhD-Programms an der Olivet University (Scotts Valley, California) im September 2011 präsentiert habe. ↩
Abraham Kuyper, Lectures on Calvinism, Hendrickson Publishers: Peabody 2008, S. 10. ↩
Vgl. Emil Brunner. Zum Problem der ‚natürlichen Theologie‘ und der ‚Anknüpfung‘. In: Emil Brunner. Der Mensch im Widerspruch. Zwingli-Verlag: Zürich/Stuttgart 1965 (Nachdruck von 1937). S. 509-520. ↩
C. S. Lewis. Die Abschaffung des Menschen. Johannes Verlag: Einsiedeln 2007. ↩
C. S. Lewis. Pardon, ich bin Christ. Brunnen: Basel/Gießen 19982. ↩
Ein weiterer Schlüsseltext in diesem Zusammenhang ist das zweite Kapitel des zweiten Teils der Institutio von Johannes Calvin; siehe Johannes Calvin, Unterricht in der Christlichen Religion, Neukirchener: Neukirchen-Vluyn 2009, S. 134-151. Der Reformator unterscheidet – in Anlehnung an Augustinus – sehr sorgfältig zwischen den natürlichen Gaben des Menschen, die durch die Sünde stark in Mitleidenschaft gezogen worden sind, und den übernatürlichen Gaben, die dem Menschen genommen sind. Calvin bestätigt beide bisher herausgearbeiteten Erkenntnisse: (a) die Fähigkeit des Menschen zu lernen und (b) sein Gebundensein an Gottes Moralgesetz. ↩
Siehe Johannes Calvin. Calvin Studienausgabe, Band 2, Gestalt und Ordnung der Kirche, Neukirchener: Neukirchen-Vluyn 2010. ↩
Blaise Pascal, Gedanken, Verlag Schibli-Doppler: Basel, o. J., Fragment 425. ↩
Ebd. Fragment 139. ↩
Für eine Zusammenfassung der Ergebnisse siehe Viktor E. Frankl, Das Leiden am sinnlosen Leben, Herder Verlag: Freiburg im Breisgau 200819, und Viktor E. Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, Piper Verlag GmbH: München, 200821. ↩
Francis Schaeffer. Preisgabe der Vernunft. Haus der Bibel/R. Brockhaus Verlag: Genf/Zürich/Basel/Wuppertal 19722. Francis Schaeffer, Gott ist keine Illusion, Haus der Bibel/R. Brockhaus Verlag: Genf/Basel/Zürich/Wuppertal 1974. Francis Schaeffer. …und er schweigt nicht. Haus der Bibel/R. Brockhaus Verlag: Genf/Zürich/Basel/Wuppertal 1991. ↩
Francis Schaeffer. Wie können wir denn leben? Hänssler: Holzgerlingen 2001. ↩
Siehe Francis Schaeffer, …und er schweigt nicht, S. 41. ↩
Johann Amos Comenius, Große Didaktik, Klett-Cotta: Stuttgart 2007. ↩
Herman Bavinck, Christliche Weltanschauung, VKW: Bonn 2008, S. 74. ↩
Herman Bavinck, John Bolt, John Vriend, Reformed Dogmatics, Vol. 1, Grand Rapids: Baker Academic 2003, S. 321. ↩